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Ausgabe:

Mai/2023

Spalte:

487-489

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Grosse, Sven

Titel/Untertitel:

Theologiegeschichte als Dogmatik. Eine Dogmatik aus theologiegeschichtlichen Aufsätzen. Gesammelte Aufsätze – Band 1.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2022. 360 S. Kart. EUR 58,00. ISBN 9783374072033.

Rezensent:

Harald Seubert

Neben dem angegebenen Titel in dieser Rezension besprochen:

Grosse, Sven: Brennpunkte der Theologiegeschichte. Gesammelte Aufsätze – Band 2. Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2022. 336 S. Kart. EUR 58,00. ISBN 9783374072057.


Sven Grosse, Ordentlicher Professor an der Staatsunabhängigen Theologischen Hochschule Basel, legt zum Anlass seines 60. Geburtstags eine zweibändige Sammlung eigener Aufsätze vor. Wie bereits der Titel des ersten Bandes signalisiert, verfolgt G. niemals nur ein kirchen- oder theologiegeschichtliches Interesse. Vielmehr liegt ihm an der systematischen Verzahnung mit dogmatisch-fundamentaltheologischen Fragen. Der Titel des ersten Bandes wird vollständig eingelöst. So wird der Band mit »Prolegomena« eröffnet, die sich dem biblischen Fundament und dem Magnus Consensus des ersten Jahrtausends der europäischen Christenheit anvertrauen. Hier findet sich Grundlegendes aus verschiedenen Epochen. Ein Beitrag zu Tertullians Verständnis der Apologetik als Integration vor- und außerchristlicher Wirklichkeiten und als Kommunikation. Charakteristisch für G.s Aufsatzwerk ist, dass dieser Beitrag in einem Kontext von Abhandlungen über Luther, Karlstadt und Sebastian Franck steht.

Besonders wichtig ist die Besinnung auf Theologie als Wissenschaft, die die Universitas Litterarum anleiten soll. G. geht, im gegenwärtigen Umfeld gewagt, von Theologie und Philosophie als zusammenhängender Leitwissenschaft der Universität aus. Die Hebräische Bibel als Grundlage jeder christlichen Theologie und das gesamtbiblische Zeugnis bringt er gegen alte und neue Gnostiker in Stellung.

Darauf aufbauend folgt eine Reihe von Aufsätzen, die exemplarisch die Loci der Dogmatik »in nuce« und im Gespräch mit der Tradition beleuchten. Zunächst widmet sich G. der Gotteslehre im Gespräch mit Melanchthon, einem, neben Luther, für die evangelisch reformatorisch orientierte Theologie zentralen Theologen. Es folgt ein tiefschürfender Essay über die Gotteslehre in der antiken Linie zwischen Tertullian und Laktanz. Zwischen Antike und Christentum bestand nicht einfach ein Hiatus irrationalis. Es gibt vielfache Brüche und Entsprechungen. – Erst recht gilt dies für die neuzeitlich geprägte Metaphysik, wenn sich der Gang der Aufsätze der Schöpfungslehre zuwendet, Verdichtung der Habilitationsschrift zu Paul Gerhardts Lieder-Texten und der Vorhersehungsmacht Gottes.

Gottes Erlösungsratschluss wird sodann in einer Studie über Luther und Calvin zum unfreien Willen und der Prädestination freigelegt. Den philosophischen Diskussionen von Kant bis in die Gegenwart widmet G. bedauerlicherweise nicht genügend Aufmerksamkeit. Es schließt sich ein Abschnitt zur Christologie unter dem Titel »unglaubliche Demut« an. Die lutherische Theologia crucis steht nicht im Fokus, vielmehr orientiert sich G. an Aurelius Augustinus: der »Urkenose« des Sohnes, die er in einem weiten Blickkreis bis zu Barth und Balthasar instrumentiert. Das spezifische Karat dieser Beiträge liegt vor allem in der Kraft, alte Schriften textnah zu interpretieren und damit zu vergegenwärtigen.

Das nach Hiob, aber bereits Platon, gar nicht legitime, doch unausrottbare Thema der Theodizee wird aufgenommen und doppelt gebrochen: historisch im Blick auf Melanchthon und die Sprechakttheorie. Bei Melanchthon ist es das Bittgebet, das zugleich in syllogistische Form gebracht werden kann, in dem die Theodizee-Frage situiert ist. Die teilweise Metaphysikfeindschaft des Neuprotestantismus kann sich nur sehr bedingt auf die Reformation stützen.

Was aber ist die Kirche? G. schließt hier an Hans Urs von Balthasar und Schelling an, die Typologie einer petrinischen (lateinischen), paulinischen (vom Wort her kommenden) und einer johanneischen Geistkirche. Im Hintergrund steht Joachim von Fiore mit seiner Lehre von den drei Reichen, dem Reich des Vaters, des Sohnes und des Geistes.

Die Eschatologie beendet mit zwei Aufsätzen diesen eindrucksvollen Band. Einerseits wendet sich G. Dantes Inferno zu, das Höllentor als Eingang zur Liebe Gottes, andrerseits wird die Identität des Richters und Erbarmers mit Bernhard von Clairvaux und Bonaventura durchleuchtet. Eine Dogmatik in Thesen schließt den Band ab und überführt in die Disputationen. Hier spricht immer das biblische Zeugnis und die Liturgie mit (Leid- und Hymnenkultur tragen es in Gottesdienst und Kirche). Darin liegt der Ansatz einer Disputationsform, die die mittelalterliche, hoch reflektierte Disputationskultur aufnehmen und den anderen zumindest so verstehen wollte, wie er sich selbst verstand!

Der zweite Band von G.s Gesammelten Aufsätzen ist auf historische Brennpunkte, »Geschichtszeichen« mit Kant, orientiert. Auch sie werden nicht dem gängigen Schema der Zeitsukzession folgend abgearbeitet, sondern eröffnen bevorzugt Vor-, Neben- und Seitenblicke. Ergebnis der Basler Lehrtätigkeit ist ein Aufsatz, der die Römerbriefauslegungen zwischen Origenes, Thomas und Luther kartographiert. Luther als Mystiker wird nicht allzu oft thematisiert: Höchst aufschlussreich ist daher G.s Aufsatz über Wendepunkte der Mystik zwischen Bernhard von Clairvaux – Seuse, und eben Luther. Dessen letzte Aufzeichnung betonte noch einmal: »Wir sind Bettler, das ist wahr!« Mystik als complexio contrarium bedeutet vor diesem Hintergrund, wie der Bettler reich werden kann in Christus.

Dass das utile – auch im Rahmen des Bildungsprogramms – ein Kriterium von Theologie werden kann, wird vor allem an Melanchthon deutlich gemacht. Die Physikotheologie weist vor dem Hintergrund moderner Naturwissenschaften in Gründe und Abgründe neuzeitlichen Naturverständnisses. Die Krise des Naturrechts hat damit zu tun, und der Konstruktivismus, der Mainstream, der indes heute auch bezweifelt wird. G. hegt die Hoffnung, dass wieder verbunden werden könne, was einmal bei Johann Albert Fabricius vereint gewesen sei, »die naturwissenschaftliche Abhandlung, verbunden mit biblischen Reflexionen und Poesie, wo in der Schönheit menschlicher Sprache sich die Schönheit der herrlichen Ordnung der Natur widerspiegelt« (91). Man vermisst allerdings präzisere erkenntnistheoretische Überlegungen, wie dies geschehen könnte und ob es dazu Ansätze gibt.

G.s Aufsätze und Abhandlungen sind nicht nur akademische Übungen, sie sind auch in fruchtbarer Weise »Provokation«. Sie fordern heraus und evozieren Urteile, die nicht mit gängigen Vorurteilen identisch sind. Besonders prägnant tut dies der pointierte, vielleicht ein wenig freche Aufsatz über die Frage, ob Schleiermacher in den Kanon christlicher Theologie gehöre. Die Antwort ist ein intelligentes Nein, dem man widersprechen mag – doch dann muss man Gründe haben, wie für alles Behauptete.

Mit Zeitgeschichte befasst sich G. in diesen Aufsätzen nicht allzu häufig – wenn er es tut, hört man hin: Ein Aufsatz gilt Karl Barths Positionierung gegenüber Troeltsch seit Beginn des Ersten Weltkriegs. Barth sah seinerzeit die kulturprotestantische Linie zerbrechen und zerschossen werden in den Schlachtfeldern von Verdun.

Die Neuzeit und das antike Christentum stehen nicht wie Membra disiecta nebeneinander. Vielmehr verflechten sie sich vielfach und durchdringen einander. Dies zeigt G. in seiner sehr schönen, weil tiefen Abhandlung über »Die Neuzeit als Spiegelbild des antiken Christentums«. Beides ist verflochten wie in einem enharmonischen Wechsel, nicht Gegenbilder, nicht Fremdkörper, die nichts miteinander zu tun hätten.

Das belegt auch der kluge, die chronologische Aufeinanderfolge aufbrechende Beitrag über »Christentum und Geschichte«. Es zeigt damit das Spezifikum, über das man sich verwundern kann, dass das protestantische Christentum eine eigene Traditionsbildung ansetzt. Aus ihr ist historistischer Relativismus hervorgegangen. Doch keineswegs nur dies: Auch das Ewige in der Zeit aus der Offenbarung. G. ist also weit mehr gelungen, als eine der vielen mehr oder minder gelehrten »Buchbindersynthesen«, wenn auch mit vereinzelten blinden Flecken hier und dort.