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Ausgabe:

Juni/2002

Spalte:

647–650

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Oegema, Gerbern S.

Titel/Untertitel:

Zwischen Hoffnung und Gericht. Untersuchungen zur Rezeption der Apokalyptik im frühen Christentum und Judentum.

Verlag:

Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag 1999. XXXIII, 453 S. gr.8 = Wissenschaftliche Monographien zum Alten und Neuen Testament, 82. Geb. ¬ 69,00. ISBN 3-7887-1719-X.

Rezensent:

Dieter Sänger

Wird in der neutestamentlichen Forschung das Phänomen der Apokalyptik thematisiert, stehen neben seinen theologischen Ursprüngen, historischen Konstitutionsbedingungen und unterschiedlichen Erscheinungsformen zumeist die religions- und traditionsgeschichtlichen Zusammenhänge zwischen den frühjüdischen Apokalypsen und der urchristlichen Überlieferung im Mittelpunkt des Interesses. Hingegen mangelt es an Versuchen, die Rezeption der Apokalyptik bzw. apokalyptisch grundierter Vorstellungen im frühen Christentum und im Judentum der talmudischen Zeit zu erhellen.1

Wer sich aufmacht, dieser Frage nachzuspüren, hilft nicht nur eine - freilich häufig kaum wahrgenommene - Forschungslücke zu schließen, sondern betritt auch vielfach Neuland. Er muss zum einen eine Schneise durch das Dickicht des komplexen Quellenbefundes schlagen, weil Datierung und Herkunft der zu berücksichtigenden Schriften oft unsicher sind. Zum anderen gilt es der Gefahr zu wehren, am Ende lediglich eine Bilanz zu präsentieren, die über eine Beschreibung gegenläufiger oder parallel verlaufender Tendenzen nicht hinausgeht. Der Vf. ist sich dieser Schwierigkeiten bewusst. In seiner Studie, einer revidierten Fassung seiner im WS 1996/97 der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Tübingen vorgelegten Habilitationsschrift, konzentriert er sich auf das Geschichtsverständnis und damit auf einen, wenn nicht den zentralen Aspekt apokalyptischen Denkens. Als promovierter Judaist und Neutestamentler ist er für diese Aufgabe bestens gerüstet, zumal er an frühere Arbeiten anknüpfen kann.2

In einem einführenden 1. Teil (3-46) präzisiert der Vf. zunächst Gegenstand, Aufgabe und Ziel seiner Untersuchung, steckt den chronologischen Rahmen der analysierten Zeugnisse ab (von Bar Kochba bis zur arabischen Eroberung [5./6. Jh.]) und erörtert methodologische Probleme. Ausgangspunkt ist die Leitthese, dass Theologie zeitübergreifend erst im kreativen Umgang mit existentiellen Erfahrungen (drohender Untergang, Frage nach der Gerechtigkeit Gottes und dem Grund menschlicher Hoffnung u. a.) entsteht (5). Da apokalyptische Sprache gerade solche Erfahrungen zum Ausdruck bringt, ist sie als theologische Sprache zu verstehen. Der spezifische Charakter ihres religiösen Bezugssystems ist dabei prinzipiell zweitrangig. Dies gilt auch für die spätantiken Apokalypsen, gleichviel, ob sie in einem jüdischen, christlichen oder paganen Kontext angesiedelt sind. Ihre eschatologischen Erwartungen reflektieren jeweils das spannungsvolle Verhältnis von Geschichte und Offenbarung (24).

Um die Frage beantworten zu können, wie und in welchem Horizont dies geschieht, muss ein Vergleich bei den thematischen und strukturellen Konvergenzen ansetzen. Dazu gehören insbesondere die Messias-Konzepte und die Vorstellung eines Endzeitgerichts (18 f.).

Bis heute fehlt eine einvernehmliche Klärung des Begriffs "Apokalypse". Der Vf. entscheidet sich für die folgenden Definitionen: "Ein Messias ist eine priesterliche, königliche oder andersartige Gestalt, die eine befreiende Rolle in der Endzeit spielt" (23). Eine Apokalypse ist dadurch gekennzeichnet, dass sie "ein pseudonymer Visionsbericht historisch-eschatologischen oder mystisch-spekulativen Inhalts" ist (16, vgl. 188). Vor allem aus arbeitsökonomischen Gründen werden die in die zuletzt genannte Kategorie (z. B. Hekhalot und Merkabah-Mystik) fallenden Schriften ausgespart (29.310).

Messias und Endzeitgericht gehören zu den konstanten Größen im apokalyptischen Geschichtsentwurf. An ihnen lässt sich exemplarisch zeigen, ob die in der jüdischen und christlichen Tradition, aber auch im paganen Bereich aktualisierten eschatologischen Konzeptionen aufgrund des Einwirkens noch näher zu bestimmender Faktoren charakteristisch voneinander abweichen, oder ob sie vielleicht sogar "ein interreligiöses Phänomen darstellen". In diesem Fall fungierte die "Universalität der Apokalyptik" als ein "Bindeglied [...], das endzeitliche Denkmuster weitgehend" aufrecht erhielt (18).

Die beiden ersten Kap. des umfangreichen Mittelteils (49- 338) beschäftigen sich primär mit der Rezeption und Weiterentwicklung der neutestamentlichen Apokalyptik in der Alten Kirche (58-184). Der Bogen spannt sich von den Apostolischen Vätern über die Apologeten und Kirchenväter bis hin zu den altkirchlichen Apokalypsen. Bei einigen von ihnen - etwa der des Ps.-Johannes - ist jedoch zu erwägen, ob sie nicht jenseits der gewählten zeitlichen Obergrenze zu datieren sind. Warum in einem Unterabschnitt auch das samaritanische Schrifttum gestreift wird (160 f.), ist mir trotz des Stichworts Taheb unklar geblieben.

Insgesamt ergibt sich ein erstaunlicher Befund. Obwohl bis zum 5. Jh. apokalyptisches Gedankengut in hohem Maße theologisch adaptiert und integriert worden ist und neue Apokalypsen produziert wurden, hat keine außer der ApkJoh Eingang in den Kanon gefunden. Der Vf. erklärt diese restriktive Haltung als Abwehrreaktion auf Bestrebungen, pseudoapostolischen Offenbarungen Geltung zu verschaffen. Einerseits hat sich die Alte Kirche aus dem Fundus der jüdischen und christlichen Apokalyptik bedient, um innere Probleme zu bewältigen. Die Periodisierung der Weltgeschichte wie auch das mit ihr verbundene, stark dualistisch geprägte apokalyptische Motivinventar (1000-jähriges messianisches Reich, Auftreten des Antichristen, Kampf zwischen ihm und dem Messias, Gericht über Gerechte und Sünder, Überwindung des Bösen in der kommenden Welt) wird auf die Geschichte der Kirche übertragen. Dahinter steckt das Bemühen, den eigenen Anspruch, bereits hier und jetzt den Beginn des Gottesreiches zu verkörpern, mit der diesen Anspruch kontrastierenden religiös-politischen Realität im Kontext apokalyptischer Theologie zu vermitteln. Andererseits haben die Kirchenväter einer unkontrollierten Vermehrung prophetisch-apokalyptischer Erzeugnisse massiv entgegengesteuert. Nicht zuletzt deshalb, weil sie eine revolutionäre Stimmung begünstigten, die zu einer existenziellen Bedrohung der Kirche hätte führen können. Dass dennoch zahlreiche Apokalypsen entstanden sind, resultiert aus der ungelösten, bereits die Verkündigung Jesu prägende Spannung von präsentischer Heilszusage und zukünftiger Heilsvollendung (vgl. 53).

Weil diese Spannung irdisch nicht aufhebbar ist, war der Versuch, die Apokalyptik zu verdrängen, kontraproduktiv. Er bewirkte genau den gegenteiligen Effekt (166 f.). Aufs Ganze gesehen erweist sich die Übernahme des apokalyptischen Geschichtsmodells aber als überaus fruchtbar. Es ermöglicht der Kirche, ihr Verhältnis zu Judentum und Gnosis theologisch zu profilieren (Christen sind Gottes Volk, an dem sich die biblischen Verheißungen erfüllen). Das Römische Reich wird zur Projektionsfläche des Antichristen, der seiner gerechten Bestrafung nicht entgehen wird. Ungeachtet ihrer stetigen Gefährdung ist die Kirche Subjekt von Gottes heilsgeschichtlichem Plan und darf ihrer Erwählung gewiss sein. Bis zur Einlösung aller Verheißungen muss sie sich jedoch in Geduld üben und in der Welt ausharren (168 f.).

Die nächsten beiden Kap. (185-279.281-327) behandeln die rabbinischen Schriften (Mischna, Tosephta, Midraschim, Targumim) und die späten jüdischen Apokalypsen. Ich beschränke mich auf ein Referat der wichtigsten Ergebnisse. Nach dem Scheitern der antirömischen Aufstände von 66-73, 115- 117 und 132-135 n. Chr., die immer auch eine starke messianische Komponente hatten, werden im Judentum messianische Erwartungen aus Gründen des Selbstschutzes zunächst unterdrückt. Vom 3. Jh. an erfahren sie zunehmend eine Revitalisierung, wobei Veränderungen der politischen Großwetterlage katalytisch wirken. Zwar gibt es im rabbinischen Schrifttum der talmudischen Zeit nur wenige Beispiele für die literarische Gattung Apokalypse (ApkEl [Sefer Eliahu], AscMos, AssMos). Doch lässt sich zum einen beobachten, dass die Rabbinen Ereignisse der Geschichte Israels (Exodus, Befreiung aus dem Exil u.a.) in ein apokalyptisches Denkschema einspannen und Personen der biblischen Vorzeit mit Offenbarungen, Visionen und Himmelsreisen in Verbindung bringen.

Zum anderen legt gerade ihre Ablehnung messianischer Naherwartungen den Schluss nahe, dass aus der Zeit des Zweiten Tempel stammende apokalyptische Deutemuster "rudimentär [...] erhalten geblieben sind" (311, vgl. 312). Fazit: Das rabbinische Judentum hat wohl die Gattung Apokalypse weitgehend ausgeschieden, dafür aber in erheblichem Maße apokalyptisch konnotierte Elemente (Periodisierung der Geschichte, dualistische Grundstrukturen, Betonung der Ethik angesichts des kommenden Gerichts, messianische bzw. eschatologische Gestalten u.a.) aufgenommen und tradiert. Seine Literatur stellt daher kein apokalyptisches Vakuum dar. Die in ihr aufbewahrten apokalyptischen Passagen bilden vielmehr "ein traditionsgeschichtliches Kontinuum zwischen dem Ende der Zeit des Zweiten Tempels und dem Beginn der islamischen Zeit" (321), die in der Apokalyptik erneut aufleben.

Im letzten Kap. des 2. Hauptteils (329-338) wendet sich der Vf. noch kurz paganen Apokalypsen zu, die z. T. nur summarisch aufgelistet werden (330 f.). Wenngleich ihr Beitrag zum Thema marginal ist, belegen sie doch, wie sehr der spätantike Zeitgeist vom apokalyptischen Denken durchdrungen ist (337 f.).

Der 3. und letzte Teil (341-361) bündelt den bisherigen Ertrag und zieht in komprimierter Form die Schlussfolgerungen aus den Textanalysen. Dabei ist sich der Vf. bewusst, dass angesichts der Fülle des vielfach erst ansatzweise systematisch erschlossenen Materials nicht mehr als ein vorläufiges Zwischenresultat formuliert werden kann. Festzuhalten ist: a) Jüdische und christliche Apokalypsen sind nur bedingt miteinander vergleichbar, am ehesten noch auf ethischem Gebiet. Gemeinsame Merkmale beschränken sich auf einzelne Traditionskomplexe (Endzeitkampf/-gericht; himmlische Belohnung/Bestrafung in der Hölle). Ansonsten gilt, dass selbst formal korrespondierende Begriffe wie Christus/Messias inhaltlich divergieren (350 f. 356). b) Der Einfluss jüdischer und paganer Apokalypsen auf die frühchristlichen und altkirchlichen Apokalypsen ist gering. Die Letzteren haben sich von der ApkJoh an als eine eigenständige Größe entwickelt. c) Anders als im Judentum, in dem die Rezeptionsgeschichte der Apokalyptik eine Reaktion auf eine politische Krise ist, ist sie im Christentum Ausdruck einer innerkirchlichen Krise. Sie reflektiert die soteriologische Spannung von Gegenwart und Zukunft, aber auch die Konflikte mit konkurrierenden religiösen Strömungen (Judentum, Gnosis) sowie der griechisch-römischen Welt und ihren Machthabern. Insofern stellt die Apokalyptik kein Bindeglied zwischen Christentum und Judentum dar (354-356). d) Die Apokalyptik bringt existenzbedrohende politische Gefahren zur Sprache und versucht sie theologisch zu bewältigen. Daher kann sie als eine Form von politischer Theologie bezeichnet werden. e) Bezieht man die apokalyptisch grundierten Elemente im rabbinischen Schrifttum mit ein, ist die verbreitete Annahme, das rabbinische Judentum habe die Apokalyptik komplett verdrängt, unzutreffend.

Mit seiner überaus material- und facettenreichen Studie hat der Vf. auf einem noch weithin brach liegenden Feld der Apokalyptik-Forschung Pionierarbeit geleistet. Besonders hervorzuheben ist, dass die zur Debatte stehenden historischen und theologischen Problemaspekte stets auf ihre hermeneutischen Implikationen hin befragt und - etwa im Blick auf den Prozess der Kanonbildung - ausgewertet werden. Eine umfassende kritische Würdigung aller Ergebnisse ist im Rahmen dieser Rezension nicht möglich.

Ich begnüge mich mit drei Anmerkungen.

Aus sachlichen und methodischen Gründen müsste m.E. stärker, als es geschieht, zwischen "messianisch", "eschatologisch" und "apokalyptisch" differenziert werden. Andernfalls besteht die Gefahr, dass die semantisch auf unterschiedlicher Ebene angesiedelten Begriffe ins Diffuse abgleiten und unklar bleibt, wie sie kategorial verwandt werden (funktional, systematisch, literarisch).

Ähnliches gilt für die recht unspezifische Definition des Messias-Begriffs. Nicht überzeugt hat mich ferner die These, die spätantike jüdische und christliche Apokalyptik habe keinen gemeinsamen Ursprung (355). Vor allem deshalb nicht, weil der Vf. ausdrücklich konzediert, dass beide - wenngleich auf je eigene Weise - an Tendenzen anknüpfen, die bereits im Judentum des Zweiten Tempels angelegt sind, und sie neu zur Entfaltung bringen.

Und schließlich wäre zu prüfen, inwieweit sich die nicht behandelten Apokalypsen mystisch-spekulativen Inhalts, die ja ebenfalls ein bestimmtes Geschichtsverständnis reflektieren, in den Gesamtrahmen einfügen oder ob sie zu Korrekturen Anlass geben. Zwar ist bis heute das genaue Datum der literarischen Fixierung der vorliegenden Makroformen ebenso ungeklärt, wie die Entstehungszeit des in ihnen aufbewahrten Traditionsmaterials strittig ist. Aber vielleicht ist sein Alter mit G. Scholem und C. R. A. Morray-Jones doch um einiges früher anzusetzen, als von Teilen der judaistischen Forschung vermutet wird.

Am Ende bleiben also, wie könnte es auch anders sein, noch eine Reihe von Fragen offen. Sie sind Ansporn genug, auf dem vom Vf. gebahnten Weg weiterzugehen und seine Impulse aufzunehmen. Dafür, dass er selbst die ersten Schritte gegangen ist und richtungsweisende Orientierungsmarken gesetzt hat, gebührt ihm Respekt und Dank.

Fussnoten:

1) Die Studie von J. M. Court, The Book of Revelation and the Johannine Apocalyptic Tradition (JSNT.S 190), Sheffield 2000, befasst sich ausschließlich mit der christlichen Rezeption der ApkJoh im 1. Jahrtausend (vgl. O. Böcher, ThLZ 126, 2001, 923 f.).

2) Vgl. G. S. Oegema, Die Apokalyptik in der Spätantike, in: U. Haxen u. a. [Hrsg.], Jewish Studies in a New Europe. Proceedings of the Fifth Congress of Jewish Studies in Copenhagen 1994, Kopenhagen 1998, 557-571; ders., Der Gesalbte und sein Volk. Untersuchungen zum Konzeptualisierungsprozeß der messianischen Erwartungen von den Makkabäern bis Bar Koziba (SIJD 2), Göttingen 1994.