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Ausgabe:

Juni/2002

Spalte:

655 f

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Dolna, Bernhard

Titel/Untertitel:

An die Gegenwart Gottes preisgegeben. Abraham Joshua Heschel: Leben und Werk.

Verlag:

Mainz: Matthias-Grünewald-Verlag 2001. 383 S. 8. Kart. ¬ 28,60. ISBN 3-7867-2315-X.

Rezensent:

Michael Heymel

Im angelsächsischen Raum, vor allem in den USA, gilt Abraham Joshua Heschel (künftig: H.) als einer der herausragenden jüdischen Denker des 20. Jh.s. Dies spiegeln auch die bisherigen Forschungsbeiträge wider. Zu erwähnen sind hier vor allem jüdische Gelehrte wie F. A. Rothschild, B. L. Sherwin, S. Dresner, E. K. Kaplan und H.s Tochter S. Heschel; von christlicher Seite seien die katholischen Autoren J. Merkle und D. J. Moore genannt.

Umso bedauerlicher ist, dass H.s Werk in Deutschland lange Zeit kaum wahrgenommen wurde. Abgesehen von Aufsätzen des H.-Schülers F. A. Rothschild gab es nur wenige deutschsprachige Arbeiten, die sich eingehender mit seinem Denken befassten.

Immerhin haben Theologen wie J. Moltmann und H. U. von Balthasar sich auf H.s Theologie des göttlichen Pathos bezogen. M. Heymel widmete sich erstmals der Musik im Werk von H. und wies in neueren (im Buch nicht mehr berücksichtigten) Beiträgen auf die Schlüsselrolle der Prophetie für das Verständnis von H. hin. Seit 1991 ist H.s Leben und Werk in mehreren Tagungen evangelischer Akademien zum Thema gemacht worden. Eine breitere H.-Rezeption wird jedoch nach wie vor dadurch erschwert, dass nur ein Teil der Werke von H. in deutscher Übersetzung vorliegt.

So muss man es als ausgesprochenen Glücksfall betrachten, dass nun der katholische Theologe und Judaist Bernhard Dolna die erste umfassende Studie über diesen prophetischen Denker im deutschen Sprachraum veröffentlicht hat. Das Buch, die überarbeitete Fassung einer Freiburger Dissertation, bietet in seiner Einleitung (11-28) zunächst eine Hinführung zum Thema sowie Hinweise zu Methodik und Ziel der Arbeit und zum aktuellen Stand der Forschung. Danach stellt es in vier Teilen H.s Leben und seine wichtigsten Gedanken dar. In einem abschließenden Teil (349-368) würdigt D. H.s theologisches Anliegen, den Geist des osteuropäischen Judentums zu retten, und fragt, welche Konsequenzen aus dem Studium seines Werkes für die jüdisch-christliche Begegnung zu ziehen sind.

Im biographischen ersten Teil (29-76) zeichnet D. den Lebensweg H.s (geb. 1907 in Warschau, gest. 1972 in New York) nach und charakterisiert den ihn als "spirituelles Ambiente" (21) und Wurzel seines Denkens prägenden Chassidismus.

Im zweiten Teil (77-159) zeigt D., dass H. in seinem Nachdenken über den Menschen von den historischen Ereignissen des 20. Jh.s ausgeht. Charakteristisch für H.s Anthropologie ist, dass sie einen phänomenologischen Zugang zum Menschen mit dem biblischen Menschenverständnis verbindet. So erscheint Menschlichkeit in der Sorge des Menschen um Transzendenz. Die Antwort auf die Frage nach der Bedeutung des Menschen entnimmt H. der biblischen Offenbarung: Der Mensch ist Gottes heiliges Bild, als Partner dazu bestimmt, Gott durch sein gehorsames Dasein und Tun nachzuahmen.

Im dritten Teil (160-256) werden die Kategorien religiöser Wahrnehmung erläutert, deren es zur Erkenntnis Gottes bedarf. H. gewinnt diese Kategorien aus der Bibel. Der Aufblick ist die Quelle allen Nachsinnens über Gott. Von ihr aus eröffnen sich drei Wege der Gotteserkenntnis: die Erkenntnis Gottes in der Welt (der Natur), in der Bibel und im geheiligten Tun. Diesen Wegen entsprechen in der jüdischen Tradition drei Aspekte religiösen Lebens: Kultus, Lernen und Tun. Beten heißt für H., in die Gegenwart Gottes eintreten. Der ursprüngliche Zugang zum Gebet ist das Preisen und Singen, daneben unterscheidet H. als weitere Zugänge das Leiden und das Bemühen, seine eigenen Gedanken für Gott zu öffnen. Damit das Gebet zum Ereignis werden kann, müssen drei Voraussetzungen erfüllt sein: das Gespür für das Unsagbare, das Verständnis des Gebets als ein Tun, das sowohl das liturgische Gebet wie das gesamte Handeln umfasst, und die Ehrfurcht vor dem Wort. "Durch solch ein Beten findet Gott eine Wohnstatt im Menschen und der Mensch Wohnung in Gott" (253).

Im vierten Teil seines Buches (257-348) wird H.s Theologie des göttlichen Pathos vorgestellt, wie sie in The Prophets (1962) formuliert ist. Als von Gott inspirierter Mensch gibt der Prophet "Einsicht in Gottes Einsicht in den Menschen und in Seine Ergriffenheit vom Menschen" (H., zitiert 301). Er fühlt mit dem göttlichen Pathos. "Sympathie ist die Antwort des ganzen Menschen auf das Pathos Gottes" (310), das Mitfühlen mit den Gedanken und Anliegen Gottes. H. beschreibt das göttliche Pathos wie auch die prophetische Sympathie jeweils am Beispiel der einzelnen Propheten Israels. An der jüdischen und christlichen Rezeption dieser von H. herausgearbeiteten Grundzüge der Prophetie zeigt D., dass die Lehre vom göttlichen Pathos ein wesentlicher jüdischer Beitrag für die christliche Theologie ist.

Mit seiner großen Studie über H. ist D. ein anspruchsvoller Beitrag zur jüdisch-christlichen Begegnung gelungen, der nachvollziehbar macht, was diesen jüdischen Denker auszeichnet. Es ist die Polarität von Theologie und sozialem Handeln, prophetischem Geist und politischem Engagement (siehe das Titelbild, das H. zusammen mit M. L. King zeigt), die ihn für Juden und Christen zu einer wegweisenden Gestalt macht. Seine Beiträge zu sozialen Zeitfragen, in denen sich H. unerhört direkt als prophetischer Zeuge äußert, werden in dem Buch freilich allzu summarisch (vgl. 51 ff.; 340 f.) behandelt.

D. zeigt, wie tief H.s Werk vom Geist der Bibel und des osteuropäischen Judentums getränkt ist, und dass Christen vieles aus diesem Werk lernen können. Gerade von H. her wird die Glaubenserfahrung lebendig, aus der Jesus lebte. Überdies werden in dem Buch einige Lehren H.s angeführt, die das christliche Glaubensverständnis besonders befruchten und vertiefen können: das Verständnis des Gottesbundes als einer wechselseitigen Verpflichtung zur Partnerschaft; der Hinweis, dass jüdischer Glaube aus dem Tun erwächst und Jesus im Geist des Judentums zum Tun seiner Worte aufruft; die Betonung des Sabbats, die Christen ermutigen kann, den Sonntag würdig und festlich zu feiern; das Leben aus Gottes Erbarmen, das eigentlich alle Christen zum Gebet für Israel bewegen müsste.

Hinzuzufügen wäre, dass H. moderne Protestanten inspiriert, in ihrem Umgang mit der Bibel die Heiligkeit der biblischen Worte ernstzunehmen und die Bedeutung der Liturgie und des Singens für die Gotteserkenntnis zu erfassen. Was H. auf einer vor-theologischen, existentiellen Ebene als Erfahrung des Unsagbaren und Ehrfurcht vor dem Wort verstanden hat, fand in der protestantischen Theologie bisher nur bescheidene Resonanz, obwohl hier Anknüpfungspunkte sowohl für Liturgik und Homiletik wie für das Gespräch mit Kunst, Musik und Literatur gegeben sind. So wären wichtige Einsichten H.s, die D. in seiner Interpretation des Gesamtwerks vorstellt (vgl. 97ff.; 229 f.; 252 f.), noch zu rezipieren. Zu hoffen bleibt, dass diese Arbeit, die an eine beachtliche katholische H.-Rezeption anknüpfen kann, jetzt auch die Aneignung H.s in evangelischen Kreisen kräftig befördert. - Störend wirkt eine erhebliche Anzahl von Druckfehlern und sinnentstellenden Versehen. Das Buch hätte es verdient gehabt, sorgfältiger lektoriert zu werden.