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Ausgabe:

Dezember/2023

Spalte:

1252-1254

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Bülow, Vicco von [Hg.]

Titel/Untertitel:

»Modell« Volkskirche? Ein Jahrhundert im Wandel. Strukturen, Praxis, Perspektiven.

Verlag:

Bielefeld: Luther Verlag 2022. = Beiträge zur Westfälischen Kirchengeschichte, 49. 320 S. Kart. EUR 29,90. ISBN 9783785808641.

Rezensent:

Henning Theißen

Wenn der Verein für Westfälische Kirchengeschichte dem Klassiker neuzeitlicher kirchentheoretischer Reflexion, dem seit Schleiermacher bis heute vom Programm- zum kritischen Beschreibungsbegriff mutierten Volkskirchenkonzept, im Frühjahr 2022 eine eigene Tagung widmete und die Ergebnisse als gewichtigen Band in der vom Verein unterhaltenen Schriftenreihe vorlegt, stellt sich dem Rezensenten zumindest im Sinne eines Kompasses die Frage nach dem spezifisch territorialkirchengeschichtlichen Zugang zum Thema. Von einem westfälischen Volk und einer darauf bezogenen Volkskirche kann ja nicht im Ernst die Rede sein, und so sind es mit zwei allerdings heuristisch aufschlussreichen Ausnahmen nicht die historischen Untersuchungsgegenstände, die dem Band ein westfälisches Gepräge verleihen. Diese Ausnahmen betreffen den westfälischen Generalsuperintendenten und vormaligen Vorsteher des Kaiserswerther Diakonissenmutterhauses, Wilhelm Zoellner (behandelt von Norbert Friedrich; 67–87), sowie die am Beispiel von Anna Siebel vorgestellten Betheler Sarepta-Diakonissen (behandelt von Ute Gause; 89–102). Beide gehören in das Gebiet der Diakoniegeschichte, die durch »Wichern und die Folgen« bekanntlich große Bedeutung für Idee und Geschick der Volkskirche im 19. Jh. besessen hat, worauf der von Vicco v. Bülow in der Herausgebereinleitung (11–21) zitierte Einladungsflyer zur hier dokumentierten Tagung Bezug nahm (13 f., Anm. 14).

Der Band selbst nimmt speziell das 20. und nicht das 19. Jh. in den Blick, so dass ein wichtiges Volkskirchen-Spezifikum Westfalens, nämlich die 1835 (gemeinsam mit der damaligen preußischen Rheinprovinz) ins Leben gerufene presbyterial-synodale Kirchenverfassung, nurmehr nachklingt in dem den Band eröffnenden Beitrag eines führenden Kirchenrechtlers. Hinnerk Wißmanns routinierter Überblick (23–39) zur »Volkskirche als Resonanzraum des Religionsverfassungsrechts« (Vortragstitel) hält der westfälischen Kirche ausgerechnet die synodale Souveränität als »fröhliche Lebenslüge« vor, da die Synode praktisch durchgehend von der »Vorarbeit des Landeskirchenamts« abhänge (29; Hervorhebungen aufgehoben). Anders, als Wißmanns Vortragstitel nahelegt, scheint diese wohl als Provokation gemeinte Bemerkung aber keine Resonanz bei den Westfalen gefunden zu haben.

Ganz anders der andere nichttheologische Beitrag der Tagung aus der Feder des Historikers Benedikt Brunner (41–66). Obwohl bei der Tagung selbst durch Krankheit verhindert (17), vermochte Brunner mit seinen Überlegungen zu den »analytisch zu trennen[den]« Größen »Idee, Begriff und Konzept der Volkskirche« (44) die versammelte westfälische Kommission für kirchliche Zeitgeschichte aus der Reserve zu locken. Insbesondere deren Protagonist Jürgen Kampmann führt in seinem Beitrag ausdrücklich und deutlich die Auseinandersetzung mit Brunners Methode der Begriffsgeschichte (103–106; 113). Da die einzelnen Abschnitte des von Brunner vollständig abgedeckten »kurzen« 20. Jh.s (1918–1991) im Tagungsband auch noch einzeln vertreten sind – die NS-Zeit durch Kampmann (103–165), die DDR-Zeit durch Axel Noack (167–192), die 1968er-Zeit durch Tobias Sarx (193–205) und die daran anknüpfende Zeit ab der »empirischen Wende« in der Kirchentheorie durch Christoph Kösters (207–249) auf katholischer sowie Gerhard Wegner (251–265) auf evangelischer Seite –, scheint die resultierende methodische Multiperspektivität der Begriffsgeschichte das eigentliche Epizentrum der mit dem Tagungsband verbundenen Diskussion darzustellen.

Es handelt sich um eine aus der Allgemeinen Geschichtswissenschaft kommende Grundsatzfrage, die der Theologie kein Verharren bei der vor allem durch Pannenbergs Einfluss so verbreiteten, historisch-systematischen »Problemgeschichte« erlaubt. Konkret bezeichnet der Ausdruck »Volkskirche« keinen fest umrissenen Fragenkomplex, der im Laufe der Geistesgeschichte je nach Konfession oder Tradition bald so und bald anders beantwortet wurde. Begriffsgeschichte, die vom Historiker Brunner als dem eigentlichen Impulsgeber des Bandes als »Historische Semantik« (45) im Sinne einer Analyse »der zentralen Selbstbeschreibungen und Grundbegriffe« (42) der »religiösen Akteure« (43) entworfen wird, stellt die vermeintlich vorgegebene Bedeutung solcher Grundbegriffe zurück in den Kontext ihrer Bedingtheiten durch subjektive Einstellungen Beteiligter, aber auch durch in diesen Begriffen erinnerte »Ereignisse«, wie Bülow in seiner Bandeinleitung erläutert (15). Zu letzteren gehören auch politische Rahmenbedingungen wie die unterschiedlichen deutschen Gesellschaftssysteme vor und nach 1918 und 1945 oder westlich bzw. östlich des Eisernen Vorhangs. Ein weiteres Beispiel: Auf katholischer Seite wurde die Volkskirche wegen der schwindenden »Grundspannung von Klerus und Laien« (Kösters: 219) schon nach 1945 in der Krise wahrgenommen, auf evangelischer erst mit der 1968er-Bewegung (Wegner: 253).

Tatsächlich treten die konstatierbaren Differenzierungen im Volkskirchendenken in der NS-Zeit, wo die reichsweite Kirchenverfassung den Begriff gar nicht benutzte (Kampmann: 112), oder im Raum der DDR, deren zur Diaspora schwindende Volkskirchlichkeit einen bis heute nachwirkenden eigenen Typus konfessionsloser Normalität schuf (Noack: 191), aber auch im Blick auf die 1968er, die gesellschaftsrevolutionäre Gegenentwürfe von Kirche in den »Celler Konferenzen« hervorbrachten (Sarx: 201–204), in den Spezialbeiträgen m. E. schärfer hervor als in Brunners methodisch doch auf Differenzierung zielendem Überblick (z. B. 49 f.54 f.58). Ob dies aber handwerkliche Gründe hat (vgl. Kampmann, 103–106) oder nicht vielmehr darauf verweist, dass im Begriff »Volkskirche« generell »[n]ormative und empirische« Anteile durcheinander gehen, wie Traugott Jähnichen zu bedenken gibt (268), wagt der Rezensent nicht zu entscheiden. Plausibel scheint mir, dass die Überblicksaufgabe die anspruchsvollste ist, umso mehr, wenn man bedenkt, dass je nach Gewichtung der Voraussetzungen im 19. Jh., speziell im Sozialprotestantismus, der in Jähnichens Beitrag eine größere Rolle spielt (269 f. u. ö.), auch noch andere Narrative hinter der Volkskirche des 20. Jh.s, dem der Band sich ja widmet, stehen. Die Beiträge von Friedrich und Gause, auf andere Weise aber auch Antje Roggenkamps Überlegungen zum (westdeutschen) evangelischen Kirchbau der 1950er bis 1970er Jahre als Spiegel sich wandelnder Volkskirchenkonzepte (283–303), bieten für diese zusätzlichen Narrative Material.

Der vorliegende Band zeitigt als kirchengeschichtliches Projekt über die behandelten historischen Gegenstände hinaus Erträge u. a. auf dem Gebiet der geschichtswissenschaftlichen Methode (Begriffs- und/oder Ideengeschichte) sowie mancherlei unterrepräsentierter Materialien (W. Zoellner etwa kennt man oft nur wegen seiner späten Rolle in den Reichskirchenausschüssen; 67.69). Darüber hinaus aber verdeutlicht er, wie sehr die kirchliche und theologische Arbeit mit einem »Modell« (nicht nur dem der Volkskirche) auf historische Tiefenschärfe und die Bereitschaft zu kontextueller Differenzierung angewiesen ist.