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Ausgabe: | April/2023 |
Spalte: | 369-371 |
Kategorie: | Philosophie, Religionsphilosophie |
Autor/Hrsg.: | Bajohr, Hannes, u. Sebastian Edinger [Hgg.] |
Titel/Untertitel: | Negative Anthropologie. Ideengeschichte und Systematik einer unausgeschöpften Denkfigur. |
Verlag: | Berlin u. a.: De Gruyter 2021. VI, 304 S. = Philosophische Anthropologie, 12. Geb. EUR 109,95. ISBN 9783110716870. |
Rezensent: | Petr Gallus |
Die Herausgeber dieses Bandes beschäftigten sich in ihren jeweiligen Projekten beide mit der negativen Anthropologie: einerseits mit der negativ-anthropologischen Grundfigur der Nicht-Definierbarkeit des Menschen als einem ideengeschichtlichen Phänomen, das mit der Philosophischen Anthropologie und namentlich mit H. Plessner, M. Scheler und U. Sonnemann verbunden ist, andererseits mit der Möglichkeit, diese Figur als systematischen Ansatz anzuwenden und auszuarbeiten. Der Band ist daher das Ergebnis dieses Zusammenkommens von »negativer« Anthropologie als philosophischer Figur und »Negativer« Anthropologie als philosophischem Programm. Nebeneinander stehen hier Beiträge, die sich mit wichtigen Konzepten der letzten 200 Jahre beschäftigen, mit Beiträgen, die auch systematisch zu arbeiten versuchen.
Die Publikation wird in vier Teile geteilt: Der erste beinhaltet zwei programmatische Beiträge der Herausgeber, und diese sind deshalb methodisch und systematisch die wichtigsten. Deshalb werde ich mich in Folgendem vor allem diesen beiden Texten widmen. Der zweite Teil thematisiert in drei Beiträgen zu G. W. F. Hegel im Vergleich mit H. Plessner (S. Schüz), L. Feuerbach (Ch. Loos) und F. Nietzsche (S. Fladung) die möglichen Vorläufer der negativen Anthropologie. Der dritte Teil untersucht wiederum in drei Beiträgen einige wichtige Konzepte der philosophischen Anthropologie, nämlich G. Anders (Ch. Dries), M. Horkheimer (N. Coomann) und U. Sonnemann im Vergleich mit H. Plessner (V. Schürmann). Im vierten Teil kommen drei »unorthodoxe« Beiträge zum Thema: H. Wendler fasst die negative Anthropologie als ein anthropologisches Transformationsmodell auf, T. Heinze befasst sich mit U. Sonnemann und R. Buch mit H. Blumenberg. Schon aus dieser Übersicht ist ersichtlich, dass manche Konzepte mehrmals von unterschiedlichen Seiten thematisiert werden, sodass sich die Beiträge oft faktisch überlappen, wobei Plessner als der eigentliche Autor der negativen Figur praktisch ständig präsent ist. Die Herausgeber sind sich dessen bewusst, dass die Beiträge »methodisch und begrifflich zum Teil sehr verschieden« sind und sich sogar widersprechen mögen (3).
H. Bajohr öffnet den Band mit seinem programmatischen Beitrag zur negativen Anthropologie als einer noch unausgeschöpften und diagnostisch brauchbaren Figur. Sich bei der negativen Theologie inspirierend stellt die negative Anthropologie den Menschen als homo absconditus ins Zentrum. Der Mensch sei letztlich unbestimmbar und nur über seine Negationen erreichbar (14). Der negativen Anthropologie geht es also darum, »jeder kataphatischen Anthropologie auszuweichen, ohne sich selbst als Anthropologie aufzugeben« (15). Das heißt, dass substanzielle Definitionen nicht möglich sein sollen, weil der Mensch prinzipiell nicht definierbar ist: er ist sich selbst so problematisch geworden wie nie zuvor (ebd.). Da explizit erst die Philosophische Anthropologie des 20. Jh. zu dieser Einsicht kam, sei die negative Anthropologie eine Angelegenheit auch erst des 20. Jahrhunderts. Es reiche jedoch nicht aus, mit Scheler den Menschen als weltoffen und undefinierbar zu beschreiben, da er hier wieder mit Substanzbegriffen erfasst werde, wodurch die intendierte negative Anthropologie in einen Selbstwiderspruch geraten würde. Deshalb gelte als der Vater der negativen Anthropologie erst Plessner (17). Die »exzentrische Positionalität«, »vermittelte Unmittelbarkeit« zu sich selbst und die »Unergründlichkeit« des Menschen machen die Basis der negativen Anthropologie aus, die sich in Plessners Konzept des Menschen als homo absconditus verdichte (19). Der Mensch ist sich selbst verborgen, für sich selbst unbestimmbar. Immerhin müsse er irgendwie erfasst werden, aber jede partikuläre Erfassung müsse diese prinzipielle Unabgeschlossenheit miteinbeziehen: die Anthropologie müsse ständig offenbleiben, dürfe den Menschen nicht definieren, aber dürfe zugleich den Menschen als sinnvolle Kategorie auch nicht leugnen. Neben Plessner skizziert B. noch die Konzepte von Anders, H. Arendt und Sonnemann, um zu zeigen, dass die negativ-anthropologische Figur eine wichtige Stellung in sehr unterschiedlichen Ansätzen haben kann (20–29). Die Entdeckung und innere Klassifizierung der negativen Figur in unterschiedlichen und nicht nur westlichen Konzepten hält B. für ein Desiderat der Forschung. Die Aktualität der negativen Theologie sieht B. in einer Korrektur aller Anthropologien, die den Menschen fixieren wollen, heute vor allem der trans- und posthumanistischen Tendenzen, den Menschen zuerst festzulegen, um ihn dann unkontrolliert zu überschreiten. Der Mensch müsse eine zwar unbekannte, aber zugleich »unauflösliche[]« und »immer normative[] Variable« bleiben (35).
S. Edinger als zweiter Herausgeber spricht von einer großgeschriebenen Negativen Anthropologie (NA) und will damit im Vergleich zu B.s eher heuristisch-diagnostischem Zugang (nA) die NA als anthropologisches Programm aufstellen. Dazu stellt er fünf Kriterien auf: 1. Eine programmatisch Negative Anthropologie müsse auch terminologisch ausgeprägte Anthropologie sein, 2. müsse sie sich die Frage nach dem Menschen explizit stellen, 3. sei ein Naturbegriff verbindlich, 4. müsse für eine NA ebenso das Unvollständigkeitstheorem des Menschen verbindlich sein und 5. würden die Kerngehalte nicht in Substanz-, sondern in Strukturbegriffen entfaltet (44–45). Diese Kriterien zeigt dann E. am Beispiel von Plessners NA und Adornos nA. Das Ziel des Unternehmens solle eine Typologie innerhalb der negativ-anthropologischen Ansätze sein, die es erlauben würden, eine bloße Beschreibung von konstruktiven Fundamenten einer NA zu unterscheiden (58–59). Das Ganze bleibt jedoch in der Durchführung ziemlich abstrakt und ohne einen klaren Ertrag. Man weiß am Ende nur, welches Konzept mit welchen Gründen in die von E. aufgestellte NA passen würde.
Die weiteren Beiträge in dem Band versuchen, diese negativ-anthropologischen Figuren und Strukturen in anderen Konzepten zu entdecken oder mit ihnen weiterzuarbeiten. Dabei kommt in mehreren Texten mehr oder weniger explizit die Frage auf, ob nur der Zugang über die Negationen als Grundprinzip ausreicht, oder ob die Anthropologie das negative Moment eher als eine methodische Regel aufnehmen sollte, die ihr jedoch nicht verunmöglichen und verbieten würde, die Anthropologie auch positiv zu entfalten. V. Schürmann drückt es klar aus, wenn er fragt, »wie eine konsistente positive Anthropologie gebaut sein müsste, die darum weiß, dass sie keine positive Wesensbestimmung des Menschseins sein kann«?
Als ein analogisches Unternehmen kommt mehrmals die negative Theologie vor. Die negativ-anthropologische Figur oder Struktur wird aber leider in keinem der Beiträge von der theologischen Perspektive reflektiert. Gerade die theologische Anthropologie hätte dazu jedoch bestimmt viel zu sagen, und zwar sowohl zu der Unabgeschlossenheit des Menschen als auch zu dem Anspruch einer positiven Bearbeitung der negativen Figur.
Zwischen den Zeilen zieht sich durch den ganzen Band die unbeantwortete Frage hindurch, welchen Stellenwert die negative Anthropologie letztlich in der Anthropologie haben soll. Wie würde eine solche Anthropologie aussehen? Obwohl sich der Band eigentlich nur mit vergangenen Konzepten befasst, hat er offensichtlich den Anspruch, dass die negative/Negative Anthropologie ein Konzept sei, das auch heute aktuell sein kann und also inhaltlich zu füllen wäre. Man würde sich deshalb neben den formalen Aufrissen und aufgestellten Regeln auch eine – wenn auch nur skizzierte – heutige Durchführung dieses Programms wünschen. Hoffentlich kommt es noch.