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Ausgabe:

Juni/2002

Spalte:

677 f

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Stolina, Ralf

Titel/Untertitel:

Niemand hat Gott je gesehen. Traktat über negative Theologie.

Verlag:

Berlin-New York: de Gruyter 2000. VIII, 202 S. gr.8 = Theologische Bibliothek Töpelmann, 108. Lw. ¬ 74,00. ISBN 3-11-016853-7.

Rezensent:

Hans Martin Dober

Die durchweg informative, so klar wie distinkt argumentierende, und also uneingeschränkt lesenswerte Abhandlung hat sich zum Ziel gesetzt, den polyvalent gebrauchten Terminus "negative Theologie" zu präzisieren. In 5 Schritten werden folgende "Konzeptionen negativer Theologie in ihrer Geschichte" miteinander ins Gespräch gebracht: die für den Begriff und das Verfahren gewissermaßen urphänomenale des Dionysius Areopagita (9-26), die "glaubenstheologische" des Johannes vom Kreuz (27-48), die "kreuzestheologische" Erich Przywaras (49-66), die kritische Eberhard Jüngels (67-77) und die "agnostische" Bernhard Weltes (78-96). Hierbei folgt die Darstellung von vornherein einem systematischen Interesse, dem das historische untergeordnet wird. Durch die Kritik Jüngels hindurch, die vor allem dem bei Przywara leitenden Analogia-Entis-Modell und dem agnostischen Verständnis Weltes gelten könne, wird das eigene Verständnis eines dezidiert "theologische[n] Begriff[s] negativer Theologie" (2) vorbereitet.

Was diesen Begriff auszeichnet, ist ein am Johannesevangelium als Urphänomen nachzuvollziehender, konstitutiver Zusammenhang von Glauben, Sehen und Erkennen. Das deutet schon der Titel der Untersuchung an, der mit einem Zitat beginnt (Joh 1,18a). In konsequenter Exegese wird die "negative Theologie" als "Verfahren" (181) bestimmt, in dem die Glaubenserfahrung zu einer Erkenntnis kommen kann, die die ihr eigenen immanenten Differenzmomente integriert. Entscheidend hierbei ist, wie St. anhand einer Predigt des Mystikers Johannes Tauler zeigt, dass die "konstitutive Relation zu Gott" die Glaubenserfahrung erst begründet und trägt, und zwar "zu dem verborgenen Gott, dessen Verborgenheit auch in der Erfahrung nicht aufgehoben wird" (158).

Der Weg der Erkenntnis des Glaubens führt durch die Anfechtung als Bewährungsprobe dieser Differenz in der individuellen Erfahrung, die dadurch vom (selbstgenügsam genießenden) Erlebnis unterschieden wird, dass die Gottesbeziehung ihre Voraussetzung ausmacht. Ingesamt erfüllt dieses Verfahren eine "kritische Funktion" hinsichtlich der Glaubenserfahrung und -erkenntnis, und das nicht nur mit Blick auf die Klarheit des Gedankens bzw. die Reinheit der Lehre, sondern mit Blick auf die Praxis einer "Zwiesprache mit Gott im Gebet des Lebens". Insofern dient die kritische der "praktische[n] Funktion" (180 f.), die christliche Gebetspraxis im Medium der Reflexion zu regulieren.

So weit, so gut. Die Reduktion der Polyvalenz des Begriffs ist allerdings erkauft durch eine ausdrücklich so benannte "Zumutung" (117). Sie wird als Eintrittsbedingung in den hermeneutischen Zirkel des Glaubens deutlich gemacht anhand der nicht-metaphorischen Interpretation der johanneischen "Ich-bin"-Worte Jesu: Der buchstäbliche Literalsinn soll hier zählen und Eindeutigkeit herstellen, nicht der übertragene, der Mehrdeutigkeit impliziert; ein Verständnis dieser Worte im Sinne von "kreativen Metaphern" (M. Pöttner) tritt hier nicht in den Blick.

In einem Exkurs werden philosophische Diskurse der Gegenwart skizziert (97-108), in denen "negative Theologie" zur Chiffre für ein "Anderes" der Vernunft, des Sagbaren, des Begehrens, des Strebens geworden ist. Will man dieses "Andere" näher beschreiben oder gar bestimmen, so wird man sich - wie Horkheimer und Adorno - in einem offenen Reflexionsverhältnis der Schwebe halten. Müssen diese Diskurse eine der hier vertretenen Theologie äußerliche Denkbewegung bleiben? Näher als die beiden Genannten scheinen ihr die Haltungen Derridas und Lévinas zu stehen. Leider bleibt ein Vergleich unausgeführt, der sich etwa zwischen der "sehnenden Suchbewegung nach Gott" (35) bei Johannes vom Kreuz und einem - von der Begierde auf phänomenologischem Wege streng unterschiedenen - Begehren bei Lévinas nahe gelegt hätte. Die von vornherein außerhalb des hermeneutischen Zirkels verbleibenden philosophischen Autoren mit jüdischem Hintergrund werden in einer vornehmen Distanz gehalten, aus der sie in ein - zwar konfessionell differenziertes - Gespräch gar nicht einzutreten vermögen.

Vielleicht hätte die theologisch prägnant präzisierte "negative Theologie" noch kritischer gegen solche Beschränkungen verfahren können, die sich aus den genannten hermeneutischen Voraussetzungen ergeben.