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Ausgabe:

Juni/2023

Spalte:

559-563

Kategorie:

Bibelwissenschaft

Autor/Hrsg.:

Provan, Iain

Titel/Untertitel:

The Reformation and the Right Reading of Scripture.

Verlag:

Waco: Baylor University Press 2017. 730 S. Geb. US$ 49,95. ISBN 9781481306089.

Rezensent:

Karl-Wilhelm Niebuhr

Neben dem angegebenen Titel in dieser Rezension besprochen:

Chester, Stephen J.: Reading Paul with the Reformers. Reconciling Old and New Perspectives. Grand Rapids u. a.: Wm. B Eerdmans 2017. 500 S. Geb. US$ 60,00. ISBN 9780802848369.


Im Jahr 2017, dem Gedenkjahr der Reformation, sind zwei umfangreiche Monografien von englischsprachigen Bibelwissenschaftlern erschienen, einem Neu- und einem Alttestamentler, die sich vertieft mit Grundzügen reformatorischer Schriftauslegung befassen und dabei sowohl deren theologiegeschichtliche Kontexte als auch die Methoden und Forschungsergebnisse der aktuellen Exegese in den Blick nehmen. Beide Bücher sollen hier gemeinsam vorgestellt werden, weil sie wichtige Fragen einer gegenwartsbezogenen Hermeneutik berühren, auch wenn sie jeweils eigene Akzente setzen (die verspätete Anzeige hat der Rezensent zu verantworten).

Stephen J. Chester, seit 2019 Lord and Lady Coggan Professor of New Testament am Wycliff College in Toronto, erwarb seinen PhD-Grad mit einer Arbeit zu Paulus und der korinthischen Gemeinde (Conversion at Corinth, London 2003) in Glasgow bei John Barclay, der auch ein empfehlendes Vorwort beigesteuert hat. Sein Buch hat eine doppelte Intention. Zum einen möchte er eine der Grundüberzeugungen der »New Perspective on Paul« in Frage stellen, dass nämlich die Reformatoren mit ihrer Konzentration auf die Rechtfertigungslehre und deren Indienstnahme für ihre anti-römische Polemik Paulus grundlegend missverstanden hätten. Darüber hinaus möchte er die Paulus-Auslegung der Reformatoren in ein kritisches Gespräch mit gegenwärtigen Tendenzen der Paulusforschung bringen und die paulinische Theologie für eine theologische Auslegung des Neuen Testament heute fruchtbar machen. Sein Anliegen ist also zugleich ein historisches und ein theologisches, und zwar sowohl im Blick auf Paulus selbst als auch im Blick auf das 16. Jh. und die Gegenwart.

Am Anfang steht ein hermeneutischer Teil, der exemplarisch die gegensätzlichen Interpretationsschlüssel (trotz mancher grundlegenden Gemeinsamkeiten) der Pauluslektüren von Erasmus und Luther erhebt und daraus Konsequenzen für die gegenwärtige theologische Paulusinterpretation ableitet (I Hermeneutics: The Sixteenth Century and the Twenty-First Century, 11–59). Die nächsten beiden Hauptteile eruieren zunächst die gegenüber spätantiken und mittelalterlichen Auslegungstraditionen neuartigen exegetischen Grundüberzeugungen, die von allen Reformatoren geteilt werden (II Shared Convictions: The Reformers’ New Pauline Exegetical Grammar, 61–171), und anschließend die je eigenen Entfaltungen der paulinischen Rechtfertigungslehre bei Luther, Melanchthon und Calvin (III Individual Perspectives: Luther, Melanchthon, and Calvin on Righteousness in Christ, 173–318). Der letzte, auf die aktuelle Diskussion bezogene Teil würdigt kritisch die Grundlinien der »New Perspective on Paul« und setzt sich dabei explizit mit einigen ihrer Hauptvertreter auseinander (IV Contemporary Implications: The Reformers and the New Perspective on Paul, 319–422). Kurzbiogramme der wichtigsten mittelalterlichen und reformatorischen Paulusausleger, Literaturverzeichnis und gründlich erstellte Register beschließen den Band.

Es ist unmöglich, den Argumentationsgang der Monografie hier nachzuzeichnen. Erwähnt werden soll aber wenigstens einer der Kerngedanken aus dem hermeneutischen Teil zum Umgang mit divergierenden Interpretationen der Schrift, der die ganze Untersuchung zu steuern scheint. Während die historisch ausgerichtete Exegese seit der Zeit der Aufklärung (und dementsprechend auch die gegenwärtige Paulusforschung) zum Ziel habe, die Theologie des Paulus (oder zumindest dessen zentrale theologische Gedanken) herauszuarbeiten, wollten die Reformatoren nicht die Theologie eines neutestamentlichen Autors rekonstruieren, sondern verstehen, was der Heilige Geist durch die paulinischen Texte der Kirche ihrer Zeit zu sagen hat (33). Eine theologisch engagierte Exegese, die der reformatorischen Schriftauslegung gleichermaßen gerecht werden will wie den historischen Erkenntnissen der neutestamentlichen Forschung, müsse demnach heute einer »mixed hermeneutic« folgen: »The goal of hearing the Spirit speak through Paul in his texts is served by applying the triple criteria of historical plausibility, canonical consistency, and contemporary theological fruitfulness.« (48)

Im Blick auf die Grundüberzeugungen der Paulusinterpretation bei den Reformatoren arbeitet der Vf. zunächst die Prägung der mittelalterlichen Paulus-Exegese durch Augustin heraus, die auch auf Luther einwirkte, betont aber zugleich den radikalen Neuansatz im reformatorischen Verständnis der paulinischen Rechtfertigungsaussagen, der sich in ihrem Verständnis von Sünde, Gesetz und Gewissen niedergeschlagen hat. »Their language of Pauline theology is a new language, radically different from the language of Pauline theology spoken by their predecessors.« (65) Mit ihrer Neuinterpretation von Sünde, Gesetz und Gewissen, die im Urteil über die Rettungslosigkeit des Menschen ohne Christus gipfelt, haben die Reformatoren Augustins paulinische Grammatik verlassen (137). Dasselbe gilt für Schlüsselbegriffe zur Erfassung des Christusgeschehens (Gnade, Glaube, Rechtfertigung). Freilich zeigen sich bei näherem Hinsehen erhebliche Unterschiede in der Entfaltung dieser allen Reformatoren gemeinsamen neuen Grammatik der Paulusinterpretation, die der Vf. in umfangreichen Ana­lysen zu Luther, Melanchthon und Calvin herausarbeitet. Dieser Teil schreitet ein weites Feld ab, das wenigstens für den Rezensenten Neuland darstellt und reichen Ertrag bringt. Damit ist der Acker für eine fruchtbare Kooperation von Exegeten, Reformationshistorikern und Theologiegeschichtlern bereitet. Die zu erwartende Ernte ist groß. Wo sind die Arbeiter?

Auch der letzte Hauptteil kann nur zusammenfassend charakterisiert, nicht in seinem Argumentationsgang rekapituliert werden. Er ist geprägt von einer weitgehend kritischen Auseinandersetzung mit Hauptvertretern der »New Perspective on Paul« (R. Hays, D. Campbell, N. T. Wright u. a.) und mündet in eine exemplarische Auslegung von Römer 4, die sich um ein vermittelndes Verständnis zwischen den Reformatoren und der gegenwärtigen Paulusforschung bemüht.

Das Buch des Alttestamentlers Iain Provan, Marshall Sheppard Professor of Biblical Studies am Regent College in Vancouver, ist noch breiter angelegt. Der Autor wurde in Cambridge (UK) mit einer Arbeit zu den Königebüchern promoviert (Hezekiah and the Books of Kings, Berlin 1986) und hat seither mehrere Bücher und Kommentare zu verschiedenen alttestamentlichen Schriften und Themen vorgelegt. Die Untersuchung setzt ein mit einer grundsätzlichen Besinnung auf fundamentale Einsichten reformatorischer Schriftauslegung und deren Rezeption in der gegenwärtigen Bibelwissenschaft und entwickelt aus einer kritischen Beurteilung aktueller Tendenzen biblischer Hermeneutik seinen eigenen Ansatz (The Reformation, Authority, and Biblical Interpretation, 6–24). In Abgrenzung von vier kritisch zu beurteilenden Wegen gegenwärtiger Schriftauslegung (Historical Criticism, Postmodern Readings, The Chicago Constituency, Counter-Reforma-tional Protestantism) beschreibt er seine Position so:

»My own conviction is that it is possible in our Bible reading to be appreciative of, and to stand properly in continuity with, much of the pre-Reformation heritage, while at the same time by no means abandoning the attempt to read both tradition and Scripture in accordance with the principles of Reformation hermeneutics. It is possible at the same time to be appreciative of both modern and postmodern contributions to biblical hermeneutics, some aspects of which Reformation insights themselves can be understood as generating.« (20)

Im Folgenden begründet und entfaltet der Vf. diesen Ansatz in drei umfangreichen Hauptteilen, die sich mit der Geschichte der biblischen Exegese von den Anfängen der Kanonbildung über die Alte Kirche bis zum Mittelalter (I Before There Were Protestants: Long-Standing Questions, 25–279), den Grundeinsichten reformatorischer Schriftauslegung und ihrem Einfluss auf die neuzeitliche Exegesegeschichte (II Now There Are Protestants: Scripture in a Changing World, 281–451) und den Methoden gegenwärtiger biblischer Exegese befassen (III Still Protesting: Scripture in the [Post]Modern World, 453–639). Es folgt noch ein kurzer Anhang zur Textgeschichte der Bibel, bevor Bibliographie und Register auch diesen Band beschließen.

Wieder können nur ein paar Schlaglichter auf den Inhalt und die Argumentation des Werkes geworfen werden. In Bezug auf das Verhältnis von Schrift und Tradition möchte der Vf. den reformatorischen Grundsatz, dass die Bibel der Kirche vorangeht und als Maßstab für die Lehre der Kirche fungiert, schon aus den neutestamentlichen Schriften ableiten (28). Im auslegungsgeschichtlichen Teil zu Antike und Mittelalter betont er sehr stark den Gegensatz zwischen den hebräischen Schriften Israels und dem platonisierenden hellenistischen Judentum einschließlich der Septuaginta und meint schon im Neuen Testament und dem ihm zeitgenössischen Frühjudentum eine klare Tendenz zur Bevorzugung der später auf den masoretischen Kanon begrenzten Schriften des Alten Testaments feststellen zu können. Daher sei die von den Reformatoren vertretene Abwertung der Apokryphen und die Bevorzugung des hebräischen Wortlauts der alttestamentlichen Schriften auch heute hermeneutisch maßgeblich (79; vgl. auch 227–251). Gegenüber der allegorischen Schriftauslegung, die im antiken Christentum in Anknüpfung an das hellenistische Judentum (repräsentiert durch Philon) besonders durch Origenes entfaltet worden ist, stellt er den literalen Schriftsinn (nicht den historischen im modernen Verständnis!) als maßgeblich heraus, der sich schon von Paulus her biblisch fundieren lasse und durch die Reformatoren wieder ins Zentrum der Schriftauslegung gerückt worden sei (105). Der literale Schriftsinn der Bibel sei nach den neutestamentlichen Zeugen (anders als bei Philon!) bestimmt durch die beide Testamente der christlichen Bibel umgreifende Bundes- und Heilsgeschichte Gottes mit seinem Volk. Dieser hermeneutische Zugang zum Alten Testament präge auch die Exegese der Kirchenväter (abgesehen von Origenes, der platonisierende Allegorese in den Bahnen Philons betrieben habe).

Im zweiten Hauptteil, der die reformatorische und die neuzeitliche Auslegungsgeschichte behandelt, geht der Vf. von den klassischen Grundsätzen des sola scriptura, der claritas scripturae und der Inspiration der Schrift aus, die ihre Autorität begründen, und beschreibt dann die folgenden Epochen der Bibelexegese vom 16. bis zum 19. Jh. als eine lange Geschichte des Niedergangs (»eclipse«) der Schriftauslegung. Beigetragen dazu hätten die Herausbildung der Naturwissenschaften, die Entstehung einer modernen Informationsgesellschaft und der Rationalismus der Aufklärung, vor allem aber die Entstehung einer säkularen Geschichtswissenschaft. Diesen geistesgeschichtlichen Entwicklungen der Neuzeit haben sich die Bibelwissenschaften heute zu stellen (415–451; hier noch einmal eine Auseinandersetzung mit den Grundsätzen der Chicago Constituency, 425–435).

Der dritte Hauptteil erinnert ein wenig an ein aus den Nähten geplatztes exegetisches Proseminar, wenn hier nacheinander die aktuellen Methoden der Bibelexegese eingeführt und kritisch gewürdigt werden, von Quellen- und Formkritik über Redaktionsgeschichte und Rhetorical Criticism, Strukturalismus und Poststrukturalismus, Narrative Criticism, sozialwissenschaftlicher und feministischer Exegese bis hin zum Canonical Approach, jeweils forschungsgeschichtlich eingeordnet und mit Beispielen aus dem Alten und dem Neuen Testament unterlegt. Damit soll aber das Anliegen des Vf.s nicht geringgeschätzt werden. Er benennt es gleich eingangs dieses Teils so: »The correct response to the eclipse of the biblical narrative is neither fight nor flight with respect to the modern (and postmodern) world but faithful engagement with it – which requires an earnest recommitment to high-quality Christian education.« (453) In diesem Sinne versteht er auch seinen Einsatz für ein »reformed hermeneutical approach to the Bible« (454), den er immer wieder mit leidenschaftlichen Appellen für die biblischen Originalsprachen als Basis jeder ernst zu nehmenden Exegese verbindet. Durchaus passend dazu endet das Buch mit einer Reminiszenz an das Augustinerkloster in Erfurt, wo Luther im Jahr 1507 sein Bibelstudium aufnahm und der Vf. im Jahr 2015 während eines Sabbatical mit den Studien für das vorliegende Werk begann.

Die beiden hier vorgestellten Bücher belegen, dass die Herausforderungen, vor denen jede wissenschaftliche Schriftauslegung im akademischen und gesellschaftlichen Kontext des 21. Jh.s steht, in der gegenwärtigen englischsprachigen Bibelwissenschaft engagiert aufgegriffen und mit historisch tiefschürfenden und hermeneutisch hoch reflektierten Untersuchungen in Angriff genommen werden. Beide Autoren plädieren für eine theologisch engagierte, gegenwartsbezogene Bibelwissenschaft, die die Kernanliegen und die hermeneutisch-theologischen Weichenstellungen der Reformation produktiv aufnimmt, ohne in die Repristination von Problemstellungen und Lösungsmodellen des 16. Jh.s zurückzufallen. Beide treten dafür ein, gegenüber fundamentalistischen Engführungen das Potential historischer Differenzierung, das die historisch-kritische Exegese in die Geschichte der Bibelexegese eingebracht hat, produktiv zu nutzen, ohne sich durch deren eigene Engführungen den theologischen und gesellschaftlichen Horizont begrenzen zu lassen. Beide weisen der genauen Analyse der Auslegungsgeschichte der Bibel hohes Gewicht und kreativen Wert für die gegenwärtige Bibelwissenschaft zu, mit besonderem Interesse an der Schriftauslegung der Reformatoren – nicht zufällig erschienen beide Bücher im Jahr 2017 –, aber zugleich unter Berücksichtigung der exegetischen Traditionen, in denen diese standen, angefangen bei dem Schriftgebrauch der neutestamentlichen Autoren über die spätantik-christlichen Kirchenväter und die Theologen des Mittelalters, und in Würdigung der Nachwirkungen der neuen Impulse, die die Reformatoren in die Geschichte der Bibelauslegung einbrachten und die auch heute ernst genommen zu werden verdienen.