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Ausgabe: | Oktober/2023 |
Spalte: | 934-937 |
Kategorie: | Judaistik |
Autor/Hrsg.: | Tilly, Michael, and Burton L. Visotzky [Eds.] |
Titel/Untertitel: | Judaism II. Literature. Übers. v. D. E. Orton. |
Verlag: | Stuttgart: Verlag W. Kohlhammer 2021. 344 S. = Die Religionen der Menschheit, 27.2. Geb. EUR 99,00. ISBN 9783170325838. |
Rezensent: | René Bloch |
Neben dem angegebenen Titel in dieser Rezension besprochen:
Tilly, Michael, and Burton L. Visotzky [Eds.]: Judaism I. History. Übers. v. D. E. Orton. Stuttgart: Verlag W. Kohlhammer 2021. 387 S. m. 3 Ktn.= Die Religionen der Menschheit, 27.1. Geb. EUR 99,00. ISBN 9783170325791.
Tilly, Michael, and Burton L. Visotzky [Eds.]: Judaism III. Culture and Modernity. Übers. v. D. E. Orton. Stuttgart: Verlag W. Kohlhammer 2020. 239 S. = Die Religionen der Menschheit, 27.3. Geb. EUR 89,00. ISBN 97831703258376.
1994, vor knapp 30 Jahren, erschien in der Reihe »Die Religionen der Menschheit« des Kohlhammer Verlags der Band »Das Judentum«. Bandherausgeber war der Mainzer Theologe und Judaist Günter Mayer. Auf 500 Seiten führten damals fünf Autoren in die Geschichte, Religion und Philosophie des Judentums ein. In der hier anzuzeigenden Neufassung, herausgegeben von Michael Tilly und Burton L. Visotzky, spiegeln sich allerlei Veränderungen wider, die sowohl die Geisteswissenschaften im Allgemeinen als auch die Judaistik im Besonderen seit dem Erscheinen des Vorgängerbandes geprägt haben. Dass so manches in einer Überblicksdarstellung zu kurz kommen müsste, war auch schon Günter Mayer schmerzlich bewusst. Mayer hatte die Nichtberücksichtigung der indischen Beni Israel und der Karäer bedauert. Tilly und Visotzky, die sich einleitend als ordinierter deutsch-protestantischer Universitätsprofessor und amerikanischer Rabbiner-Professor vorstellen (I, 12), hätten ebenfalls gerne mehr in den nun 1000 Seiten und drei Bände umfassenden Überblick eingeschlossen: »Jews of Color« etwa oder mehr aus dem nicht-aschkenasischen Judentum (Stichwort »ashkenormativity«). Dass, wie Elisabeth Hollender in ihrem Beitrag zum Piyyut festhält (II, 261), noch immer keine kritische Edition eines sephardischen Maḥzors vorliegt, ist vielsagend. Und dann bedauern die Herausgeber einleitend auch »the absence of women throughout these volumes« (I, 17). Gerade in Bezug auf Letzteres ist doch immerhin festzustellen, dass der neue, viel umfangreichere Überblick von Tilly und Visotzky im Gegensatz zu jenem von Günter Mayer (zu dem Michael Tilly im Übrigen einen demographischen Anhang beigesteuert hatte) nun auch viele Autorinnen umfasst und dass die Rolle von Frauen sowie generell Gender-Fragen in einzelnen Beiträgen durchaus diskutiert werden (am ausführlichsten im Artikel von Gwynn Kessler, »Judaism, Feminism, and Gender« (III,169–197). Der Diversität innerhalb des Judentums werden die drei Bände mehr gerecht als ihr Vorgänger (von den Karäern ist in den Beiträgen von Phillip Lieberman, »Jews and/under Islam: 650–1000 CE« [I, 154–156], und Marzena Zawanowska, »Karaite Literature« [II, 157–171], die Rede). Und schließlich wurde die Neulancierung im Rahmen von »Die Religionen der Menschheit« nun auf Englisch veröffentlicht, jener Sprache, die zur lingua franca (auch) der Judaistik geworden ist.
Die drei Bände enthalten eine Reihe eigentlicher Bijous: Natalie B. Dohrmann, »Jews in the West: From Herod to Constantine the Great« (I, 76–105), ist eine ausgezeichnete Präsentation, die gerade auch die Heterogenität des antiken Judentums unterstreicht, ähnlich wie dies Geoffrey Herman am Beispiel des babylonischen Judentums tut (I, 121–138), nicht zuletzt unter Verweis auf die jüdischen Zauberschalen. Wenn Dohrmann den kleinsten gemeinsamen Nenner des Judentums als »the maintenance of a sacrificial cult and the sanctity of a ruling priesthood […] adherence to some sort of sacred calendar, Sabbath observance, and dietary restrictions of some kind« beschreibt (I, 85), könnte man freilich noch weitergehen: Von Philon wissen wir, dass es auch Juden gab, deren Judentum weit weniger religiös geprägt war. Glanzlichter sind u. a. auch das mit Verve geschriebene, gut informierte Kapitel von Joseph M. Davis, »Judaism During and After the Expulsion: 1492–1750« (I, 194–218), in dem auch auf die ersten von jüdischen Frauen verfassten Bücher verwiesen wird (die Dichterin Devorà Ascarelli; ein großer Abwesender in diesem Kapitel und in allen drei Bänden ist der so gewichtige Renaissance-Autor Azaria de’ Rossi), sowie die sehr hilfreichen, neue Forschungen gut einbettenden und Ungeklärtes erfrischend offen lassenden Beiträge von Emanuel Tov zur Jüdischen Bibel (II, 18–55), Günter Stemberger zur Tannaitischen Literatur (II, 89–121) und Carol Bakhos zu Talmud und Midrasch (II, 122–144 – mit dem Hinweis, dass der Babylonische Talmud »the greatest Jewish literary masterpiece« sei [128]. Greater than the Torah? könnte man allenfalls nachfragen). Bessere Einführungen kann man sich nicht wünschen. Stemberger wendet sich gegen die simple Darstellung, dass das rabbinische Judentum aus der pharisäischen Bewegung hervorgegangen sei. Bemerkenswert ist auch sein Hinweis, dass »Much of rabbinic halakhah that goes back to before 70, rather belongs to the halakhic practice of what has been labeled ›common Judaism‹« (II, 92). Michael Tilly gibt einen guten Überblick über die jüdisch-hellenistische Literatur, mit einer angesichts der Rezeptionsgeschichte etwas überraschenden Schwerpunktsetzung: ausführlich zur apokalyptischen Literatur, äußerst knapp zu Philon und Flavius Josephus (II, 56–88; zu Philons Philosophie ergänzt Ottfried Fraisse noch etwas im Beitrag »Jewish Philosophy and Thought« [III, 110–111]). Auch andere große Religionsphilosophen können nur knapp angesprochen werden, so Maimonides und Sa‘adja Gaon in Rachels S. Mikvas »Medieval Biblical Commentary and Aggadic Literature« (II, 205–236).
Die drei Bände reichen von der hellenistischen Zeit bis zum heutigen Judentum (bis zur Covid-Epidemie und jüdischen Zoom-Gottesdiensten: II, 289) mit den drei Zentren Europa, Amerika (Deborah Dash Moore, »Judaism in America« [I, 319–349], gemeint sind die USA) und Israel. Zurecht schließt der Überblick auch ein ausführliches Kapitel zum Holocaust und zum Antisemitismus mit ein (von Michael Berenbaum: I, 242–281). Die Gegenrede, der Holocaust sei keine »jüdische« Geschichte, überzeugt jedenfalls nicht. Schon nur die Tatsache, dass der Holocaust die Erforschung des Judentums bis heute mitprägt, macht dieses Kapitel zur Notwendigkeit.
Den Herausgebern ist auch dafür zu gratulieren, dass sie divergierende Ansichten nebeneinander stehen gelassen haben. Nicht nur die Themen des Fachs sind weit gestreut, auch die Meinungen innerhalb der jeweiligen Bereiche. Während bei Davis Spinoza kein jüdischer Philosoph ist (I, 209), klingt das im nachfolgenden Beitrag von Dominique Bourel (»Modern Judaism: 1750–1930«) ganz anders: «The history of Spinozism in Jewish culture could be interpreted as a new marker in the history of the community, at least in Europe« (I, 219). Gwynn Kesslers Kapitel endet mit einem kämpferischen »May there be no end to Jewish feminist/queer/trans making of books, and inclusive feminist (re)visions« (III, 197), während der nachfolgende Beitrag von Norman Solomon mit einem etwas befremdlichen Aufruf zu Kompromissbereitschaft angesichts der heutigen sexuellen Moral schließt (III, 225).
Als wenig hilfreich, ja teilweise gar verwirrend erweist sich die Unterscheidung von Geschichte und Literatur in zwei disparate Bände (Bd. 1: History; Bd. 2: Literature). Um einen Einblick in die diskutierte Epoche zu erhalten, muss man die Bände zusammenlesen, so zum jüdischen Hellenismus die Beiträge von Hermann Lichtenberger (Bd. 1) und Michael Tilly (Bd. 2). Das Kapitel von Matthias Morgenstern zur modernen jüdischen Literatur findet sich wiederum nicht im zweiten, sondern im dritten Band (Culture and Modernity).
Allen drei Teilbänden ist dasselbe Vorwort der beiden Herausgeber vorangestellt (ein etwas längeres im ersten Band). Hier wird in knappen Worten auf Scharniere in der Geschichte der Erforschung des Judentums verwiesen. Zuerst natürlich auf die Wissenschaft des Judentums mit Leopold Zunz an der Spitze, danach auch auf den Zweiten Weltkrieg als Zäsur und die Gründung des Staates Israel als »continual midwife for the rebirth of Jewish culture and literature« (I, 13). Ob das Zweite Vatikanische Konzil die wichtige Rolle für die Judaistik (oder das Judentum) gespielt hat, die die Herausgeber ihm zuschreiben (die Bände kulminieren im letzten Beitrag »Judaism and inter-faith relations since World War II« von Norman Solomon: III, 198–229), darf man hingegen bezweifeln. »Vatican II« war ein Wendepunkt in der Geschichte des katholischen Umgangs mit dem Judentum, aber für das Fach war es kaum von größerer Relevanz. Auch Martin Hengels »Judentum und Hellenismus« (I, 14–15) ist bei all seinen Verdiensten nur bedingt als Weggabelung in der Geschichte der Judaistik zu verstehen. Dafür fährt es letztlich doch noch zu sehr in alten, christianozentrischen Fahrwassern (cf. Shaye Cohen, »Some Thoughts on Judaism and Hellenism by Martin Hengel«, JSJ 53 (2022), 465–468).
Die Gesamtschau von Michael Tilly und Burton L. Visotzky oszilliert zwischen (Jüdischer) Theologie und Judaistik. Letztere versteht sich als geisteswissenschaftliches Fach, in dem die religiöse Provenienz der Fachvertreterinnen und -vertreter so wenig relevant ist wie die griechische oder nichtgriechische Herkunft eines Gräzisten. Aus dieser geisteswissenschaftlichen Perspektive sollte es entsprechend auch keine Rolle spielen, wie viele Autorinnen und Autoren dieser Übersicht jüdisch oder christlich (oder sonst etwas) sind (I, 17). Die unterschiedlichen methodischen Ansätze in »Judaism I–III« machen die Verwendung dieses Einführungswerks nicht einfach. Der Gesamteindruck ist trotz dieser Vorbehalte aber dennoch ein positiver. Michael Tilly und Burton L. Visotzky ist es gelungen, Spezialistinnen und Spezialisten aus vielen Teilbereichen der Jüdischen Studien zu gewinnen, die ein Puzzle des Judentums zusammengestellt haben, das in seiner Breite und seiner Verständlichkeit ein großer Gewinn ist.