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Ausgabe:

Oktober/2023

Spalte:

930-932

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

Mendes-Flohr, Paul

Titel/Untertitel:

Martin Buber. Ein Leben im Dialog. Aus d. Engl. v. E.-M. Thimme.

Verlag:

Berlin: Jüdischer Verlag (Suhrkamp Verlag) 2022. 413 S. Geb. EUR 36,00. ISBN 9783633543144.

Rezensent:

Wilhelm Schwendemann

Paul Mendes-Flohr, einer der Hauptherausgebenden der Martin Buber Werkausgabe im Gütersloher Verlagshaus, ist mit dieser feinfühligen und sehr detaillierten Biografie Martin Bubers (1878–1965) ein großartiges Buch gelungen, das anders als die derzeit gängigen Buber-Biografien bei Bubers Verwurzelung im osteuropäischen Chassidismus ansetzt. M.-F. versteht Bubers Dialogik als eine »Hermeneutik der Menschlichkeit« (348). Bubers dialogisches Denken ab 1923 (»Ich und Du«) wird konsequent mit Bubers spirituellem Verständnis vor diesem Umbruch verbunden. Eine Biografie Bubers zu schreiben, ist ein gewaltiger Balanceakt, d. h. zu Bubers Denken musste ein Bezug hergestellt werden: »Ich habe keine Lehre. Ich zeige nur etwas. Ich zeige die Wirklichkeit. Ich zeige etwas an der Wirklichkeit, was nicht oder zu wenig gesehen worden ist. Ich nehme ihn, der mir zuhört, an der Hand und führe ihn zum Fenster. Ich stoße das Fenster auf und zeige auf das, was draußen ist.« (13)

Buber war in vielen Bereichen seines Schaffens, seines Denkens, seines Wirkens und auch in seiner politischen Haltung umstritten, was M.-F. immer wieder deutlich macht und nicht in Ehrfurcht vor Buber erstarrt (17). Nach der Scheidung der Eltern in Wien kommt Buber in das großelterliche, großbürgerliche und bildungsaffine Haus nach Lemberg (Lviv); vor allem der Großvater führte Buber in den Chassidismus ein (23). Später in der Rückschau auf den Besuch der Mutter in Wien, als Buber bereits mit seiner Frau Paula zusammenlebte, charakterisierte Buber diesen Besuch als »Vergegnung«, dem Gegenteil von »Begegnung«. Begegnung wurde zu einem der Hauptbegriffe der Buberschen Dialogphilosophie (21): »Alles wirkliche Leben ist Begegnung« (ebd.). 1899 lernte Buber seine spätere Frau Paula Winkler kennen. Den Großeltern wurden diese Beziehung und auch die Kinder (Rafael, Eva) verschwiegen. 1896 verließ Buber Lemberg und studierte an den Universitäten Wien, Zürich, Leipzig, Berlin Philosophie, Literatur, Psychologie und Kunstgeschichte (36). Aufgrund seiner intensiven Beschäftigung mit der polnischen und deutschen Kultur unterschied Buber ein Leben »im Nebeneinander und im Miteinander« (41) – das Miteinander ist die Anerkennung des Anderen als »DU« eines Mitmenschen – Leben im Dialog (59). 1898 schloss sich Buber der Idee des Zionismus an (42). Der Zionismus bot ihm die Chance einer Renaissance jüdischen Denkens und Lebens (43), was er als Wiedergeburt des Judentums interpretierte (44), aber die Idee des politischen Zionismus wandelte sich so für Buber in einen kulturellen Zionismus, was seine spätere Differenz zu Theodor Herzls Vorstellungen erklärte (49). In Berlin studierte Buber bei Wilhelm Dilthey und Georg Simmel. Texte wurden zum »Ausdruck gelebter Erfahrung« (63). Aus dem Simmel’schen Verständnis der »Interaktion zwischen Individuen« (68), entwickelte sich später der Buber’sche Begriff des »Zwischenmenschlichen« (69). Aus der Berliner Zeit stammt die Freundschaft mit Gustav Landauer, der sich dem »anarchistischen Sozialismus« verbunden sah (71).

Nach der Dissertation 1904 begann Buber eine Habilitationsschrift, die aber nicht beendet wurde (76). Anstelle der Habilitation erschienen dann die »Geschichten des Rabbi Nachman« (77). Buber beschäftigte sich als Lektor bei Rütten & Loening mit dem Chassidismus (und später auch mit dem Taoismus und dem Buddhismus und mit der europäischen Mystik), den er einer bürgerlichen deutschen Bildungsschicht nahebringen (81) und gleichzeitig eine »jüdische Renaissance« befördern und seine eigene jüdische Identität klären wollte (83). Die »Drei Reden über das Judentum« (97) machten Buber in Intellektuellenkreisen bekannt (98). Buber forderte in ihnen so etwas wie eine spirituelle Revolution (101). Zu Beginn des ersten Weltkriegs war Buber wie viele andere deutsche Intellektuelle »kriegsbegeistert«, was Gustav Landauer zur Kritik veranlasste. Diese Kritik seines Freundes und die Erlebnisse des Kriegs veränderten Bubers Weltsicht zur Opposition gegen Krieg und Nationalismus und zu einer Pointierung zwischenmenschlicher Bemühungen, was dann in Bubers Hauptschrift »Ich und Du« (1923) einfloss (121). Ab 1917 sah Buber im Judentum keine Nation, sondern ein Volk (127). Buber übernahm von Landauer dessen ethischen Sozialismus, was dann später zum »biblischen« bzw. »hebräischen« Humanismus verändert wurde. Auch mit Franz Rosenzweig verband ihn ab 1914 eine tiefe Freundschaft (145). Rosenzweig forderte wie Buber eine Neuausrichtung jüdischer Erziehung. In Frankfurt a. M. wurde von Rosenzweig das jüdische Lehrhaus initiiert und Buber begann dort zu lehren (»Religion als Gegenwart«) (148). Rosenzweigs Krankheit wurde 1922 diagnostiziert und schränkte Rosenzweig bis zu seinem Tod immer mehr ein, was aber die gemeinsame Überzeugung in philosophischer und religiöser Hinsicht noch verstärkte (159). Buber wurde durch Rosenzweigs Bemühen Lehrbeauftragter für »Jüdische Religionswissenschaft und Ethik« an der Universität Frankfurt. Trotz der Differenzen zwischen Buber und Rosenzweig begannen beide mit dem Projekt »Verdeutschung der hebräischen Bibel« (173). 1929 starb Rosenzweig, und Buber setzte die Verdeutschung der Bibel erst in seiner Zeit in Jerusalem fort. 1933 trat Buber von seiner Professur zurück, um so dem Entzug der Lehrerlaubnis durch die Nazis zuvorzukommen (182). Das Lehrhaus in Frankfurt wurde wiedereröffnet und wurde später zur »Mittelstelle für Jüdische Erwachsenenbildung«, was ein Zeichen gegen den Antisemitismus der Nationalsozialisten setzte. 1935 erhielt Buber zeitweise Redeverbot (206) und formulierte in seiner Schrift »Königtum Gottes« den geistigen Widerstand, dass einzig allein Gott die Herrschaft ausübe (206).

1938 verließen Paula und Martin Buber Deutschland und fingen in Jerusalem neu an, wo Buber dann eine Professur für Gesellschaftsphilosophie an der Hebräischen Universität übernahm (218). In seiner Antrittsvorlesung verstand Buber die Soziologie als grenzüberschreitendes und interdisziplinäres Fach, die Soziologie sollte »verstehen, um zu verändern« (227). Bubers Ideen zum utopischen Messianismus sind in Pfade in Utopia niedergeschrieben (1950 dt.) und auch in dem Buch Der Glaube der Propheten (1952 dt.). Unter Führung Ben Gurions setzte sich jedoch der politische Zionismus Herzls mit der Staatsgründung Israels am 14.5.1948 durch. Dieser von Buber kritisierte Zionismus war für ihn nichts Anderes als die »rohe Form des Nationalismus« (262). Jüngst erschienene Texte wie Briefe an einen arabischen Freund zeigen Bubers Bemühen um einen realen Dialog und um eine israelisch-arabische Aussöhnung (267). Besonders misstrauisch verhielt sich Buber zum offiziellen Zionismus, den er als »politischen Messianismus« und Irrweg bezeichnete. Gespräche mit seinem philosophischen Antipoden, Martin Heidegger, wurden von Buber letztlich als »Vergegnungen« charakterisiert, weil Heidegger sich nicht wirklich von seiner Verflechtung in den NS-Staat als Freiburger Rektor distanzierte.