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Ausgabe:

September/2023

Spalte:

875-878

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Gigl, Maximilian

Titel/Untertitel:

Sakralbauten. Bedeutung und Funktion in säkularer Gesellschaft. = Kirche in Zeiten der Veränderung, 3.

Verlag:

Freiburg i. Br. u. a.: Verlag Herder 2020. 602 S. Kart. EUR 54,00. ISBN 9783451388231.

Rezensent:

Sonja Keller

Die Dissertation des katholischen Theologen Maximilian Gigl unter dem Titel »Sakralbauten. Bedeutung und Funktion säkularer Gesellschaft« erweitert den theologischen Diskurs über die Bedeutung und Funktion von Kirchengebäuden bzw. Sakralbauten um eine ambitionierte und überaus materialreiche Studie. Dass es sich dabei um eine katholisch-theologische Abhandlung handelt, deutet bereits der Begriff »Sakralbauten« an und artikuliert sich in der vorausgesetzten Sakralität sakraler Bauten. G. weist exzellente Kenntnisse des katholischen Diskurses aus und greift ganz selbstverständlich interdisziplinäre, architekturtheoretische, evangelisch-theologische und interreligiöse Reflexionsperspektiven und Wissensbestände zur Bearbeitung seiner mehrdimensionalen Fragestellung auf. Ausgangspunkt der Studie ist die markante öffentliche Präsenz von Sakralbauten in der säkularen Gesellschaft. Welche Bedeutung und religiösen Gehalte werden mit Kirchengebäuden angesichts dieser sich wandelnden religiösen Situation verbunden?

Den materialen und diskursiven Bezugspunkt der Untersuchung stellen katholische Kirchbauten in Deutschland dar. Zur Bearbeitung dieser Fragestellung nimmt es G. mit gleich drei komplexen Diskursebenen auf: Dazu gehören die systematisch-theologische Auseinandersetzung mit der religiösen Bedeutung von Sakralbauten, eine empirisch-religionssoziologische, die sich mit den religiösen Bedeutungszuschreibungen Einzelner beschäftigt, sowie eine religionsphilosophisch-theologische, die nach der Bedeutung von Sakralbauten für Glaube und Kirche fragt. Damit deutet sich im forschungspragmatischen Aufriss der Untersuchung ein Wagnis an, sofern sehr heterogene Forschungsdiskurse und Wissensbestände aufeinander bezogen werden. Durch die Untersuchung zieht sich insgesamt ein versierter und reflektierter Zugang zu dem vielfältigen Material, wobei der Mut zur Konzentration an verschiedenen Stellen fehlt.

Als außerordentlich kenntnisreich kann die Vielzahl präziser begriffssprachlicher Klärungen beschrieben werden, die im ersten Kapitel (1 Grundbegriffe der Untersuchung, 23–69) formuliert werden, wozu die Grundbegriffe »Sakralität«, »Öffentlichkeit«, »Raum« sowie »Materialität« und »Bau« gehören. Bei der Auswahl der referierten Forschungsliteratur handelt es sich um für den Diskurs vielfach geradezu klassische Perspektiven, wobei die Auswahl derselben nicht immer einsichtig ist und einige Passagen eher einem kurzen Handbucheintrag als der prägnanten Darstellung einer diskursiv relevanten Position ähneln. G. stellt im anschließenden Kapitel (2 Theologie der Sakralbauten, 70–172) Theologien des Sakralbaus vor, sofern er neben katholisch-theologischen Positionen auch Grundlinien des protestantischen und orthodoxen Verständnisses von Kirchengebäuden skizziert. Zumal der evangelische und orthodoxe Kirchenbau im weiteren Verlauf der Studie kaum eine Rolle spielen, bleibt der Ertrag dieser langen Abschnitte für die Untersuchung insgesamt überschaubar. Warum G. im dritten Kapitel (Religion in der säkularen Gesellschaft, 173–246) die einschlägigen religionstheoretischen und -soziologischen Großtheorien von Thomas Luckmann, Niklas Luhmann, José Casanova, Detlev Pollack, Charles Taylor und Hans Joas referiert, um die Vielschichtigkeit des Verhältnisses zu Religion in der säkularen Gesellschaft zu konstatieren und um mit Charles Glock einen Religionsbegriff zu formulieren, der die »institutionellen, rituellen, erfahrungsbezogenen, kognitiven und ethischen« (234) Aspekte des Transzendenzbezugs umfasst, ist nur bedingt einsichtig. Die abgeleiteten Hinweise zur gegenwärtigen Bedeutung von Sakralbauten sind anregend, doch auch überaus spekulativ. Für die Studie insgesamt und insbesondere den empirischen Teil höchst relevant ist die Skizze verschiedener Ansätze und Modelle zur Bedeutung von Sakralbauten in der Gegenwart im vierten Kapitel (4 Ansätze und Modelle zu den Bedeutungen von Sakralbauten, 248–271), wobei G. zu dem Schluss kommt, dass für die »einbezogenen Ansatzgruppen, die (religions-)philosophisch, soziologisch, anthropologisch (und teils auch theologisch) ausgerichtet sind, […] die Sakralität von Sakralbauten nicht immer einen unmittelbaren Ausgangspunkt« (271) darstellen.

Für die Konzeptualisierungen der Bedeutung von Kirchengebäuden werden stattdessen vielfach die Symbolqualität, ihre Orientierungsfunktion oder ihr Erinnerungswert angeführt. Ein Befund, der auch dahingehend gelesen werden kann, dass die sakrale Anmutung der Gebäude in den Augen der Betrachter tatsächlich nur eine von verschiedenen Bedeutungsebenen und keineswegs das zentrale Motiv der Wahrnehmung der Kirchengebäude repräsentiert. Der im fünften Kapitel (5 Systematischer Überblick über bisherige empirische Befunde, 272–341) dargestellte Überblick über bestehende empirische Untersuchungen, die sich mit der religiösen (!) Bedeutung von Kirchengebäuden in der Gegenwart beschäftigen (277), leistet einen verdienstvollen Überblick, wobei die Studien entlang zentraler Dimensionen des mit Glock definierten Religiösen skizziert werden. Die ausgewerteten Primärstudien variieren stark hinsichtlich der Fragestellung, Aktualität und damit Relevanz, so dass aufgrund der Heterogenität der Studien – zum Material gehören auch die wenigen Untersuchungen über Synagogen und Moscheen – letztlich »nur« höchst vage Tendenzen beschrieben werden können (340).

Es wird – abgesehen von der Beschreibung von empirischen Forschungsdesideraten – nicht ganz klar, welchen Ertrag die Skizze dieser Studien für die Bearbeitung der eigenen Fragestellung tatsächlich leistet, da die »gegenwärtigen Verhältnisse«, auf die sich die Studien beziehen, vielfach schon über zehn Jahre zurückliegen und diese damit angesichts der in der Zwischenzeit markant geschwundenen Verankerung der Kirchen und der religiösen Praktiken (z. B. Kasualien) in der säkularen Gesellschaft nur noch bedingt aussagekräftig sind. Das empirische Zentrum der Arbeit stellen die im sechsten Kapitel vorgestellten vier Fallstudien dar (6 Fallstudien zu religiösen Bedeutungen von Sakralbauten, 342–468), wobei »Zusammenhänge und Verbindungslinien z. B. zwischen den religiösen und nichtreligiösen Zuschreibungen« (342) gesucht werden. Im Rahmen eines qualitativ-inhaltsanalytischen Verfahrens werden vergleichbare Konfliktfälle angesichts der Veränderung von jüngeren katholischen Kirchengebäuden (Umbau, Profanierung, Abriss) analysiert, die eine öffentliche Diskussion hervorgerufen haben (346). G. interessiert sich dabei insbesondere dafür, welche Rolle die katholisch-theologisch attestierte Sakralität der Kirchengebäude in diesen Debatten spielen. Beim Material handelt es sich um öffentlich geäußerte Meinungen in Online-Kommentaren zu Zeitungsartikeln, um Leserbriefe, Online-Gästebucheinträge oder Kommentare zu Youtube-Videos, wobei sich diese Kommunikation auf die Veränderung von Kirchengebäuden bezieht (355). G. interessiert sich dabei weniger für Diskurse und Argumentationslinien als für die Bedeutungen, die den Gebäuden zugeschrieben werden. Anhand von 22 Kategorien werden diese Bedeutungszuschreibungen kleinteilig aufgefächert, die aus den eruierten Meinungen abgeleitet wurden.

Die angewandte Methodik lässt aufgrund der wenigen Fälle keine verallgemeinerbaren Ergebnisse, sondern lediglich die Beschreibung von Tendenzen hinsichtlich der Quantität der genannten Kategoriengruppen zu. Häufig formuliert werden Ansichten, die auf die religiöse Praxis, die emotional-affektive Verbundenheit, die institutionelle Bedeutung, die autobiographische Bedeutung, die gesellschaftlich-öffentliche Bedeutung und ästhetische Beurteilungen rekurrieren. Zu den zentralen empirischen Befunden gehört die Feststellung eines insgesamt eher geringen öffentlichen Interesses an der Veränderung von Kirchengebäuden (455 f.) und der Hinweis auf die vielfältigen Berührungspunkte zwischen religiösen und nichtreligiösen Bedeutungszuschreibungen. Eine anregende und prägnante Verdichtung und Interpretation der Ergebnisse, die auch relevante Forschungsdesiderate benennt, findet sich im siebten Kapitel (7 Sakralbauten in der säkularen Gesellschaft – diskursive Auswertung und Ergebnisse, 469–492).

Im abschließenden achten Kapitel (8 Häuser für den »obdachlosen Gott« – vier Bausteine zu einer Theologie des Sakralbaus in der säkularen Gesellschaft) formuliert G. eine originelle Theologie des Sakralbaus in der säkularen Gesellschaft, wobei er ein großes Zutrauen in die religiös-affektive Wirkmacht von Kirchengebäuden und ihre religiöse Vermittlungsfunktion erkennen lässt, was teilweise etwas in Spannung zu den referierten und selbst ermittelten empirischen Befunden steht.