Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

März/2023

Spalte:

147–160

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik
Aufsätze

Autor/Hrsg.:

Wilfried Härle

Titel/Untertitel:

Self-fulfilling prophecy
Eine brauchbare Kategorie auch für Theologie?1

I Herkunft und Bedeutung des Begriffs



Der Begriff »self-fulfilling prophecy« taucht, soweit ich bisher feststellen konnte, erstmals im Jahr 1948 bei dem US-amerikanischen Soziologen Robert K. Merton auf, und zwar als Titel und als Bestandteil eines von ihm verfassten Aufsatzes.2 Man erfährt aus diesem Aufsatz nichts über die Entstehung dieses Begriffs und nur wenig über seine Vorgeschichte. Allerdings erwähnt Merton als Anreger für sein Konzept eine Reihe bekannter Wissenschaftler: den französischen Bischof Jacques Bénigne Bossuet, den Philosophen und Arzt Bernard (de) Mandeville, Karl Marx, Sigmund Freud sowie die beiden US-amerikanischen Soziologen William Graham Sumner und – vor allem – William Isaac Thomas.

Einen Namen vermisse ich in dieser »Ahnenreihe«: den des österreichischen Nationalökonomen und Wissenschaftstheoretikers Otto Neurath, der bereits im Jahr 1911 im Rahmen seiner ökonomischen Wertlehre die These formulierte: »Die Prophezeiungen auf sozialem Gebiet beeinflussen nämlich die Entwicklung. Sie unterscheiden sich so z. B. von astronomischen, welche auf den Lauf der Gestirne keinen Einfluss haben. Auf sozialem Gebiet ist eine bestimmte Prophezeiung häufig Mitbedingung ihrer eigenen Verwirklichung.«3 Die doppelt vorsichtige Formulierung Neuraths: »häufig Mitbedingung« bringt Jahrzehnte vor Merton die Pointe der self-fulfilling prophecy (noch ohne diesen Begriff) gut und möglicherweise besser als Merton selbst zum Ausdruck. Merton scheint jedoch diesen Vorläufer nicht gekannt zu haben. Er erwähnt ihn jedenfalls nicht.

Merton beginnt seinen Aufsatz von 1948 mit der Zitierung des sogenannten »Thomas-Theorems« von William Isaac Thomas, das aus dem Jahr 1928 stammt: »Wenn Menschen Situationen als real definieren, sind sie in ihren Konsequenzen real«4. Das heißt: Unabhängig vom Wahrheitsgehalt der Situationsdefinitionen stellen die Konsequenzen, die sich aus ihnen ergeben, eine Realität dar. Um den Sinn dieses Theorems noch weiter zu präzisieren, füge ich an: Das gilt jedenfalls für diejenigen Personen, die sich diese Definitionen zu eigen machen.

II Beispiele für self-fulfilling prophecy



Merton begründet und entfaltet dieses Theorem in seinem Text nicht, sondern er setzt es voraus und wendet es vor allem auf die US-amerikanische Gesellschaft des 20. Jh.s an, und zwar zunächst kurz auf das bekannte Beispiel der »Last National Bank«, die 1932 ein Opfer von (wahrheitswidrigen) Gerüchten über ihre drohende Insolvenz wurde. Sodann beschäftigt er sich vor allem mit den US-amerikanischen Rassenproblemen. Dabei macht er Gebrauch von der soziologischen Unterscheidung zwischen Ingroup und Outgroup, wobei er stets Schwarze, Juden und Japaner sowie gelegentlich Deutsche zur Outgroup rechnet, die weiße Durchschnittsbevölkerung christlicher Provenienz5 bildet dagegen aus seiner Sicht die Ingroup, also den Teil der Gesellschaft, »der dazu gehört«.

An zwei Beispielen stellt Merton das Wirken von self-fulfilling prophecy in der damaligen US-amerikanischen Gesellschaft dar: zum einen anhand des Vorurteils, die Angehörigen der Outgroup seien (intellektuell, sozial oder moralisch) minderwertig, was sich auch durch offensichtliche Gegenbelege nicht korrigieren, geschweige denn ausrotten lässt; zum anderen anhand der These, Angehörige der Outgroup seien notorische Streikbrecher bzw. Lohndrücker und dürften deshalb nicht als Mitglieder in die Gewerkschaften aufgenommen werden.

An diesem zweiten Beispiel lässt sich besonders gut zeigen, wie eine solche self-fulfilling prophecy funktioniert: Indem (insbesondere dunkelhäutige) Arbeitnehmer, die per definitionem zur Outgroup gehören, nicht in die Gewerkschaften aufgenommen werden und darum im Fall eines Streiks auch nicht die damit verbundenen Rechte und Schutzmaßnahmen genießen, sind sie geradezu gezwungen, sich nicht an Streiks zu beteiligen, sondern sich als Lohndrücker bzw. Streikbrecher zu betätigen, um ihre Familien ernähren zu können. Die Nichtaufnahme in die Gewerkschaften bewirkt also erst das Verhalten, um dessentwillen sie ausgeschlossen werden, genauer gesagt: das als Begründung für ihren Ausschluss in Anspruch genommen wird. Im Blick darauf spricht Merton zu Recht wiederholt von einem »Teufelskreis« bzw. »tragischen Zirkel«6, allerdings ist er der Überzeugung, dass dieser »Teufelskreis« nicht in der menschlichen Natur verankert ist, sondern moralische und politisch-strukturelle Ursachen hat, die – langfristig – durch entsprechende Anstrengungen verändert und überwunden werden könnten.

Blicken wir von da aus zurück auf die Frage, was Merton (im Anschluss an Thomas) unter self-fulfilling prophecy versteht, so finden sich bei ihm – eingestreut in die Beispiele – mehrere Beschreibungen für das Muster, nach dem eine self-fulfilling prophecy funktioniert, etwa folgende: »Die ›self-fulfilling prophecy‹ gibt ursprünglich eine falsche Definition der Situation, die ein neues Verhalten hervorruft, welches am Ende die zunächst falsche Vorstellung richtig werden läßt. Die trügerische Richtigkeit der ›self-fulfilling prophecy‹ verewigt die Herrschaft des Irrtums. Der Vor-aussagende wird nämlich den tatsächlichen Ablauf der Ereignisse zum Beweis dafür heranziehen, daß er von Anfang an recht hatte.«7

So, wie Merton hier self-fulfilling prophecy charakterisiert, handelt es sich bei ihr nicht um ein wertneutrales, geschweige denn positiv zu bewertendes Muster oder Konzept, sondern um ein Mittel oder Instrument zur Irreführung und Verblendung von Menschen. Das zeigt sich an den Ausdrücken »falsche Definition« (als Beginn) und »Herrschaft des Irrtums« (als Resultat). Dieses negative Resultat kommt aber vor allem dadurch zustande, dass Merton in diesem Aufsatz eine knappe Auswahl von Beispielen trifft, die jeweils ein von ihm negativ beurteiltes Ergebnis haben. Das ruft die Frage hervor, ob seine an Beispielen gewonnene Analyse von self-fulfilling prophecy in struktureller Hinsicht nicht offener und wertneutraler, aber auch komplexer ausfallen könnte oder müsste, als es in seinem Aufsatz faktisch sichtbar wird.

Für diese Vermutung spricht auch die Tatsache, dass in den seitdem vergangenen 75 Jahren vor allem in den USA eine Vielzahl von medizinischen und psychologischen Anwendungsbeispielen bzw. -bereichen entdeckt und wissenschaftlich untersucht wurde, die das Phänomen der self-fulfilling prophecy in einem anderen, nämlich wertneutraleren, ambivalenteren oder sogar positiveren Licht erscheinen lassen, als das bei Merton der Fall ist. Ich nenne hier zunächst:

1 Medizinische Beispiele



a) Die bekannteste Form einer self-fulfilling prophecy ist zweifellos die Verabreichung von Placebos,8 das heißt von Scheinmedikamenten, die keine spezifischen medizinischen Wirkstoffe enthalten, die aber dem Patienten verabreicht werden mit der Ankündigung, dass es sich dabei um ein medizinisch wirksames Präparat handle. Zu dieser Gruppe gehören auch Scheinoperationen, die nur vorgetäuscht, aber gar nicht durchgeführt werden. Das Ergebnis dieser Verabreichungen oder Anwendungen von Placebos ist ihr überraschend hoher Grad an Wirksamkeit. Sie bewirken in erstaunlich vielen Fällen das, was (vom Patienten und/oder vom Arzt) erwartet bzw. erhofft wird, obwohl diese Scheinmedikamente und -operationen keine Wirkstoffe oder Ursachen enthalten, aus denen sich diese Wirkungen erklären ließen. Der US-amerikanische Psychiater Arthur K. Shapiro kam aufgrund seiner langjährigen Placebo-Forschungen sogar zu dem Ergebnis, dass fast alle medizinischen Verordnungen bis vor Kurzem Placebos waren, »so dass die Geschichte der Medizin weitgehend als Geschichte des Placebo-Effekts bezeichnet werden kann«.9 Shapiros Ergebnisse zur Placeboforschung wurden 1997 posthum von seiner Witwe, Elaine Shapiro, unter dem Titel: »The Powerful Placebo« (s. o. Anm. 8) herausgegeben. In diesem Buch untersucht Shapiro das Vorkommen von Placebos in der Geschichte der Medizin von der Zeit der Sumerer, Babylonier und Ägypter bis ins 20. Jh., versucht eine semantische Klärung des Placebo-Begriffs und beschäftigt sich unter den Begriffen »Fraud« (»Betrug« oder »Täuschung«), »Faith« (»Glaube« oder »Vertrauen«) und »Fad« (»Modeerscheinung« oder »vorübergehende Laune«) mit der wissenschaftsethischen Beurteilung des Placebophänomens. Dabei steht im Blick auf die Geschichte der Medizin für Shapiro nicht der (dem früheren »Arzt«) gar nicht bewusste und absichtsvolle Einsatz von Placebos im Zentrum seiner Untersuchungen, sondern der Einsatz von objektiv wirkungslosen oder sogar schädlichen »Heilmitteln«, die mangels damaligen besseren medizinischen bzw. pharmakologischen Wissens verabreicht wurden.

b) Zu dieser Grundform von Placebo gibt es zwei negative Parallelformen.

b 1) Die eine trägt den Namen Nocebo10 und bezieht sich darauf, dass die Verabreichung von angeblich schädlichen Medikamenten bzw. Substanzen, die aber tatsächlich gar keine schädigenden Wirkstoffe enthalten, bei Patienten häufig negative Wirkungen hervorrufen, wenn die Patienten davon überzeugt sind, damit etwas Schädigendes zu sich genommen zu haben.

b 2) Die andere negative Parallelform zum Placebo ist eine Umkehrung des Placeboeffekts. Sie tritt dann auf, wenn Patienten ein Medikament verabreicht wird, das tatsächlich medizinische Wirkstoffe enthält (also ein sogenanntes »Verum« ist), aber keine positiven Wirkungen hervorruft, weil der Patient davon überzeugt ist, dass er es dabei mit einem Scheinmedikament (oder mit einer anderen Scheinbehandlung) zu tun bekommen hat. Man kann in diesem Fall sagen: Die (irrtümliche) Überzeugung von der Unwirksamkeit des Medikaments oder der Behandlung neutralisiert bzw. eliminiert deren Wirkung.

Die self-fulfilling prophecy ist aber nicht auf den medizinischen Bereich beschränkt, sie ist da nur besonders gut (z. B. durch Doppelblindversuche11) und überraschend häufig festzustellen und zu überprüfen. Es gibt aber auch im psychologischen Bereich mehrere nachgewiesene Phänomene, bei denen dasselbe Muster zu beob-achten ist. Von ihnen soll nun die Rede sein:

2 Psychologische Beispiele

a) Der Pygmalioneffekt12 ist dann zu beobachten, wenn z. B. Lehrkräften eine neue Gruppe von Schülern (wahrheitswidrig) als besonders begabt und leistungsstark vorgestellt bzw. empfohlen wird und diese Schüler dann nach kurzer Zeit tatsächlich wesentlich verbesserte Leistungen zeigen. Die durch die Ankündigung geweckte Erwartung und die daraus folgende erhöhte Zuwendung der Lehrkräfte kann in diesen Fällen offenbar eine erhebliche Leistungssteigerung bei den betreffenden Schülern bewirken und erklären. Die Untersuchungen, die zur Entdeckung dieses Effekts geführt haben, wurden ab 1965 vor allem von R. Rosenthal zusammen mit L. F. Jacobson durchgeführt, allerdings nicht durchgehend bestätigt.

b) Inspiriert wurden diese Untersuchungen zum Pygmalioneffekt durch die Entdeckung von R. Rosenthal und K. L. Fode bei Laborexperimenten mit Menschen, dass die Verhaltenserwartungen der Versuchsleiter die Resultate der Experimente beeinflussen: Die Probanden verhalten sich in signifikantem Maße so, wie es von den Versuchsleitern erwartet wird. Diesen Zusammenhang nennt man den Rosenthaleffekt. Dabei stellt sich allerdings die Frage, auf welchem Weg bzw. durch welches Medium die Verhaltenserwartungen der Versuchsleiter zu den Probanden geweckt bzw. transportiert werden.

c) Der nicht mit dem psychoanalytischen Konstrukt des Ödipuskomplexes zu verwechselnde Begriff Ödipuseffekt geht gleichwohl ebenso wie der Name jenes Komplexes auf den aus der antiken griechischen Mythologie bekannten Königssohn Ödipus zurück, dessen Leben von Anfang unter der Weissagung stand, er werde aufgrund eines Fluchs von Zeus irgendwann seinen eigenen Vater töten. Später kommt die Ankündigung des Orakels von Delphi hinzu, er werde außerdem irgendwann seine eigene Mutter heiraten.13 Anfangs kennen nur die Eltern von Ödipus, später auch er selbst diese fluchbeladene Ankündigung. Im Mythos scheitern alle Versuche, ihr Wahrwerden zu verhindern. Dementsprechend handelt es sich beim Ödipuseffekt um die Konstellation einer self-fulfilling prophecy, bei der ein Mensch, der um diese Ankündigung weiß oder sie zumindest erahnt, zwar alles versuchen kann, um ihre Verwirklichung zu verhindern, aber tatsächlich wider Willen an ihrer Verwirklichung mitwirkt und sie so faktisch (mit-)erfüllt.

d) Der Andorraeffekt14 benennt eine Form von self-fulfilling prophecy, die durch die Verhaltenserwartungen der Bevölkerung gegenüber einem Menschen ausgelöst wird, der neu in ihrer Mitte auftaucht und von dem das Gerücht umgeht, er entstamme einer bestimmten Bevölkerungsgruppe, sei zum Beispiel Jude. Die damit verbundenen Verhaltenserwartungen werden in der Folge nicht nur von den Mitbürgern an ihm »wahrgenommen«, sondern auch von ihm selbst als typische Verhaltensformen übernommen und angeeignet. Hier geht es also um ein Stereotyp, das in der Form eines Vorurteils auftaucht und sich im Fortgang gewissermaßen »bewahrheitet«. Dieser Andorraeffekt ähnelt dem von Merton 1948 ausführlich verwendeten Beispiel farbiger Arbeiter, die nicht in Gewerkschaften aufgenommen werden, weil sie als notorische Streikbrecher gelten und daraufhin Verhaltensformen praktizieren (müssen), die der Begründung für die Nichtaufnahme entsprechen, sie also scheinbar rechtfertigen.

e) Der folgende Effekt gehört allem Anschein nach nicht zu den Beispielen für self-fulfilling prophecy, sondern stellt ihr Gegenstück oder Gegenteil, aber wahrscheinlich auch ihren theoretischen Ursprung dar. Er ist vor allem unter dem Begriff »self-destroying prophecy« oder »self-defeating prophecy« bekannt. Merton verwendet bzw. übernimmt 1948 dafür noch einen anderen, etwas merkwürdig wirkenden Begriff »suicidal prophecy«15 und sagt von ihr: »Die Voraussage zerstört sich selbst.«16 Damit hat er selbst den Begriff »self-destroying prophecy« vorbereitet. Was damit gemeint ist, beschreibt Merton wie folgt: »Das Gegenstück zur ›self-fulfilling prophecy‹ ist die ›suicidal prophecy‹, die das menschliche Verhalten gegenüber dem Verlauf, den es ohne die Voraussage genommen hätte, so stark abändert, daß die Voraussage nicht zur Wirklichkeit wird.«17 Diese Charakterisierung der self-destroying prophecy setzt z. B. einen Fall voraus, in dem die Ankündigung den Charakter der Androhung einer Strafe hat, die über Betroffene wegen ihres (oder ihrer Vorfahren) bösen Verhaltens verhängt werden soll. Da die Androhung unbedingt formuliert ist, wirkt sie unabwendbar. Wenn aber die Androhung das böse Verhalten gleichwohl zum Guten verändert, kann das zur Folge haben, dass die angekündigte Strafe doch nicht verhängt bzw. ausgeführt wird.

Wer das Alte Testament kennt, wird sich nicht schwertun, darin das Muster einer durch schlimmes Fehlverhalten von Menschen verursachten göttlichen Strafandrohung wiederzuerkennen, die aber nicht verhängt wird, nachdem und weil Menschen ihr Verhalten ändern. Dieses Muster kommt in Reinform im Prophetenbuch Jona zum Ausdruck,18 in dem Gott durch den Propheten der Stadt Ninive bedingungslos den Untergang ankündigen lässt, aber durch die Umkehr der Bevölkerung von ihren bösen Wegen dazu veranlasst wird, diesen angekündigten Untergang der Stadt nicht zu vollziehen: »Als aber Gott ihr Tun sah, wie sie umkehrten von ihrem bösen Wege, reute ihn das Übel, das er ihnen angekündigt hatte, und tat’s nicht« (Jona 3,10)19. Hier ist der Effekt der Ankündigung nicht ihre Erfüllung, sondern ihre Aufhebung bzw. Erledigung; deshalb kann man im Blick darauf vom self-destroying-Effekt einer solchen Ankündigung sprechen.

Dabei könnte der Eindruck entstehen, dass dieser self-destroying-Effekt nur eintreten könne, wenn es sich um eine Ankündigung mit Strafandrohungscharakter handelt. Aber das wäre ein Irrtum, der sich nur aus der Verallgemeinerung des gewählten Beispiels ergibt. Der self-destroying-Effekt kann auch in Fällen eintreten, in denen eine Ankündigung mit positivem Charakter sich dadurch selbst zerstört, dass sie ernst genommen, ihr also geglaubt (und entsprechend gehandelt) wird. Ich wähle als Beispiel dafür die mögliche bildungspolitische Ankündigung, dass in einem bestimmten Schulfach ein großer Mangel an Lehrkräften bestehe und dass es deshalb gute Berufschancen verspreche, dieses Fach zu studieren. Wird diese Ankündigung von hinreichend vielen Studienanfängern befolgt, kann sich leicht die Situation ergeben, dass gerade dadurch nach wenigen Jahren ein Überangebot an Lehrkräften in diesem Schulfach entsteht, so dass keine guten, sondern schlechte Berufsaussichten bestehen, genauer gesagt: durch die Befolgung der Ankündigung entstanden sind. Auch hierfür gilt dann der Satz Mertons: »Die Voraussage zerstört sich selbst.«

Schließlich gibt es Vorhersagen, die sowohl als self-fulfilling prophecy als auch als self-destroying prophecy wirken können, je nachdem, wie sie aufgenommen werden: ob sie eine verunsichernde oder eine zur Vorsicht veranlassende Wirkung hervorrufen. Dazu zählt man in der Regel Warnungen vor speziellen Gefahren, z. B. vor Stürzen im hohen Alter, die schwere Knochenbrüche zur Folge haben können. Lässt ein Mensch sich durch diese Warnungen verunsichern, erhöht das die Wahrscheinlichkeit ihres Eintretens. Lässt er sich dadurch aber zu einem vorsichtigen Verhalten animieren, dient die Vorhersage zur Verminderung dieser Gefahr und trägt damit zu ihrem Nicht-Eintreten bei. Im ersten Fall wird sie zur self-fulfilling, im zweiten Fall zur self-destroying prophecy, kann also – je nach Wirkung – beides sein bzw. werden.

III Das Muster der self-fulfilling prophecy



Im Durchgang durch die unterschiedlichen Beispiele für self-fulfilling prophecy im vorigen Abschnitt, zu denen auch so merkwürdige Phänomene wie der Nocebo-Effekt und die self-destroying prophecy gehörten, hat sich implizit gezeigt, dass das Muster, das seit Merton mit dem Begriff self-fulfilling prophecy bezeichnet wird, wesentlich komplexer und differenzierter ist, als es auf den ersten Blick erscheint. Damit daraus aber nicht der Eindruck einer strukturlosen Beliebigkeit entsteht, ist es nun angezeigt, das Muster von self-fulfilling prophecy genauer, und zwar so präzise wie möglich zu beschreiben.

Dazu greife ich noch einmal Mertons anfängliche Definition auf: »Die ›self-fulfilling prophecy‹ gibt ursprünglich eine falsche Definition der Situation, die ein neues Verhalten hervorruft, welches am Ende die zunächst falsche Vorstellung richtig werden läßt.«20 Mit dieser Beschreibung verschärft und verengt Merton die Vorgabe des Thomastheorems, auf das er sich beruft.21 Während bei Thomas offen bleibt, ob die anfängliche Situationsdefinition wahr oder falsch ist, fasst Merton nur den Fall ins Auge, dass es sich um eine falsche Definition handelt. Das erklärt vermutlich, warum das Phänomen der self-fulfilling prophecy weithin den negativen Ruf einer Täuschung bzw. eines betrügerischen Unternehmens hat.

Die Definition Mertons von self-fulfilling prophecy ist offensichtlich den eingangs genannten Beispielen vom Zusammenbruch der Last National Bank und von dem Ausschluss farbiger Arbeiter aus Gewerkschaften abgelauscht und passt auch zu ihnen. Sie gilt ebenfalls grundsätzlich für die Verabreichung oder Anwendung von Placebos oder Nocebos sowie in der Regel für den Pygmalioneffekt. Sie gilt aber nicht notwendigerweise für den Rosenthaleffekt, und sie gilt gar nicht für die self-destroying prophecy, bei der eine ursprünglich wahre Situationsbeschreibung dadurch falsch wird, dass sie zu einer die Ankündigung überflüssig machenden und deshalb aufhebenden Verhaltensänderung führt.

Aus anderen Gründen gilt Mertons Struktur der self-fulfilling prophecy auch nicht für den Ödipuseffekt. Er ist Teil eines Weltbildes, in dem (Un-)Taten ihre unvermeidlichen und unveränderlichen, z. B. von Göttern oder Orakeln festgelegten Folgen haben, die überhaupt nicht durch eine menschliche Verhaltensänderung aufgehoben werden können. In diesem Weltbild ist kein Platz für eine Verhaltensänderung, die das Wahrwerden einer falschen Situationsbeschreibung bewirken könnte. Das Gegenteil ist der Fall: Jeder Versuch einer Verhaltensänderung mit dem Ziel, die Ankündigung nicht wahr werden zu lassen, dient nur der Bewahrheitung und Erfüllung der ursprünglichen Ankündigung. Die Ankündigung mit Fluchcharakter wird nicht durch menschliche Verhaltensänderung erfüllt, sondern sie erfüllt sich selbst unabhängig von menschlichem Wissen, Wollen und Handeln. Zwar kann die Ankündigung Verhaltensänderungen bewirken, aber kein Versuch einer Verhaltensänderung kann unter diesen Denkvoraussetzungen verhindern, dass die (wahre) Ankündigung in Erfüllung geht.

Aber besagt denn nicht schon der Begriff »self-fulfilling prophecy«, dass es sich um eine sich selbst erfüllende Ankündigung handelt? Ja, das sagt dieser Begriff, aber an dieser Stelle zeigt sich ein grundlegendes, das gesamte Konzept der self-fulfilling prophecy von Anfang an begleitendes Defizit, das zur Folge hat, dass es in gewisser Hinsicht sich selbst widerspricht. Worin besteht dieses Defizit? Der Begriff »self-fulfilling prophecy« erweckt den Eindruck, es sei die Ankündigung selbst, die ihr Wahrwerden bewirkt. Das stimmt aber nicht. Der Begriff »Ankündigung« schließt nicht ein, dass der Ankündigung auch geglaubt wird. Aber wenn einer Ankündigung nicht geglaubt wird, dann kann sie auch keine Veränderung im Sinne ihrer Erfüllung oder Zerstörung bewirken, die nicht stattgefunden hätten, wenn die Ankündigung nicht ergangen und ihr nicht geglaubt worden wäre.

Der im Ausdruck »self-fulfilling prophecy« völlig und in der ausgeführten Theorie weitgehend fehlende Begriff »Glaube« ist das entscheidende Defizit am Konzept der self-fulfilling prophecy. Denn nicht die Ankündigung an sich und als solche, sondern nur die geglaubte Ankündigung kann zu ihrer Erfüllung oder Zerstörung führen. Dabei kann der Begriff »geglaubt« ganz Verschiedenes bedeuten: z. B. »vermutet«, »erwartet«, »befürchtet« oder »erhofft«. »Glaube« ist also in diesem Theoriezusammenhang – anders als im theologischen Verständnis22 – nicht grundsätzlich mit »Vertrauen« gleichzusetzen und als »Vertrauen« zu verstehen.

Wenn man dagegen einwenden würde, dass ohne irgendeine Form der Ankündigung kein Glaube entstehen könnte, dann ist dieser Hinweis prinzipiell richtig, aber er ist kein Einwand gegen die These, dass nur die geglaubte Ankündigung zu ihrer Erfüllung oder Zerstörung führen kann. Das heißt: Die Ankündigung für sich genommen, ist nur eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung für eine self-fulfilling oder self-destroying prophecy. Erst die geglaubte Ankündigung ist die sowohl notwendige als auch hinreichende Bedingung für eine self-fulfilling oder self-destroying prophecy.

Zwar streift Merton in seinem Aufsatz von 1948 diese Einsicht im Zusammenhang mit dem Insolvenzbeispiel von 1932, indem er schreibt: »Cartwright Millingville hatte noch nie etwas vom Thomasschen Theorem gehört. Aber es fiel ihm nicht schwer zu erkennen, wie es arbeitet. Er wußte, daß trotz der verhältnismäßig großen Liquidität der Aktiva der Bank das bloße Gerücht der Insolvenz tatsächlich zur Insolvenz der Bank führen würde, wenn es erst einmal von genügend Kunden geglaubt würde23 Aber diese wichtige, ja alles entscheidende Zusatzbedingung findet in seiner weiteren Abhandlung keine Aufnahme und Berücksichtigung. 24

Auch bei A. K. und E. Shapiro gibt es einen Abschnitt,25 in dem – neben »Betrug« und »Modeerscheinung« – auch »Glaube« (»Faith«) als mögliche Deutung von self-fulfilling prophecy behandelt wird, aber nicht als ein Element, das bei self-fulfilling prophecy und Pla-cebo immer eine wesentliche Rolle spielt, sondern im Sinne von spezifisch religiösen Heilmethoden neben anderen.

Deshalb kann man sagen, dass in der reichen (englischsprachigen) Literatur zu self-fulfilling prophecy und vor allem zu Placebo die unverzichtbare Rolle von »Glaube« (als »Believe« und »Faith«) so gut wie gar nicht vorkommt und dass diese Begriffe dort – wenn überhaupt – nur eine marginale Rolle spielen. Eine bemerkenswerte Ausnahme davon bildet der deutschsprachige Lexikonartikel »self-fulfilling prophecy« von A. Wiedmaier.26 Sie schreibt darin: »Voraussetzung [sc. für self-fulfilling prophecy] ist (1), dass die Beteiligten an die Prophezeiung glauben, und (2), daß sie durch ihre Handlungsweisen bzw. Einstellungen die Voraussetzungen schaffen können, um das Eintreten des prophezeiten Ereignisses herbeizuführen.« Das ist eine präzise Beschreibung, die aber in der Forschungsliteratur Seltenheitswert besitzt.

Die Bedeutung, die »Glaube« für die self-fulfilling prophecy spielt, ist so entscheidend, dass sie eine gründliche Besinnung erfordert. Dabei ist zu klären, was unter »Glaube« zu verstehen ist, wie er zustande kommt (und verlorengeht) und was er bewirken kann.27 Das ist nicht nur im Blick auf die vor uns liegende Frage nach self-fulfilling prophecy als theologische Kategorie unerlässlich, sondern auch schon, um self-fulfilling prophecy als soziologisches oder psychologisches Konzept hinreichend genau zu verstehen. Dabei weist das Verb »glauben«, aus dem das Substantiv »Glaube» entstanden ist, einerseits eine Doppeldeutigkeit und andererseits ein sprachgeschichtliches Gefälle auf, die beide berücksichtigt werden müssen, wenn man diese Begriffe angemessen verstehen will.28 Die Doppeldeutigkeit von »glauben« besteht darin, dass das Wort einerseits »vertrauen« bedeuten kann (z. B. »Ich glaube dir«), andererseits aber auch besagen kann, dass man etwas vermutet, meint oder für wahrscheinlich hält, das man aber nicht beweisen kann (z. B. »Ich glaube, dass es am Wochenende regnen wird«). Das Gefälle, das sich an der Sprachgeschichte von »glauben« zeigt, besteht darin, dass das Verb sich ursprünglich »auf das vertrauensvolle Verhältnis zwischen Mensch und […] Gott« bezieht, aber auch bedeuten kann, »sich auf einen Menschen verlassen, ihm vertrauen« und schließlich bedeutet, »etwas für wahr halten«, was ein Mensch sagt, oder etwas »für möglich halten, vermuten, meinen«.29

In unserer Umgangssprache dominieren die letztgenannten schwachen Bedeutungen von »glauben«, nämlich: »vermuten« und »meinen«. Wenn man sie gleichsetzt oder verwechselt mit der ursprünglichen starken Bedeutung als »vertrauen« und »sich verlassen«, entstehen gravierende Missverständnisse. Vertrauen auf Gott wird dann leicht verwechselt mit einer religiösen Meinung oder Vermutung, die keinen Halt bieten kann, weil sie kein Fundament hat.

Für die self-fulfilling prophecy gilt grundsätzlich: Je stärker das Vertrauen auf die Ankündigung ist, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass das Angekündigte auch tatsächlich eintritt. Das ist zwar nicht mit einem Automatismus oder Mechanismus gleichzusetzen, wohl aber mit einer zunehmenden Wahrscheinlichkeit. Dabei ist davon auszugehen, dass dieses Vertrauen mit der Vertrauenswürdigkeit der Ankündigung und mit bereits gemachten Bestätigungserfahrungen bis zu einer unwiderstehlichen Überzeugung anwachsen, bei deren wiederholtem Ausbleiben aber auch abnehmen oder ganz vergehen kann.

Die Pointe von Placeboerfahrungen besteht nicht darin, dass Menschen sich leicht täuschen oder betrügen lassen und dementsprechend von Heilkundigen oder Scharlatanen hintergangen und ausgenützt werden, sondern sie besteht darin zu erkennen, wie groß die Bedeutung von Vertrauen für die soziale, seelische und leibliche Gesundung von Menschen ist.

IV Die theologische Anschlussfähigkeit der self-fulfilling prophecy



1 Biblische Anknüpfungspunkte



a) Im Zusammenhang mit suicide prophecy bzw. self-destroying prophecy war bereits von alttestamentlichen Beispielen die Rede, bei denen die Bewahrheitung oder Rücknahme von negativen Ankündigungen von der durch sie ausgelösten Verhaltensänderung abhing: Eine negative Ankündigung tritt nicht ein, weil sie bei den Betroffenen eine Verhaltensänderung auslöst, welche die Ankündigung hinfällig macht. Dem entspricht andererseits die positive Erfahrung, dass eine positive Ankündigung eintritt, weil das Verhalten der von ihr Betroffenen dem entspricht, was als Bedingung für das angekündigte Gut genannt wurde.30

b) Von noch weitreichenderer Bedeutung sind in unserem Zusammenhang die im Alten Testament überlieferten Bundesschlüsse, die Jahwe durch einzelne herausragende Persönlichkeiten wie Noah mit allen Menschen und Tieren (Gen 8,9–9,17) und durch Mose mit dem Volk Israel (Ex 19,1–23,19) geschlossen hat. Dabei unterscheiden sich diese beiden Bundesschlüsse nicht nur durch ihre Reichweite, sondern vor allem dadurch, dass der Noahbund von Jahwe bedingungslos und damit einseitig – aber laut Gen 8,22 zeitlich auf die Dauer der Erde beschränkt – geschlossen wird, während der Mosebund den Charakter eines bedingten und damit zweiseitigen Bundes hat, der mit Bundessatzungen verbunden ist und im Fall des Ungehorsams des Volkes gegenüber diesen Gesetzen von Jahwe auch aufgekündigt werden kann.

c) Wo im Neuen Testament die Bedingungen für die Teilhabe von Menschen an der in Jesus Christus anbrechenden Gottesherrschaft genannt werden, da haben sie ihr Zentrum in der Einladung bzw. Aufforderung zum Glauben,31 als dem Vertrauen auf Gott, wie er sich in Jesus Christus offenbart hat. Dementsprechend ist es der Glaube an die heilsame Zusage des Evangeliums, durch den diese Zusage vom Menschen angeeignet und für ihn wahr wird. Umgekehrt bedeutet dies, dass Menschen sich durch ihren Unglauben von der Verwirklichung dieser Zusage für sie selbst abschneiden können. Besonders prägnant bringt Joh 3,18 diesen zweifachen Zusammenhang mit folgenden Worten zum Ausdruck: »Wer an ihn [sc. den Sohn Gottes] glaubt, der wird nicht gerichtet; wer aber nicht glaubt, der ist schon gerichtet, denn er hat nicht geglaubt an den Namen des eingeborenen Sohnes Gottes.« Insbesondere die Formulierung: »wer aber nicht glaubt, der ist schon gerichtet« macht deutlich, dass das Gericht nicht eine von Gott verhängte Strafe für den Unglauben ist, sondern im Unglauben selbst liegt. Der skeptische Philosoph Odo Marquard hat das im Blick auf das Theodizeeproblem mit folgenden Worten zum Ausdruck gebracht: »Die Antworten der Theodizee sind […] durchweg unzureichend […] Darum haben wohl diejenigen recht, die dem Vertrauen auf Gott, also dem Glauben, das letzte Wort geben, und das nicht zu können ist dann das eigentliche Unglück.«32 Marquard hat aber leider versäumt, dem die daraus folgende positive These an die Seite zu stellen, die mit den Worten endet: »und das zu können ist dann das eigentliche Glück«. In dieser Doppelthese kommt das Wahrheitsmoment der self-fulfilling prophecy als einer theologischen Kategorie zum Ausdruck, dies aber so, dass der Glaube nicht nur als ein unverzichtbares Element zur Geltung kommt, sondern so, dass der Glaube selbst als die Erfüllung (fulfilling) der Heilszusage erlebt, erkannt und anerkannt wird.33

d) Von da aus wird auch etwas verständlich, was eine einmalige Besonderheit im Neuen Testament und im Wirken Jesu darstellt: An zahlreichen Stellen, an denen von Krankenheilungen Jesu oder seiner Jünger die Rede ist, werden diese ausdrücklich auf den Glauben derer zurückgeführt, denen diese Heilungen zuteilwurden. Die Standardformeln dafür lauten: »Dein Glaube hat dir geholfen« oder: »Dir geschehe, wie du geglaubt hast.«34 Dem korrespondiert in Mk 6,6 die negative Aussage: »Und er [sc. Jesus] wunderte sich über ihren Unglauben« als Begründung dafür, dass Jesus in Nazareth »nicht eine einzige Tat tun« konnte.

Der Zusammenhang zwischen Glaube und Heilung wird in Apostelgeschichte 3,16 im Blick auf die Heilung eines Gelähmten folgendermaßen beschrieben: »durch den Glauben an seinen [sc. Jesu] Namen hat sein Name diesen, den ihr seht und kennt, stark gemacht; und der Glaube, der durch ihn [sc. Jesus] gewirkt ist, hat diesem die Gesundheit gegeben vor euer aller Augen«. Diese differenzierte Beschreibung, die um den Namen Jesu, das heißt um seine Person kreist, macht deutlich, dass der Glaube, der die Heilung bewirkt, nicht als Selbstheilungskraft des Gelähmten zu verstehen ist, sondern als das Vertrauen, das durch die Person Jesu im Gelähmten geweckt wurde bzw. wird. In diesem Sinne kann und muss man die durch die Person Jesu gewirkten Heilungen als Glaubensheilungen bezeichnen. Und als solche bilden sie die Struktur einer self-fulfilling prophecy ab. Dabei besteht eine Be-sonderheit dieser self-fulfilling prophecy darin, dass sie von Jesus selbst als solche benannt und nicht etwa verschwiegen oder verleugnet wird. Die heilenden Machttaten Jesu und seiner Jünger sind insofern self-fulfilling prophecy mit (ehrlicher) Ansage, durch welche die ausschlaggebende Bedeutung des Glaubens ausdrücklich benannt wird.

2 Reformatorische Präzisierungen



Während in der Self-fulfilling-prophecy- und Placeboforschung die Bedeutung des Glaubens als Erwartung oder Vertrauen weitgehend ignoriert wird,35 wodurch die ganze Strukturbeschreibung defizitär wird, wird im Wirken Jesu und seiner Jünger diese Bedeutung ins Zentrum der Aufmerksamkeit und Beschreibung gerückt. Damit ist aber auch die entscheidende Frage nicht mehr zu übersehen, wie Glaube seinerseits entsteht. Auf diese Frage enthält schon die Bibel (z. B. in Jes 55,10 f. und in Röm 10,17) grundlegende Antworten, die in zwei Bekenntnistexten der reformatorischen Theologie aus den Jahren 1529 und 1530 der Sache nach Aufnahme und präzise theologische Ausformulierung gefunden haben: in Luthers Klei-nem Katechismus und in dem von Melanchthon formulierten Augsburgischen Bekenntnis. Luther schreibt als Auslegung des Dritten Glaubensartikels: »Ich glaube, dass ich nicht aus eigener Vernunft noch Kraft an Jesus Christus, meinen Herrn, glauben oder zu ihm kommen kann, sondern der Heilige Geist hat mich durch das Evangelium berufen, mit seinen Gaben erleuchtet, im rechten Glauben geheiligt und erhalten […].«36 Und Melanchthon formuliert ein Jahr später als Antwort auf die Frage, wie (christlicher) Glaube entsteht: »Damit dieser Glaube entsteht, hat Gott das Predigtamt eingesetzt, das Evangelium und die Sakramente gegeben, durch die als Mittel der Heilige Geist wirkt und – wo und wann er will – die Herzen tröstet und Glauben gibt denen, die das Evangelium hören […].«37

Beide Texte rücken dieselben Begriffe in das Zentrum ihrer Antwort: das Evangelium und den Heiligen Geist, durch die Glaube entsteht. Luther profiliert diese (positive) Aussage dadurch, dass er ihr zwei Negationen voran- und gegenüberstellt: »nicht aus eigener Vernunft noch Kraft«. Melanchthon präzisiert die Aussage über die Entstehung des Glaubens, indem er daran erinnert, dass sie für uns unverfügbar geschieht, »wo und wann er [sc. Gott] will«. Diese Präzisierung ist vor allem deshalb unverzichtbar, weil sie die fatale Schlussfolgerung zu vermeiden hilft, die von empfundenen oder erlebten Unheilserfahrungen auf mangelnden Glauben rückschließt und damit dem betreffenden Menschen selbst die Schuld an seinem Unheil zuweist.

Diese beiden reformatorischen Zusätze konkurrieren nicht miteinander, sondern ergänzen sich treffend. So geben die beiden Bekenntnisaussagen miteinander eine präzise Antwort auf die Frage, wie der Glaube entsteht, durch den die Heilszusage Gottes bei Menschen ihre Erfüllung findet. Dabei steht »das Evangelium« für die »Ankündigung« und »der Heilige Geist« für die »Beglaubigung«, durch die die prophecy sich zwar nicht von selbst erfüllt, wohl aber von Gott erfüllt wird. Und in dieser Form – aber auch nur in ihr – darf und sollte man die self-fulfilling prophecy als eine »theologisch brauchbare Kategorie« bezeichnen und in Anspruch nehmen.

Abstract



The origin of what Robert K. Merton first designated in 1948 as a »self-fulfilling prophecy« presumably lies in its counterpart, which John Venn had designated and described already in 1866 as a »suicidal prophecy« from which the term »self-destroying prophecy« later arose. These two phrases describe the process by which an announcement is made that brings about a fundamental change in behavior, whereby what is announced does not come to pass. As an example of this process, the biblical Jonah narrative plays a prominent role. However, one generally ignores the fact that it is not the announcement as such that brings about this »destruction« or »fulfillment«, for it depends on whether the announcement is believed. Without the addition of this insight, the structural description of a self-fulfilling or self-destroying prophecy is generally deficient. With this insight, it is a theologically useful category for describing essential contents and functions of the Christian message, especially from the perspective of the Reformation.

Fussnoten:

1) Eine Vorarbeit hierzu bildet mein Aufsatz »Self-fulfilling Prophecy. Beobachtungen und Überlegungen zum produktiven Erkenntnisaspekt«, in: W. Härle (Hg.), Im Kontinuum. Annäherungen an eine relationale Erkennt-nistheorie und Ontologie, Marburg 1999, 1–16. Zur neuerlichen Beschäftigung mit diesem interdisziplinär ergiebigen Thema hat mich die Abfassung meines Buches »Vertrauenssache. Vom Sinn des Glaubens an Gott«, Leipzig 2022, angeregt. Dieser Aufsatz ist in gewisser Hinsicht eine Ergänzung zu jenem Buch. Dabei übernehme ich durchgehend den in der Fachliteratur gebräuchlichen englischen Begriffprophecy, übersetze ihn aber im Deutschen – wie ebenfalls üblich – mit »Ankündigung« und nicht mit »Prophezeiung« oder »Prophetie«. Damit versuche ich das Missverständnis zu vermeiden, biblische Prophetensprüche oder -schriften bestünden überwiegend oder gar ausschließlich aus Zukunftsprognosen negativer oder positiver Art.
2) R. K. Merton, The self-fulfilling prophecy, in: The Antioch Review 8 (1948), 193–210. Eine deutsche Übersetzung dieses Aufsatzes (mit Zwischenüberschriften) erschien in dem 1965 von E. Topitsch herausgegebenen Sammelband: »Logik der Sozialwissenschaften« (144–161) unter der Überschrift: »Die Eigendynamik gesellschaftlicher Voraussagen«. Ich zitiere hier durchgehend Mertons Programmaufsatz nach dieser deutschen Übersetzung.
3) O. Neurath, Nationalökonomie und Wertlehre, eine systematische Untersuchung, in: Zeitschrift für Volkswirt-schaft, Sozialpolitik und Verwaltung 20 (1911), 113. In seiner Schrift »Anti-Spengler« aus dem Jahr 1921 nimmt Neurath diesen Gedanken erneut auf, verbindet ihn mit dem Unterschied zwischen einer Entscheidung und einem Beweis und formuliert ihn (gegen Oswald Spengler gerichtet) folgendermaßen: »eine Entscheidung ist kein Beweis. Wer sich als Prophet oder Prophetenschüler für eine Prophezeiung beharrlich einsetzt, mag die Richtigkeit der Prophetie durch die Beeinflussung der Wirklichkeit erweisen.Die Prophetie wird zur Ursache ihrer eigenen Verwirklichung! Aber mit ›Berechnen‹ und ›Beweisen‹ hat das nichts zu tun.« (O. Neurath, Gesammelte philosophische und methodologische Schriften, Bd. 1, Hg. R. Haller und H. Rutte, Wien 1981, 141) Die Aussage, dass die Prophetie zur Ursache ihrer eigenen Verwirklichung wird, gibt das – später von Merton so genannte – Prinzip der self-fulfilling prophecy ziemlich gut, aber – wie sich zeigen wird – nicht optimal wieder.
4) W. I. Thomas und D. S. Thomas, The Child in America, New York (1928) first reprint 1970, 572: »If men define situations as real, they are real in their consequences.« Wichtig sind dabei besonders die letzten Worte: »real in their consequences«. Dadurch unterscheidet sich dieses Theorem auch von einem radikalen Konstruktivismus.
5) Dazu gehören für ihn die nordamerikanischen Methodisten, Katholiken, Baptisten und Episkopalen (Die Eigendynamik gesellschaftlicher Voraussagen, s. o. Anm. 2, 156).
6) A. a. O., 158 f.
7) A. a. O., 146.
8) Der Begriff »Placebo« ist abgeleitet aus dem Futur des lateinischen Verbsplacere, das »gefallen« heißt. »Placebo« heißt also wörtlich: »Ich werde gefallen« und ist als Ankündigung einerpositiven Wirkung zu verstehen. Dieser Begriff taucht erstmals schon in Motherby’s New Medical Dictionary von 1785 (!) auf. Laut A. K. Shapiro (The Powerful Placebo, 30) markiert dieses Jahr auch denBeginn des bewussten klinischen Einsatzes von Placebos. Siehe zum Thema »Placebo« den kurzen, aber instruktiven Artikel »self-fulfilling prophecy« von A. Wiedmaier, in: »Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie«, Bd. 3, 1995, 765 f., ferner A. K. und E. Shapiro, The Powerful Placebo. From Ancient Priest to Modern Physician, Baltimore/London 1997 sowie F. Benedetti u. a. (Hg.), Placebo, Berlin/Heidelberg 2014. Bemerkenswert an diesem letztgenannten Sammelband, der die Beiträge zu einem Forschungskongress in Tübingen aus dem Jahr 2013 wiedergibt, ist die Tatsache, dass neben (und vor) dem Placebo auch dasNocebo (s. u. Anm. 10) eine wichtige Rolle spielt.
9) So in A. K. und E. Shapiro, The Powerful Placebo (s. o. Anm. 8), 228: »In fact, the history of medical treatment, until recently, has been essentially the history of the placebo effect.«
10) Dieser Begriff ist abgeleitet aus dem Futur des lateinischen Verbsnocere, das »schaden« heißt, und bedeutet wörtlich: »Ich werde schaden« und ist als Ankündigung einer negativen Wirkung zu verstehen.
11) Siehe dazu A. K. und E. Shapiro, The Powerful Placebo (s. o. Anm. 8), 137–174.
12) Dieser Begriff ist abgeleitet von der Gestalt eines in der antiken griechischen Mythologie vorkommenden Bild-hauers namens Pygmalion, der aus einem Stein eine Figur erschafft, die ihm so gefällt, dass er sich in sie verliebt und sie dadurch zum Leben erweckt. Dieser Mythos bildet auch die Vorlage für das Schauspiel »Pygmalion« von G. B. Shaw und für das Musical »My fair Lady« von Frederick Loewe und Alan Jay Lerner.
13) Siehe dazu G. Schwab, Sagen des klassischen Altertums, hg. von Sonja Hartl, Regensburg 2007, 182–199. Eine strukturelle Wiederholung dieses tragischen Mythos findet sich in Schillers Drama: »Die Braut von Messina«.
14) Dieser Begriff ist abgeleitet aus dem Theaterstück »Andorra« von Max Frisch (1961), in dem geschildert wird, wie die irrtümlichen Annahmen der Bevölkerung eines Dorfes bezüglich der Herkunft eines jungen Mannes nicht nur bestimmte stereotype Verhaltenserwartungen an diesen jungen Mann wecken, sondern von ihm auch nach und nach übernommen und angeeignet werden, so dass er schließlich in seinemVerhalten allmählich diesen Erwartungen entspricht.
15) Diesen von Merton selbst als »picturesque« bezeichneten Begriff hat er schon im Jahr 1936 (in seinem Aufsatz: The Unanticipated Consequences of Purposive Social Action, in: American Sociological Review, Vol. 1, No 6, 904, Anm. 20) verwendet und hat dort angegeben, ihn von John Venn, The Logic of Chance, London (1866) 41962, 226, übernommen zu haben. Diese negative Form, die also bei Venn bereits 82 Jahre und bei Merton selbst 12 Jahrevor dessen Programmaufsatz von 1948 (s. o. Anm. 2) auftaucht, könnte der Ursprungsort der Idee sein, aus der schließlich 1948 das Konzept der self-fulfilling prophecy entstand. Wenn das zutrifft, wäre die Idee der self-destroying prophecy wesentlichälter als die der self-fulfilling prophecy.
16) R. K. Merton, Die Eigendynamik gesellschaftlicher Voraussagen (s. o. Anm. 2), 161, Anm. 1.
17) Ebd.
18) Die Jonaerzählung wird auch schon von J. Venn (s. o. Anm. 15) als Urbeispiel bzw. Matrix für eine »suicidal prophecy« verwendet.
19) Zu dem hier wie an anderen Stellen zum Ausdruck kommenden Phänomen der Reue Gottes, das insbesondere im Alten Testament von der Sintfluterzählung in Gen 6–9 an reichlich belegt ist, siehe das erhellende Buch von Jörg Jeremias, Die Reue Gottes, Neukirchen-Vluyn (1975) 21997.
20) S. o. Anm. 7. Ich habe dabei jetzt die beiden folgenden Sätze (»Die trügerische Richtigkeit der ›self-fulfilling prophecy‹ verewigt die Herrschaft des Irrtums. Der Voraussagende wird nämlich den tatsächlichen Ablauf der Ereignisse zum Beweis dafür heranziehen, daß er von Anfang an recht hatte.«) weggelassen, weil sie nicht im strengen Sinn zu MertonsDefinition gehören, sondern nur eine spezielle, allerdings naheliegendeMissbrauchsmöglichkeit dieser Definition beschreiben.
21) S. o. Anm. 4.
22) Siehe W. Härle, Vertrauenssache (s. o. Anm. 1).
23) So R. K. Merton, Die Eigendynamik gesellschaftlicher Voraussagen (s. o. Anm. 2), 145 (Hervorhebung im Text von WH).
24) Die Bedeutung des Glaubens für die self-fulfilling prophecy geht indirekt auch daraus hervor, dass z. B. bei einer Placebobehandlung die auffällige Größe oder Farbe von Tabletten sowie die ärztliche Dienstkleidung für die Glaubwürdigkeit und damit für die Wirkung der Behandlung eine wesentliche Rolle spielen.
25) The Powerful Placebo (s. o. Anm. 8), 43–73.
26) Wiedmaier (s. o. Anm. 8), 765.
27) Diese Fragen habe ich in meinem in Anm. 1 erwähnten Buch »Vertrauenssache« ausführlich behandelt.
28) S. a. a. O., 1–17.
29) Etymologisches Wörterbuch des Deutschen. Erarbeitet von W. Pfeifer, Berlin 21993, 454.
30) Besonders eindrucksvoll wird das szenisch dort dargestellt, wo Fluch- und Segensankündigungen bezogen auf Verbots- und Gebotsreihen an gegenüberliegenden Berghängen (des Ebal und Garizim) gesprochen und bekräftigt werden (so z. B. in Dt 26,16–30,20 sowie in Jos 8,30–35).
31) So wörtlich oder sinngemäß in Mk 1,14 f.; 3,34 f.; 8,34 f.; 10,15; Mt 21,22; Lk 7,22 f.; 11,13; 18,7 f.; Joh 3,16–18 u. 36; 5,24; 6,47; 8,12 u. 31; 11,25 f.; 12,46; 14,6–11; 20,21 f.; Apg 4,12; Röm 3,28; 5,1; 10,17; 14,7–9; 1Kor 1,18: 3,11; 13,13; 2Kor 4,6; Gal 4,4–7; 5,6; Eph 3,15; Phil 1,21; 3,20 f.; Kol 3,4; 1Thess 4,17 f.; 1Tim 2,3–6; Tit 3,3–6; 1Petr 1,3–5; 1Joh 3,1 f.; 4,16; Hebr 10,35–39; Offb 3,20; 21,3–7. Darüber stehen zweialttestamentliche Aussagen, die beide im Neuen Testament mehrfach zitiert werden: Gen 15,6: »Abram glaubte dem Herrn, und das rechnete er ihm zur Gerechtigkeit« (Röm 4,3 und Jak 2,23) sowie Hab 2,4: »der Gerechte aber wird durch seinen Glauben leben« (Röm 1,17; Gal 3,11 und Hebr 10,38).
32) O. Marquard, Schwierigkeiten beim Ja-Sagen, in: W. Oelmüller (Hg.), Theodizee – Gott vor Gericht?, München 1990, 101 f.
33) Siehe dazu W. Härle, Dogmatik, Berlin/Boston 62022, Abschn. 14.1.3 (»Die Aneignung des Heils durch den Glauben«), 514–519.
34) So in Mk 10,52; Mt 8,13; 9,22; 15,28; Lk 8,48; 17,19; 18,42 sowie Apg 3,16.
35) Siehe oben Anm. 8 und bei Anm. 25.
36) Unser Glaube, Gütersloh 2013, 471. Vgl. dazu E. Herms, Luthers Auslegung des Dritten Artikels, Tübingen 1987.
37) Unser Glaube, Gütersloh 2013, 49.