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Ausgabe:

Dezember/2023

Spalte:

1254-1255

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Greifenstein, Johannes

Titel/Untertitel:

Kirchenreform und Ortsgemeinde. Praktisch-theologische Perspektiven.

Verlag:

Zürich: Theologischer Verlag Zürich 2019. 120 S. = Theologische Studien. Neue Folge, 15. Kart. EUR 19,90. ISBN 9783290182533.

Rezensent:

Ralph Kunz

Die kurze, aber gehaltvolle Abhandlung des an der Ludwig-Maximilians-Universität München lehrenden Johannes Greifenstein greift ein Thema auf, das insbesondere in Kirchenreformprozessen Beachtung finden muss: die Ortsgemeinde als Thema der Theologie. Was auf den ersten Blick schon viel diskutiert wurde, entpuppt sich auf den zweiten Blick als eine Wahrnehmungslücke. G. zeichnet in einem ersten Teil seiner kleinen Studie die Diskussion nach und verweist dabei auf die Schlüsselrolle der Lokalisierungsfrage. Was in Reformprozessen notgedrungen auftauchen muss, ist das Problem der Verortung christlichen Lebens, d. h. wie sich die Kirche im Raum organisiert und in Lebensräume hineinwirken kann, aus denen sie migriert ist. Das Bild der kirchlichen Großwetterlagen, das in kenntnisreicher Entfaltung der Positionen skizziert wird, macht deutlich, was durch eine rein strukturell operierende Kirchenreform nicht erreicht werden kann. Die Ortsgemeinde ist und bleibt sowohl mit Blick auf den Nahbereich als auch auf den missionarischen Auftrag der Kirche in der Öffentlichkeit ein relevanter Akteur im größeren Raum. Darum braucht es ein vertieftes Verständnis darüber, warum dieser Akteur nicht aktiv an den Veränderungen mitarbeitet, Reformen im Sand verlaufen und Regionalisierungs- und Profilierungsprojekte nicht die erwünschte Wirkung erzielen. Und es braucht eine Besinnung darüber, wie dieser Akteur aktiviert werden und zum »actuosen Subject« (C. I. Nitzsch) werden kann.

Die kleine Studie hat insofern zwei Pole, die im mittleren Teil abgehandelt werden: Eine Klärung der theologischen Problematisierung und eine Klärung der theologischen Plausibilisierung der Ortsgemeinde, die weder den Fehler machen will, den morphologischen Fundamentalismus des Parochialsystems zu wiederholen noch in eine unrealistische und der Idee der Volkskirche abträgliche Gemeindelosigkeit abzudriften. Was nottut, sind substanzielle und nicht nur funktionale Bestimmungen, die das fraglos Vorgegebene und das Unaufgebbare der christlichen Gemeinde in der realexistierenden Kirche neu finden lassen. G. findet zu solchen Bestimmungen im Gespräch mit den Entwürfen von Uta Pohl-Patalong und Jan Hermelink.

Im letzten Kapitel zieht er daraus den Schluss, dass die durch wissenschaftliche Praxisreflexion gewonnene Einsicht in die theologische Problematik und Plausibilität der Ortsgemeinde eine Chance für die Kirchenreform darstellt – aber nur dann, wenn sie Teil des Prozesses wird. Denn die Selbstdeutung der Ortsgemeinde ist als eine Aufgabe der Kirchenreform zu begreifen. Mit dem von Hermelink geliehenen Begriff der »Selbstdeutung« ist u. a. die Selbstreflexion gemeint, die es erlaubt, einer Sozialgestalt des Glaubens so etwas wie ein Eigenleben zuzutrauen bzw. zuzumuten. Ohne ein solches Leben entsteht keine Bewegung, können Reformen steckenbleiben, kann die identitätsbildende Kraft der Verortung nicht zu einer Kraft der Veränderung werden. Um diese Kraft präziser zu erfassen, plädiert G. für eine vertiefte Beschäftigung mit der Frage der Symbolizität. Nicht (nur), was die Gemeinde soll, sondern was sie repräsentiert, ist ihr Kapital – im Positiven wie im Negativen. Dies zu bedenken und Selbstdeutungskonzepte der Gemeinde so zu konzipieren, dass sie nötige Reformen der Struktur kritisch und konstruktiv begleiten, ist ein Anliegen, dem dieses Büchlein dient. Es soll jene, die in der institutionellen Dauerreflexion gefangen sind, dazu ermutigen, »angesichts ohnehin anstehender Reformdynamiken zuweilen mehr auf Besonnenheit hin[zu]arbeiten« (102).