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Ausgabe: | November/2023 |
Spalte: | 1087–1089 |
Kategorie: | Kirchengeschichte: Alte Kirche, Christliche Archäologie |
Autor/Hrsg.: | Jussen, Bernhard |
Titel/Untertitel: | Das Geschenk des Orest. Eine Geschichte des nachrömischen Europa 526–1535. |
Verlag: | München: C. H. Beck 2023. 480 S., m. 43 z. T. farb. Abb. Geb. EUR 44,00. ISBN 9783406782008. |
Rezensent: | Michael Borgolte |
Mit dem vorgelegten Buch will Bernhard Jussen, Professor an der Universität Frankfurt/M., ein neues Verständnis jener Jahrhunderte unserer Vergangenheit etablieren, die wir »Mittelalter« nennen. Leitbegriffe sind dabei für ihn »Transformation« und »Revolution«. Was den vermeintlichen Beginn des Mittelalters betrifft, so beruft sich J. auf die Ergebnisse des großen Projekts der European Science Foundation »The Transformation of the Roman World« von 1992 bis 1997, nach denen die Invasion der Barbaren (»Völkerwanderung«) keinen Untergang des Römischen Reiches herbeigeführt habe. Wandel statt Abbruch und Katastrophe habe demnach die Zeit um 500 im westlichen Europa gekennzeichnet. Mit »Revolu- tion« bezieht sich J. zum anderen keineswegs auf das mittelalterliche – und noch reformatorische – Begriffsverständnis, dass Gott der Urheber aller Umbrüche sei; vielmehr folgt er hierbei dem Pfad europäischer Diskurse über »Revolution« seit dem Ersten Weltkrieg, einem »Dauerthema« der Intellektuellen (R. Koselleck).
In der Mediävistik hatte der Begriff der Revolution zuletzt Konjunktur, als man in einer hochmittelalterlichen Zeit der »Wende« einen Aufbruch zur Moderne entdecken wollte. J. indes will zeigen, dass sich mit dem Christentum im westlichen Europa seit dem 6. Jh. eine revolutionär neue Gesellschaft durchsetzte, in deren Tradition die rezenten Zivilgesellschaften stehen. Es kann hier offenbleiben, ob diese Langzeitperspektive gerechtfertigt ist, aber der Leser ist irritiert, dass J. den kontradiktorischen Gegensatz von Transformation und Wandel oder Revolution offenbar verkannt hat. Leider prägen noch andere Widersprüche sein Buch: Wenn die römische Kultur überdauert hat, warum redet J. dann vom »nach-römischen Europa«, und wenn es (auch) um eine Geschichte des unaufhörlichen Wandels und eine Absage ans Mittelalter gehen soll, weshalb schreibt er dann eine Geschichte mit Zeitgrenzen, die überdies traditionell erscheinen (526–1535)? Und wieso steht »das Geschenk des Orest« im Titel, wo es sich bei dem Konsul Orest doch erklärtermaßen um einen konservativen Römer, einen »Gestrigen« (13), und um keinen Förderer der »revolutionären römischen Transformationsgesellschaft« (14), handelte?
J. beschränkt sich auf Europa, soweit es von der römisch-katholischen Kirche erfasst war. Neben Byzanz und dem Bereich der orthodoxen Kirchen (ganz zu schweigen von den orientalischen Kirchen) haben auch Juden, Muslime, Dualisten und ›Heiden‹ in seinem Geschichtsbild keinen Platz. Wenn man sich mit diesen Einschränkungen abfindet und die universellen Deutungsversuche J.s beiseitelässt, können sich Leserinnen und Leser durch seine Detailstudien reich belehren lassen.
In sieben Kapiteln werden Formen gesellschaftlicher Organisation und Transformation, verteilt über die gemeinten Jahrhunderte, untersucht, nicht aber, wie in der Geschichtswissenschaft üblich, an Texten, sondern an Artefakten, dem »Material aus dem Feld ästhetischer Kommunikation« (19). Ausgangspunkt ist die Analyse eines Grabfreskos in der Commodilla-Katakombe in Rom von ca. 530. Es ist einer Witwe namens Turtura (Turteltaube) von ihrem Sohn gewidmet worden; die Inschrift preist Turtura, dass sie 36 Jahre verwitwet blieb und so ihrem Mann die Treue gehalten habe. Mit dem Monument hatte sich J. schon einmal in seiner grundlegenden Habilitationsschrift von 1998 befasst. Damals war ihm der Nachweis gelungen, dass die Sozialfigur der »Witwe« im Sinne der hinterbliebenen Ehefrau in der vorchristlichen Antike noch unbekannt und eine Erfindung der spätrömischen Kirchenpolitik war. Klarer als seinerzeit arbeitet er nun heraus, dass die Hochschätzung der lebenslang unverheiratet bleibenden Witwe eine Transformation des Gesellschaftssystems selbst indiziert. Die unauflösliche, nicht einmal durch den Tod eines der Partner beendete Ehe sei im lateinischen Christentum ins Zentrum der gesellschaftlichen Ordnung gerückt. An die Stelle der archaischen Ahnenverehrung durch den Hausvater und des agnatischen, auf Sohnesfolge gegründeten Familienmodells sei die auf eine Generation beschränkte und bei der Witwe liegende Memoria getreten. Überdies sei die Totensorge jetzt Aufgabe kirchlicher Spezialisten, der Mönche und Priester, geworden. Hier verkennt J. allerdings, dass die Laien die im Prinzip zeitlich unbegrenzt gedachte Memoria ihrer Vorfahren sehr wohl sichern wollten und zu sichern wussten, indem sie durch Stiftungen erst den Kult durch die geistlichen Akteure der Kirche veranlassten. Dem durch das Grabbild der Turtura und seine Inschrift repräsentierten historischen Wandel schreibt J. fundamentale Bedeutung zu. Er spricht geradezu vom »Jahrtausend der Turteltaube«, bietet also einen neuen Begriff für die Periode des mittelalterlichen Jahrtausends an. Als Gegenmodell zu Turturas Grabmal präsentiert J. die zur gleichen Zeit auslaufenden elfenbeinernen Diptychen, mit denen Römer wie Orest ihren politischen Aufstieg zum Konsulat anzeigten und verbreiteten.
Instruktiv ist die dritte Studie über herrscherliche Bildrepräsentation im lateinischen Christentum und in Byzanz. Durch sorgfältige vergleichende Analyse der verschiedenen Bildmedien zeigt J. ebenso überraschend wie überzeugend, dass sich westliche Herrscher im Unterschied zum Kaiser in Konstantinopel eher nicht als Sakralkönige darstellen ließen. Teilweise in Umkehrung geltender Zuschreibungen könne man von christozentrischen Herrscherbildern nur in Byzanz und gerade nicht im Westen sprechen. Über diese These wird die Forschung ebenso diskutieren wie über die mit ihr verbundene Behauptung, dass am Hof Karls des Großen und seiner Nachfolger, also lange vor der sogenannten Renaissance, die Pfade zu einer Gestaltungsfreiheit der Maler und Bildschnitzer eingeschlagen worden seien.
Durch Untersuchungen zum Klosterplan von St. Gallen von ca. 820 und zum Fresko Lorenzettis im Regierungspalast von Siena von 1337/1339 sucht J. dem Anteil monastischer Gemeinschaften und freier Stadtkommunen an der Gesellschaft des »nachrömischen Europas« gerechtzuwerden. Im sechsten Kapitel führt er das Gegenthema zur ewigen Witwenschaft, die Wiederheirat der Hinterbliebenen ein; J. verankert es vor allem in der spätmittelalterlichen Stadtgesellschaft. Instruktiv ist in diesem Zusammenhang die Ausbreitung des Annenkultes vor allem zwischen 1470 und 1530. Im Altarbild des Frankfurter Dominikanerklosters wird beispielsweise die dreimal verheiratete Anna, Mutter der Gottesmutter Maria, ins Zentrum ihrer reichen Nachkommenschaft und Seitenverwandten gerückt. Die »heilige Großfamilie« und ihr Begleitphänomen, die stadtbürgerlichen Annenbruderschaften, hatten allerdings nur eine kurze Konjunktur, während das Zeitalter der Turteltaube bis ins 17. Jh. weiterwirkte. Erst Ende des 15. Jh.s begann die »Bildgeschichte des Familienstammbaums«; das von männlicher Verwandtschaft und Abstammung bestimmte »vertikale Geschlecht« trat an die Stelle des horizontalen, um Ehepaare zentrierten Verwandtengeflechts.
Das »Jahrtausend der Turteltaube« mit seinen geistlichen und asketischen Leistungen für das Seelenheil der Verstorbenen endete mit der lutherischen Lehre. J. verdeutlicht den Epochenbruch mit dem Bildmotiv von ›Gesetz und Gnade‹, wie es in der Holbeintafel von Edinburgh aus den 1520er Jahren begegnet.
Sein kurzes Schlusskapitel widmet Bernhard J. einer Abrechnung mit der etablierten Geschichtswissenschaft. Diese habe es versäumt, grundlegende Einsichten zum lateineuropäischen Verwandtschaftssystem in ihren großen Darstellungen und Handbüchern zu verarbeiten. Der Rezeption der neuen ethnologischen und anthropologischen Forschungen habe die Beharrung auf das überkommene Epochenschema Antike – Mittelalter – Neuzeit im Wege gestanden. Auch hier verwickelt sich J. in Widersprüche. Solange man am ›Mittelalter‹ festhalte, bestehe man auf der »Alterität« dieser Mittelzeit. Aber es war doch gerade das Beweisziel seines Buches, das neue, lateineuropäische Konzept der den Tod überdauernden Einehe als Kennzeichen der poströmischen Periode herauszuarbeiten. Von hier, einem, wie man sagen könnte, katholischen Konzept der Ehe, lässt sich auch gerade nicht eine Verbindung zur Gegenwart ziehen. Denn es ist doch kaum zu bezweifeln, dass die Ehe nicht im Zentrum liberaler zivilgesellschaftlicher Konzepte steht; wenn dies aber doch der Fall sein sollte, ginge es um die ›Ehe für alle‹, nicht nur um die auf ewig zwischen Mann und Frau.