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Ausgabe:

November/2023

Spalte:

1137–1140

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Philipp, Alexander

Titel/Untertitel:

Klassische Gemeindegründung – Ein Handlungsinstrument für Kirchen in Transformationsprozessen? Eine explorative Studie zur Gemeindegründungsszene in der Church of England mit Überlegungen zu einem Transfer in den deutschen landeskirchlichen Kontext.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2022. 1126 S. m. 18 teils farb. Abb. u. 37 Tab. = Beiträge zu Evangelisation und Gemeindeentwicklung, 033. Geb. EUR 140,00. ISBN 9783525501917.

Rezensent:

Jan Hermelink

Seit den 1980er Jahren bemüht sich die anglikanische »Church of England«, ihre klassisch-parochiale Struktur durch andere, gruppen- und kontextspezifische Gemeindeformen zu ergänzen. Angesichts vieler Parallelen einer jeweils schrumpfenden volkskirchlichen Struktur und Mitgliedschaft haben die einschlägigen Projekte und Programme auch in Deutschland seit Mitte der 2000er Jahre stetig wachsende Aufmerksamkeit erfahren. Evangelische wie katholische, landes- und freikirchliche Initiativen haben Kontakte nach England aufgebaut; Sabrina Müller hat namentlich die anglikanischen und methodistischen »fresh expressions of church« wissenschaftlich untersucht (vgl. ihre Dissertation, Zürich 2016); die Entwicklung landeskirchlicher »Erprobungsräume« u. a. in der Mitteldeutschen und der Rheinischen Kirche ist ebenfalls von den englischen Konzepten inspiriert. Insbesondere das von Michael Herbst geführte Greifswalder »Institut zur Erforschung von Evangelisation und Gemeindeentwicklung« (IEEG) hat die anglikanischen Reformbemühungen mit zahlreichen Tagungen, Studienreisen und Forschungsarbeiten im kirchlichen, vor allem im evangelikalen Diskurs bekannt gemacht.

In diesen Kontext gehört auch die hier vorzustellende Publikation einer Greifswalder Dissertation (2022) von Alexander Philipp, die sich auf das Phänomen des »church planting« konzentriert, der Gründung neuer Gemeinden neben den herkömmlichen Parochien der Anglikanischen Kirche in England. Diese »klassischen Gemeindegründungen«, so die vom Vf. ausführlich begründete Bezeichnung, begannen in den 1970er Jahren und verbreiteten sich in den späten 1980ern und den 1990er Jahren, vor allem durch die Initiative engagierter Akteure wie Mary und Bob Hopkins sowie durch verschiedene evangelikale Gemeinden in London, namentlich die Holy Trinity Brompton Church (HTB) in Kensington, von der zwischen 1985 und 2015 mehr als 60 Gemeindegründungen ausgegangen sind (vgl. die Grafik, 207). Seit Mitte der 2000er Jahre erscheinen diese »traditional church plants« als eine vergleichsweise konservative, evangelikal geprägte Variante der »fresh expressions of church«. Sie reduplizieren, so die Definition des Vf.s (149f, 163), die Gottesdienst- und Frömmigkeitsformen einer bestehenden Gemeinde an einem anderen Ort; sie sind weniger am sozialen Kontext als vielmehr an numerischem Wachstum und kirchlicher »Revitalisierung« (280 ff u. ö.) orientiert.

Die Arbeit untersucht das Phänomen umfassend und – typisch für eine Dissertation – nicht ohne Redundanzen. Nach einleitenden Ausführungen wird die Methodik skizziert (47–92), die neben Quellenstudium und teilnehmender Beobachtung acht Interviews mit »Gemeindegründern« (davon eine Gründerin), drei Interviews mit Pfarrern im Umkreis einer größeren Neugründung, eine Gottesdienstbefragung sowie Interviews mit acht »Promotoren«, darunter allein drei aus der HTB und drei Bischöfe umfasst.

Über 380 Seiten wird sodann die »Szene« der Gemeindegründung in England vorgestellt, zunächst mit einer historischen Orientierung und einigen empirischen Einsichten (165–183), die der Vf. aus (nur) zwei einschlägigen Veröffentlichungen entnehmen muss. Dabei zeigt sich eine stark »von oben«, durch bischöfliche Unterstützung geprägte Kontur des »church planting« sowie ein gottesdienstliches Teilnahmeprofil, das sich vor allem durch geübte oder erneute Kirchgänger auszeichnet. Sodann werden drei exemplarische Gemeindegründungen en detail vorgestellt; es werden die institutionellen sowie die kirchenleitenden Promotoren dieser Szene und ihre theologischen Begründungsstrukturen vorgestellt (227–267); dabei wird das tendenziell biblizistische, hermeneutisch naive Vorgehen der meisten Autoren leise kritisiert. Weitere kurze Kapitel betreffen die Modi der Gemeindegründung (u. a. die Wiedereröffnung eines Kirchengebäudes oder die Belebung einer »struggling parish«) sowie diverse Orientierungen, Varianten und Kontexte des Phänomens.

Größere Aufmerksamkeit erhält eine relativ junge Variante, nämlich das »Resource Church Model« (315–370). Gemeint sind innerstädtische Großgemeinden, die gesamtkirchlich besser ausge-stattet werden, um durch diverse Gottesdienste und andere Veranstaltungen eine ganze Region zu adressieren und dazu neue Gemeinden zu gründen. Zu den Ressourcen, die sie der Diözese und ihren Gemeinden zur Verfügung stellen, gehören die Qualifika- tion für kirchliche Leitungsaufgaben, auch für Gemeindeneugründungen, entsprechendes Kursmaterial und weitere inhaltliche Expertise. Im deutschen Kontext entspricht dieser Gemeindetyp vielleicht einer Kombination von Citykirche und übergemeindlichem Dienstbereich. Noch deutlicher als die anderen Gemeindegründungen sind die seit 2015 bestehenden ca. 25 »Resource Churches« evangelikal geprägt und mit der Londoner HTB-Gemeinde vernetzt. Die skrupulöse genetische und empirische Erkundung führt den Vf. zu einer ambivalenten Einschätzung: das erkennbar hohe Gemeindewachstum (und das heißt hier immer: wachsende Teilnahme an den Gottesdiensten), v.a. unter jungen Erwachsenen, ist vorwiegend ein »Transferwachstum« von Menschen, die bisher in anderen Gemeinden engagiert waren.

Nachdem ein weiteres Kapitel, fast handbuchartig, den typischen »Gemeindegründungsprozess und seine Akteure« (vor allem den – stets ordinierten – Gemeindegründer, das Team der Ehrenamtlichen sowie die bischöflichen Promotoren) dargestellt und kritisch reflektiert hat (371–418), werden schließlich die inhaltlichen Kontroversen um die Strategie des »church planting« diskutiert und seine Leistungen für die Transformation der Church of England gewürdigt. Das Fazit des Vf.s ist skeptisch: Zur binnenkirchlichen Innovation, Diversität und Kontextualisierung tragen diese Gründungen kaum bei, und ihr Wachstumseffekt beruht vor allem auf Mitgliedertransfer. Gleichwohl haben sie die parochiale Struktur für Netzwerk- und Zielgruppenorientierung geöffnet, stellen also »einen möglichen Baustein innerhalb einer missionarisch ausgerichteten kirchlichen Landschaft dar« (479).

Die letzten Kapitel der Arbeit (483–531) widmen sich dem möglichen Ertrag für die deutschen evangelischen Landeskirchen. Nach einer knappen, wenig erhellenden kirchentheoretischen Einordnung wird Gemeindeneugründungen Potenzial bzgl. der Zielgruppe junger Erwachsener und als mögliche Ergänzung der gängigen Regionalisierungs- und Fusionsprozesse zugesprochen. Hier verweist der Vf. auf das Greifswalder Modell der »regiolokalen Kirchenentwicklung«; ansonsten erscheint seine Kenntnis der kirchlichen Transformationsdebatte sowie ihrer theologischen Re- flexion jedoch erstaunlich begrenzt, etwa was die Diskussion über den Gemeindebegriff betrifft (S. 526ff). So bleibt am Ende kaum mehr als der Appell, stärker über Zielgruppenorientierung nachzudenken und dafür »Gemeindegründer und Gemeindegründungsteams aus[zu]senden« (531).

In formaler Hinsicht hätte der vorliegenden Arbeit eine gründliche Kürzung und Redaktion gutgetan. Viele begriffliche und methodische Entscheidungen werden äußerst umständlich dargelegt, einzelne Interviewstimmen ausführlich zitiert (vgl. etwa 345–367 zu drei ähnlich gelagerten Gesprächen); die (schmale) englische Literatur zum Thema wird breit referiert.

Inhaltlich liegt die Stärke dieser Arbeit darin, eine bisher in der deutschen Debatte kaum beachtete, für die englisch-anglikanische Situation aber sehr einflussreiche Form struktureller Transformation umfassend zu präsentieren. Je genauer das »traditional church planting« jedoch in den Blick kommt, umso deutlicher zeigt es sich als ein höchst kontextuelles Phänomen. Es bezieht sich auf eine kirchliche Struktur, die wesentlich parochial verfasst ist, in der also »Gemeinde« kaum anders denkbar erscheint als territorial umschrieben, mit einem (und nur einem) »vicar« und beigeordneten Hauptamtlichen sowie Ehrenämtern, die überall ein möglichst breites Angebot realisieren sollen. Jenseits der parochialen Struktur gibt es, wenn ich recht sehe, kaum übergemeindliche Arbeitsbereiche und wenig synodale Gremien; die Church of England ist vielmehr strikt episkopal verfasst, so dass reformwillige Bischöfe (Frauen bleiben bisher die Ausnahme) ihre Agenda sehr konsequent verfolgen und »auch gegen Widerstände durchzusetzen« vermögen (525; vgl. 221, 417 u.ö.). Leider werden diese und andere Eigenarten der Church of England, auch ihre komplexen Finanzstrukturen vom Vf. nur in einem Anhang (578ff, nicht in der Druckfassung) skizziert. Wie sehr das höchst strukturkon- servative Profil der »church plants«, etwa ihre Fokussierung auf einen ordinierten »Gemeindegründer«, an einer klaren liturgischen Ordnung und einer bischöflichen Autorisierung bedingt ist vom anglikanischen Kontext, das wird in der Arbeit nur en passant, in einzelnen Bemerkungen und Zitaten erkennbar.

Aus deutscher Perspektive fehlen in der Darstellung deshalb viele Debatten, die für eine Rezeption hierzulande essenziell wä- ren, etwa bezüglich unterschiedlicher Berufsbilder, auch im Pfarrberuf selbst, der Rolle von Ehrenamtlichen, der Leitungsstrukturen oder der Mitgliederbindung – eine Orientierung allein an Gottesdienstteilnahmezahlen wäre in den deutschen Kirchen ebenso realitätsfern wie sinnlos, dürfte aber auch in England eine riskante Verkürzung darstellen. Auch die breite Debatte zu den Formen regionaler Kooperation, Zielgruppenorientierung und inhaltlicher Schwerpunktbildung bleibt außen vor.

Nicht zuletzt vermisse ich eine gründlichere Reflexion auf die inhaltlichen, die theologischen Implikationen der vorgestellten Strukturmodelle. Die offenbar ganz unbefangene Orientierung allein an wachsender Gottesdienstteilnahme, an der Bildung von Hauskreisen und der »Aussendung« missionarischer »Gründungsteams« bedürfte – nicht nur im deutschen Kontext – eines Rekurses auf die implizierten Bilder von Kirche, Kirchenbindung und Glaubenspraxis. Dies alles bleibt hier merkwürdig unbetont; oder es versteckt sich in gelegentlichen Referaten von einschlägigen Protagonisten, etwa Timothy Keller oder George Lings, die stets nur knapp diskutiert werden. Insgesamt stellt diese Arbeit daher gewiss einen interessanten Beitrag zur anglikanischen Kirchenkunde dar; die praktisch-theologische Kirchentheorie kann sie jedoch nur mittelbar bereichern.