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Ausgabe:

Oktober/2023

Spalte:

968-970

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Dingel, Irene [Hg.]

Titel/Untertitel:

Der Antinomistische Streit (1556–1571).

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2016. 590 S. m.18 Abb. = Controversia et Confessio, 4. Lw. EUR 130,00. ISBN 9783525560310.

Rezensent:

Albrecht Beutel

Neben dem angegebenen Titel in dieser Rezension besprochen:

Dingel, Irene [Hg.]: Der Majoristische Streit (1553–1570). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2014. X, 611 S. m. 17 Abb. = Controversia et Confessio, 3. Geb. EUR 79,99. ISBN 978-3-525-56016-8.
Dingel, Irene [Hg.]: Der Synergistische Streit (1555–1564). Bearb. v. K. Daugirdas, J. M. Lies, H.-O. Schneider. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2019. X, 820 S. m. 18 Abb. = Controversia et Confessio, 5. Geb. EUR 140,00. ISBN 9783525558645.
Schneider, Hans-Otto [Hg.]: Der Erbsündenstreit (1559–1580). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2021. X, 746 S. m. 22 Abb. = Controversia et Confessio, 6. Geb. EUR 195,00. ISBN 9783525560532.
Dingel, Irene [Hg.]: Der Osiandrische Streit (1550–1570). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2023. X, 1013 S., mit 19 Abb. = Controversia et Confessio, 7. EUR 150,00. ISBN 9783525500149.
Dingel, Irene [Hg.]: Antitrinitarische Streitigkeiten. Die tritheistische Phase (1560–1568). Bearb. v. K. Daugirdas. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2013. 622 S. m. 7 Abb. = Controversia et Confessio, 9. Geb. EUR 99,99. ISBN 978-3-525-56015-0.
Schneider, Hans-Otto [Hg.]: Gesamtregister. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2023. VIII, 174 S. = Controversia et Confessio, 10. Geb. EUR 99,00. ISBN 9783525500156.


Mit der vorliegenden umfassenden Dokumentation des zur Mitte des 16. Jh.s im Luthertum intensiv ausgetragenen Osiandrischen Streits und dem abschließenden Registerband, die beide 2023 erschienen sind, ist die von der renommierten Mainzer Reformationshistorikerin Irene Dingel verantwortete Editionsreihe Controversia et confessio fristgerecht vollendet worden. Diesem Langzeitvorhaben der Mainzer Akademie der Wissenschaften und der Literatur, dessen erster Band 2008 erschien, kam die Aufgabe zu, die wichtigsten theologischen Streitigkeiten, die nach dem Augsburger Interim von 1548 und dem dieses alternierenden sog. Leipziger Interim ausgetragen wurden, quellenorientiert aufzubereiten.

Alle Bände der Reihe zeichnen sich durch akribische Quellenpflege, akkurate Editionskompetenz und umfassende historische Gelehrsamkeit ihrer Bearbeiter aus. Nachdem zuletzt Bände zu den Antitrinitarischen Streitigkeiten (2013), zum Majoristischen (2014) und Antinomistischen Streit (2016), zum Synergistischen (2019) und Erbsündenstreit (2021) vorgelegt worden waren, kommt dem hier anzuzeigenden Dokumentationsband insofern eine Sonderstellung zu, als sein Streitgegenstand nicht direkt durch das Interim provoziert, sondern durch eine spezielle Lehrbildung Andreas Osianders ausgelöst worden war. Eine weitere Besonderheit gibt sich darin zu erkennen, dass die von Osiander vertretene Position kaum Parteigänger fand und deshalb, anders als in den anderen protestantischen Lehrkontroversen des mittleren 16. Jh.s, die Anhänger Luthers, Melanchthons und Calvins gemeinsam gegen sich aufbrachte.

Der Band wird von einer konzisen, souverän kundigen Historische[n] Einleitung (3–16) der Reihen- und Bandherausgeberin eröffnet. Sie bietet zunächst ein bündiges Biogramm Osianders und erinnert sodann an die politischen und gesellschaftlichen Begleitumstände jener heftigen, zwei Jahrzehnte hindurch anhaltenden Auseinandersetzung. Dafür benennt D. im Wesentlichen vier Faktoren: die naturgemäß Neid erregende glänzende Karriere, die Osiander dank der Begünstigung Herzog Albrechts in Preußen durchlief, dazu die durch Osiander in Königsberg ausgelösten universitätstheologischen und kirchlichen Widerstände, ferner dessen eigene ehrgeizige Vorteilnahme unter dem Schirm des Herzogs und nicht zuletzt auch die politischen Spannungen, die sich darin niederschlugen, dass die Städte und Landstände Preußens in ihrer Opposition gegen Osiander eine Möglichkeit sahen, die Machtbefugnisse des Herzogs im Sinne ihrer früheren Privilegien zu beschränken.

Danach weist D. zu Recht darauf hin, dass man, unbeschadet dieser äußeren Umstände, den Kern des Streits in der darin ausgetragenen theologischen Zwistigkeit sehen sollte, und skizziert deshalb präzise das provozierende Spezifikum von Osianders Rechtfertigungslehre. Diese wandte sich von der in Wittenberg konsensuell vertretenen Imputationslehre ab, zielte also nicht mehr auf den Glauben als den Grund der geschenkten göttlichen Rechtfertigung, vielmehr auf die essentialistisch gedachte Einwohnung der göttlichen Natur Christi im glaubenden Menschen. Die darin aufscheinende Nähe zu zeitgenössischen spiritualisti-schen Strömungen lässt es verständlich erscheinen, dass Osiander nun gleichsam von allen Seiten, von gralshütenden Gnesiolutheranern ebenso wie von auf Melanchthon eingeschworenen Philippisten, scharf attackiert wurde. Besonders differenziert bietet die Einleitung schließlich eine Verlaufsübersicht zu der 1549/50 einsetzenden Kontroverse, die Osiander mit der streitauslösenden, in lateinischer und deutscher Sprache gedruckten Disputatio de iustificatione (32–51) in Gang gesetzt hatte.

Auf diese zuerst dokumentierte Disputation folgend präsentiert der Band 17 weitere Quellentexte, die in zwei Fällen aus anonymer Hand bzw. Feder stammen, daneben mehrheitlich von bekannten Persönlichkeiten wie Osiander, Herzog Albrecht, Erasmus Alber, Melanchthon oder Matthias Flacius Illyricus verfasst wurden, teilweise aber auch von eher unbekannten Autoren wie dem entschiedenen Osiander-Parteigänger Johannes Funck (1518–1566), der seit 1547 in Königsberg wirkte, ferner von dem Nürnberger Gymnasiallehrer und späteren Privatgelehrten Michael Roting (1494–1588) oder von Matthias Vogel (1519–1591), der 1545 nach Preußen gekommen war, dort bald zum Domprediger und Theologieprofessor aufstieg, jedoch 1566 das Herzogtum verlassen musste und danach als Geistlicher in Württemberg tätig blieb.

Von den insgesamt 18 dargebotenen Quellentexten erschienen sechs in Osianders Todesjahr 1552, vier Texte datieren ein wenig früher, alle anderen später. Zuletzt erachtete es der Königsberger Pfarrer und Professor Joachim Mörlin (1514–1571) selbst noch 1570, mithin zwei Jahrzehnte nach dem Ausbruch des Streits, für angezeigt, einen Treuherzige[n], gar kurze[n] und gründliche[n] Bericht für fromme Herzen, die die Lehre Osiandri noch irre macht (962–973), ausgehen zu lassen.

Die imponierende Editionsleistung ist von den Mitarbeitern Jan Martin Lies und Hans-Otto Schneider erbracht worden. Der Erstgenannte bearbeitete zwölf, der andere sechs Quellentexte; berücksichtigt man freilich den sehr unterschiedlichen Umfang der Texte, so hatten beide Mitarbeiter annähernd denselben äußeren Textumfang zu betreuen. Den weithin diplomatisch getreuen Textdarbietungen (leichte Abweichungen vom Original sind in den Editionsrichtlinien [1] ausgewiesen) geht jeweils eine dreigliedrige Einleitung voraus, die, wie in der gesamten Reihe, knapp und hilfreich über die speziellen historischen Umstände, den Autor und den Inhalt des Textes informieren. Die zahlreichen gelehrten Anmerkungen identifizieren möglichst alle biblischen Zitate und Anspielungen, bieten, wo es erforderlich schien, vorzügliche Wort- und Sacherklärungen, und verweisen, besonders verdienstvoll, auf theologische Bezugstexte, die von den Streitpartnern zitiert oder angespielt worden sind. Diese Texte sind am Ende des Bandes in einem eigenen Zitatenregister (1009–1013) alphabetisch nach Verfassernamen zusammengestellt und führen damit eindrucksvoll vor Augen, dass selbstverständlich Luther und Augustin die am häufigsten frequentierten Referenzadressen darstellen, daneben jedoch eine immense Fülle weiterer theologiehistorischer Textbezüge in jenen bei aller Schärfe doch auch in eindrucksvoller Gelehrsamkeit geführten literarischen Streit eingeflochten waren.

Sehr verdienstvoll ist auch das von Hans-Otto Schneider herausgegebene Gesamtregister der Reihe, das neben einer Übersicht zu den insgesamt edierten Stücken die in den einzelnen Editionsbänden in erstrebter Vollständigkeit gebotenen Personen-, Bibelstellen- und Zitatenregister sowie die Geographischen Register zusammenführt und damit der wissenschaftlichen Nutzbarkeit der gesamten Reihe erheblich zugute kommt.

Der nun vorliegende Osiander-Band markiert den krönenden Abschluss einer wertvollen, auf sehr lange Zeit hin maßgeblich bleibenden kirchen- und theologiegeschichtlichen Editionsreihe, die in höchstem Maße und in verschiedener Hinsicht respektvolle Anerkennung verdient. Dies gilt für die ausdauernde Findigkeit und Beharrungskraft, die zur Sammlung dieser oft versteckten, selten gewordenen Quellentexte erforderlich war, desgleichen für den Glücksumstand, eine derart kompetente Mitarbeiterschaft rekrutieren und viele Jahre hindurch beschäftigen zu können, und natürlich am Ende auch für den eingefahrenen Gesamterfolg, die zur Mitte des 16. Jh.s besonders vitale lutherische Streitkultur derart differenziert und tiefenscharf dokumentiert zu haben.

Das imponierende Gesamtergebnis hat nicht allein eine vielfach anregende, lehrreiche und nach allen Regeln der Editionskunst aufbereitete historische Materialsammlung verfügbar gemacht, sondern auch zahlreiche Anreize für vertiefende, auch interdisziplinär zugeschnittene Erkundungs- und Forschungsansätze geschaffen. Im Übrigen dürfte ein wesentlicher Effekt dieses erfolgreich abgeschlossenen Langfristprojekts darin bestehen, dass man in der Wahrnehmung der stupenden Belesenheit, Akribie, Umsicht, Argumentationskraft und Leidenschaft, mit denen die evangelischen Theologen des 16. Jh.s ihre intensiven materialen Kontroversen auszutragen pflegten, umso deutlicher zu erkennen vermag, wie weit sich die gegenwärtig geführten theologischen Sachdebatten davon strukturell entfernt haben. Diese letzte Bemerkung sollte nicht als ein dekadenztheoretisches Schlusswort missverstanden werden, sondern als Hinweis auf eine pralle fachspezifische Geschichtsfülle, die bei ihren Rezipienten auch im Abstand der Zeiten noch konstruktives selbstkritisches Potential zu entfalten vermag.