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Ausgabe:

Januar/2023

Spalte:

80-82

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Shearn, Samuel Andrew

Titel/Untertitel:

Pastor Tillich. The Justification of the Doubter.

Verlag:

Oxford u. a.: Oxford University Press 2022. 272 S. = Oxford Theology and Religion Monographs. Geb. £ 65,00. ISBN 9780192857859.

Rezensent:

Christian Danz

In der einschlägigen Forschung zu Paul Tillich ist die werkgeschichtliche Entwicklung seiner frühen Theologie oft thematisiert worden. Im Fokus standen hierbei vor allem seine beiden Dissertationen zur Religionsphilosophie Schellings. Diese Orientierung entspricht durchaus Tillichs eigenem Bild von seinem Werdegang, wie er ihn in verschiedenen biographischen Selbstdarstellungen in Szene gesetzt hat. Vom Zufallskauf der Werke Schellings bis hin zu seinem späteren Werk erfindet Tillich eine Entwicklung seines theologischen Denkens, die auf den Grundton der Kontinuität gestimmt ist. Interessant ist jedoch, was in diesen Selbstbeschreibungen nicht erwähnt wird: nämlich seine Prägung durch die modern-positive Bibeltheologie seiner akademischen Lehrer Adolf Schlatter und Wilhelm Lütgert. In diesem Kontext steht Tillichs Beschäftigung zunächst mit der Philosophie Fichtes und später mit der Schellings.

Die Bedeutung von Samuel Andrew Shearns Dissertationsschrift, die nun als Publikation vorliegt, besteht darin, diesen in der Forschung zumeist nicht berücksichtigten theologiegeschichtlichen Hintergrund anhand der erhaltenen Quellen eingehend rekonstruiert zu haben. »This book explores just this discovery during Tillich’s life in Germany, tracing the emergence of the jus-tification of the doubter in his early writings, up to the end of his service as a chaplain in the First World War, with special reference to his early sermons.« (3) Vor allem mit Blick auf Tillichs Predigten arbeitet S. die frühe Entwicklung der Theologie Tillichs heraus, die an der Entwicklung seines Verständnisses der Rechtfertigung des Zweiflers orientiert ist. Hieraus resultiert der Titel der Studie Pas-tor Tillich und der Vorschlag S.s, »that Tillich should also be read as a pastor, with pastoral concerns, influenced by and responding to his church political situation, and his theological tradition« (7).

Der Aufbau der Untersuchung ergibt sich aus ihrem Anliegen, die Entwicklung von Tillichs Rechtfertigungsverständnis nachzuzeichnen. Das erfolgt in sieben Schritten. Auf eine knappe Einleitung (1–15), die Intention, Forschungsstand und Methode der Studie erörtert, widmet sich das zweite Kapitel Justification and Doubt (1919) Tillichs Entwurf Rechtfertigung und Zweifel von 1919, den er anlässlich seiner Umhabilitierung von Halle nach Berlin verfasste (16–30). S. setzt mit dem Zielpunkt seiner Untersuchung ein, nämlich dem von Tillich in diesem Entwurf ausgearbeiteten Glaubensverständnis, welches die Gewissheit des Glaubens auf den Zweifel bzw. die moderne Subjektivität bezieht und den Zweifel gleichsam als die Realisierungsgestalt des Glaubens versteht. Die Kapitel drei bis neun zeichnen sodann den Weg Tillichs zu diesem Resultat in einer werkgeschichtlichen Perspektive nach, wobei vor allem Tillichs Predigten neben seinen akademischen Werken Berücksichtigung finden. Eine Conclusion (212–222) bündelt die Ergebnisse der Studie.

In dem 1919 verfassten Entwurf Rechtfertigung und Zweifel arbeitete Tillich ein theologisches Programm aus, welches sich signifikant von seiner Vorkriegstheologie unterscheidet. Worin diese Differenzen bestehen und wie sie werkgeschichtlich verständlich zu machen sind, ist nicht ganz deutlich, zumal Tillich Wendungen und Begriffe gebraucht, die sich bereits in seinen Texten aus der Zeit seines Studiums und der Promotionen finden. Ausführlich referiert S. den Argumentationsgang von Tillichs Ausführungen und hebt hervor, dass Rechtfertigung nicht als Aufhebung des Zweifels verstanden wird. Rechtfertigungsglaube sei die Bejahung des absoluten Paradox, womit der Zweifel zu einem Bestandteil der Gewissheit des Glaubens wird. Der werkgeschichtlichen Genese dieser Fassung der Rechtfertigung geht S. nach. Im dritten Kapitel Defence, Doubt, an Gracelessness (1904–1909) rekonstruiert er Tillichs Studienzeit sowie seine Examensarbeit. Aufschlussreich ist, dass S. das Verhältnis des jungen Tillich zu seinem Vater und dessen konservativ-positiver Bibeltheologie in seine Untersuchung einbezieht (33.38–41). Dadurch ergibt sich ein differenziertes Bild von Tillichs Entwicklungsgang, welches in Spannung zu seinen eigenen biographischen Selbstdarstellungen steht. »Tillich was conflicted about his father’s theological tradition, even as he vig-orously defended it in public.« (44) Durch den Einfluss von Fritz Medicus habe sich der junge Tillich am Ende seines Studiums von theologischen Positionen entfernt, wie sie Martin Kähler in Halle vertreten habe (55; vgl. 52–54).

Das Rechtfertigungsthema sowie der Zweifel treten erst in Tillichs Predigten in den Fokus seiner Aufmerksamkeit. S. untersucht ausführlich Tillichs Predigten aus Lichtenrade (56–74) auf das Verhältnis von Rechtfertigung und Zweifel und wendet sich sodann Tillichs Dissertationen zu Schelling sowie dem Kasseler Vortrag Die christliche Gewißheit und der historische Jesus von 1911 zu (75–103). Während die Lichtenradener Predigten zunächst auf den Grundton der Verzweiflung gestimmt sind, gelange er am Ende dieser Zeit zu einer paradoxen Position der Gnade (vgl. 71). Als Durchbruchserlebnis wird die Überarbeitung der Predigt vom 31. Mai 1909 über Joh 3,16–21 identifiziert (70). Vor diesem Hintergrund deutet S. Tillichs Schelling-Rezeption, die er in den Kontext der Theologien von Adolf Schlatter und Wilhelm Lütgert stellt (78–81). Auch hier wird der Zusammenhang von Rechtfertigung und Zweifel in den Blick gerückt und betont, Schellings unvordenkliches Sein sei die Quelle seines Rechtfertigungsverständnisses. »We can see here a Schellingian source of Tillich’s talk of God above God, and indeed also his later theory of symbols.« (84) Die Weiterentwicklung dieser Position bieten die Predigten aus Nauen (The Prodigal Doubter [Nauen 1911–1912], 104–125) und Moabit (Convincing the Doubter [Moabit 1912–1913], 126–152). Doch anders als in dem Entwurf Rechtfertigung und Zweifel von 1919 geht es in diesen Texten um die Überwindung des Zweifels. Das ist auch in Tillichs Systematischer Theologie von 1913 noch der Fall, die Gegenstand des achten Kapitels Doubt and System (1913/14) ist (153–181). »Tillich’s insistence on the paradox being the redemption from the standpoint of reflection suggests that in 1913, he offers redemption from doubt, but not justification of the doubter.« (181) Änderungen an dieser Auffassung der Erlösung als Aufhebung des Zweifels treten jedoch während Tillichs Zeit als Feldprediger im Ersten Weltkrieg auf (Tillich at War [1914–1918], 182–211). Nachgezeichnet werden diese Transformationen von Tillichs Rechtfertigungstheologie anhand seiner Kriegspredigten (183–196) und seiner Kriegskorrespondenz vor allem mit Emanuel Hirsch (196–207). Es ist das Paradox eines Glaubens ohne Gott, welches Tillich 1917 in Briefen an Hirsch und Maria Klein erwähnt (197 f.), in dem sich das neue Verständnis der Rechtfertigung ankündigt. »The paradox of ›faith without God‹ from 1917 is precisely the justification of the doubter who cannot believe in the objectification which is the concept of God.« (183) Allerdings deutet sich das neue Verständnis der Rechtfertigung bereits in Tillichs Predigt zum Reformationsjubiläum von 1917 an (188). Der Entwurf Rechtfertigung und Zweifel von 1919, damit schließt sich der Kreis, entfaltet das während des Kriegs gewonnene Verständnis der Rechtfertigung des Zweiflers in einer systematischen Perspektive. Glaube ist nicht die Überwindung des Zweifels, sondern der Zweifler ist in seinem Zweifel gerechtfertigt.

Damit bietet die Untersuchung Pastor Tillich eine werkgeschichtliche Rekonstruktion von Tillichs Rechtfertigungsverständnis zwischen 1904 und 1919 vor allem mit Blick auf dessen Predigten. Nachgezeichnet wird der »path from Tillich’s exclusion of the liberal doubter, as a student, to an affirmation of atheism as a form of faith, at the end of the war« (219). Dieser Weg weist einen »very significant change« (ebd.) auf. Doch worin besteht er? Nach S. in einer Kritik am »intellectual work« (207) der Gotteserkenntnis als Voraussetzung und Grundlage der Rechtfertigung. »Faith without God means faith without the necessity of the objectification ›God‹.« (208) Was das jedoch für die Konstruktion von Tillichs Theologie und ihrer systematischen Grundlegung bedeutet, bleibt leider in der Untersuchung von S. etwas unterbelichtet, da er sich weitgehend auf Referate der einschlägigen Texte beschränkt. Nichtsdestotrotz besteht das Verdienst der Studie darin, dass sie einen neuen Blick auf die Entwicklung des jungen Tillich wirft, die die Formierung von dessen Theologie im Kontext der modern-positiven Bibeltheologie seiner akademischen Lehrer verständlich zu machen sucht.