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Ausgabe:

März/2023

Spalte:

220–221

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Hetzel, Andreas, Martin, Jörg, Gallus, Jörg, Götsch, Dietmar, u. Gregor Kertelge [Hgg.]

Titel/Untertitel:

Allegorien des Bewusstseins. Versuche wider die Eindeutigkeit.

Verlag:

Freiburg i. Br. u. a.: Verlag Karl Alber (Nomos) 2021. 408 S. Kart. EUR 39,00. ISBN 9783495491683.

Rezensent:

Christian Schlenker

Die Herausgeber des Sammelbands »Allegorien des Bewusstseins« haben es sich zum Ziel gesetzt, eine Vielheit von Lesbarkeiten des Bewusstseins in einem Band zu vereinen. Die Kombination von literarischen, philosophischen, philosophie- und literaturgeschichtlichen und fotographischen Stimmen macht dieses Sammelwerk zu einer lohnenswerten Lektüre, die Anregung und Ausgangspunkt zu weiteren Erkundungen des Bewusstseins bieten kann.

Herausgegeben wurde das Buch von einem fünfköpfigen Team um Andreas Hetzel, der an der Universität Hildesheim lehrt. Die Expertise des ganzen Herausgeberteams (Andreas Hetzel, Jörg Martin, Jörg Gallus, Dietmar Götsch und Gregor Kertelge), die sich unter anderem in einer Menge an vielfältigen philosophisch-literarischen Veröffentlichungen zeigt, spiegelt sich auch in diesem Band in einem klaren Blick für die Relevanz literarisch-poetischer Artikulationsweisen zum Erhellen und Entdecken philosophischer Begriffe – hier dem des Bewusstseins – wider.

Die Notwendigkeit und Relevanz dieses Anliegens leiten die Herausgeber in ihrer gemeinsamen Einleitung aus einer zunehmenden Monopolstellung der neurowissenschaftlichen Ausdrucksweise und deren inhärenten Reduktionismus hinsichtlich des Begriffs des Bewusstseins ab (11–28). »Die Aufforderung lautet hier implizit, dass sich die Gesellschaft und das in der Gesellschaft implementierte Selbstverständnis des Menschen an den neuen wissenschaftlichen Befunden auszurichten habe.« (20) Diesem »naturalistischen Reduktionismus« (28) wird ein »literarisch-allegorisches Verfahren« (28) zur Seite gestellt. Dieses entfaltet verschiedene Blickwinkel auf das Phänomen des Bewusstseins und versucht Ausdrucks- und Artikulationsweisen anzubieten, die verschiedene Aspekte der »konstitutiven Überdeterminiertheit« (28) des Bewusstseins herausstellen und zur Sprache bringen.

Entsprechend des Anliegens, verschiedene literarisch-allegorische Perspektiven auf das Phänomen des Bewusstseins einzunehmen, ist der Band in fünf Teile gegliedert: Nach (1) literarischen Annäherungen, die vier unterhaltsame und tiefsinnige Prosatexte verbinden, folgen (2) drei kleine Sprachkunden, welche der Metaphorik der Rede vom Bewusstsein nachspüren und damit sowohl die alltäglichen und empirischen Diskurse als auch die darin wirkende Suggestionskraft nachzeichnen. Neben der Einleitung ist dies der einzige Teil des Buches, der die These von der Dominanz des neurowissenschaftlichen Paradigmas anspricht und ausführt. Diese Beiträge sollten mit der Zielperspektive des Buches im Hinterkopf gelesen werden, Bestimmungen des Bewusstseins jenseits dieser Paradigmen zu finden. Als eine umfassende – jedoch durchaus als eine grundlegende – Einführung in die neurophilosophischen Bewusstseinsdiskurse können und sollen die in diesem Teil vereinten Texte nicht dienen. Sie sind vielmehr eine Hintergrundfolie für die beiden folgenden Teile, welche den Ansatz der allegorisch-literarischen Lesart des Bewusstseins philosophisch begründen, ausführen und in der Literaturgeschichte nachspüren.

So vereint der (3) dritte Teil fünf Texte unter dem Titel Bewusstseinstheorien, die nach Bewusstsein und Unbewusstsein bei Avicenna (Osman Hajjar), Friedrich Hölderlin (Johann Kreuzer), Nicolai Hartmann (Thomas Rolf), Georges Canguilhem (Hans-Dieter Gondek) und Walter Benjamin (Wolfram Malte Fues) fragen. Gewissermaßen als Antwort auf den zweiten Teil bietet der vierte (4) fünf Lektüren von – besser: je einer philosophischen Spurensuche in – verschiedenen literarischen Motiven, die das Bewusstsein beschreiben, ehe das Buch (5) mit Schwarzweiß-Fotographien von Jörg Martin schließt, die aufgrund der hervorragenden Druck- und Produktionsqualität des gesamten Buches entsprechend zur Geltung kommen.

Gewissermaßen programmatisch für das Anliegen des Bandes ist die Reflexion von Wolfram Malte Fues, Prof. em. der Universität Basel, über Walter Benjamin und dessen Theorie des »allegorisierenden Erinnerns« (193). Dieser Beitrag bietet eine Monade benjaminischen Denkens in großer sprachlicher Eleganz, die zugänglich und verständlich bleibt. Für den ganzen Band gilt der Satz, mit dem Fues Benjamins Dialektik im Stillstand charakterisiert: »Das Wunderbare und das Ungewöhnliche halten einander die Waage, bleiben darin aber verschieden.« (193) Denn in diesem Band wird keine einheitliche Theorie des Bewusstseins angeboten und noch nicht einmal um eine solche gerungen. Wie die Dialektik im Stillstand ist es gerade diese besondere Art der Widersprüchlichkeit, welche Vielheit und Offenheit aufzeigt und nicht gegenseitigen Ausschluss. Es ist, um mit Fues fortzufahren, »[e]ine Darstellung des Bewusstseins, die deutlich zu machen sucht, dass in jede Ordnung, die es seinen Vorstellungen gibt, deren Außen plötzlich einbrechen kann – störend und verstörend, provokativ und produktiv« (196).

Diese Vielfalt und die Zeitgebundenheit der Artikulationsweisen des Bewusstseins wird im vierten Teil des Buches offengelegt, welcher sich der Lektüre von Allegorien des Bewusstseins (nicht nur) in der Literatur widmet. Hier wird erkundet, wie in der Literatur verschiedene Bilder für die Beschreibung des Bewusstseins verwendet wurden, ob dies der Spiegel (Stephan Cartier), die laterna magica (Ulrich J. Beil), oder weitere Figurationen des Bewusstseins in der Literatur ist. Wie insbesondere Cartier in seinem Beitrag aufzeigen kann, ist die Literatur gewissermaßen Seismograph eines gesellschaftlichen Unbewussten: die von ihr verwendeten Metaphern greifen mancher philosophischer Artikulation voraus und bringen zur Sprache, wie das Bewusstsein vorgestellt wurde. Diese Analysen stellen die Relevanz des Anliegens des Sammelbandes, verschiedene Artikulationsformen des Bewusstseins aufzuspüren, unmittelbar vor Augen.

Kritisch angemerkt werden kann, dass die neurophilosophischen Debatten und die These von der Dominanz von deren Artikulationsformen zwar als Hintergrundfolie eingeführt wird, jedoch kein Dialog mit den allegorischen Ansätzen hergestellt wird. Stellenweise erwecken die anhand von aktueller Forschungsliteratur dargestellten Diskurse in der Einleitung und im zweiten Teil den Eindruck, als würde sich die Relevanz des Anliegens, die Vielheit der Bewusstseinslektüren aufzuzeigen, vor allem aus dieser Abgrenzung ergeben. Die Relevanz der verschiedenen Blickwinkel und der Genuss der Allegorien entsteht nicht erst aus der Abgrenzung und Entgegensetzung, sondern entspringt diesen selbst. Zielgruppe des Sammelbandes sind weniger die kritisierten Neurophilosophen, als jene, die eine vollständige Determination des Menschen durch seine biologischen Hirnprozesse ohnehin kritisch betrachten und nach einer ausgewogenen Mannigfaltigkeit anderer Lesarten suchen.

Die Lektüre dieses Sammelbandes ist informativ und eröffnet eine Vielzahl neuer Fragehorizonte. Nicht fündig wird hier, wer die jüngsten Diskussionen von oder eine allgemeine Einführung in gegenwärtige Bewusstseinstheorien sucht. Der Vorzug dieses elegant komponierten Bandes liegt darin, dass er andere Artikulationsformen als jene alltäglichen mit einer Leichtigkeit und Zugänglichkeit zur Sprache bringt, die bei Texten, die Hölderlin, Benjamin oder Lacan diskutieren, eine Seltenheit und besondere Leistung ist.