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Ausgabe:

Januar/2023

Spalte:

62-64

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Leß, Gottfried

Titel/Untertitel:

Sontags-Evangelia übersezt, erklärt, und zur Erbauung angewandt. 3 Auflagen: 1776–1781. Bibliothek der Neologie. Kritische Ausgabe in zehn Bänden. Bd. IV. Hg. v. B. Lemitz.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2021. LXIII, 605 S. Lw. EUR 149,00. ISBN 9783161612879.

Rezensent:

Markus Wriedt

Gottfried Leß wirkte von 1763–1791 an der aufgeklärten Reform-universität Göttingen. In nahezu drei Jahrzehnten erwarb der 1735 im westpreußischen Konitz (Chojnice) geborene Universitätsprediger und Professor für Theologie ein außergewöhnlich hohes Ansehen. Nach dem Schulbesuch in seiner Heimatstadt und auf dem Königsberger Collegium Fridericianum studierte er zunächst bis 1755 in Jena und weitere zwei Jahre in Halle. Wichtige Einflüsse erfuhr er durch Siegmund Jacob Baumgarten (1706–1757) und Johann Georg Walch (1693–1775), den wirkmächtigen Vertretern der sog. »Übergangstheologie«. 1791 wechselte L. nach Hannover als Konsistorialrat und Oberhofprediger sowie Generalsuperintendent der Grafschaft Hoya-Diepholz. Dazu übernahm er auch die Generalsuperintendentur des Fürstentums Calenberg und wurde 1795 Direktor der hannoverschen Hof-Töchter- und Söhneschule. Dort starb er 1797. Abschließende Urteile über sein bis heute insgesamt immer noch wenig erschlossenes Œuvre sehen in ihm einen der »namhaftesten Neologen« (K. Hammann).

In Göttingen hatte er große Wirksamkeit entfaltet. Er galt als beliebter Prediger und fleißiger Autor zahlreicher Publikatio-nen. Es lassen sich über 70 Schriften überwiegend apologetischen, dogmatischen und moralischen Inhalts nachweisen. Über 190 Predigten ließ er drucken. So auch die hier anzuzeigenden »Sontags-Evangelia«. Ursprünglich in wöchentlicher Folge in den »Göttingischen Anzeigen von gelehrten Sachen« ab 1775 erschienen, wurden die insgesamt 58 Predigten samt Anhängen und Zusätzen 1776 in einem zusammenhängenden Band veröffentlicht. Zwei weitere Auflagen erschienen 1777 und 1781; allesamt im Verlag der »Witwe Vandenhoeck« in Göttingen. In der anzuzeigenden kritischen Edition werden auf der Basis der ersten Auflage alle Veränderungen der folgenden Ausgaben minutiös erfasst. Eine Übersichtstabelle erfasst synoptisch den Bearbeitungsfortschritt (XXXVI–XXXVIII).

Texterfassung, Kommentierung und Verweise sind in dem in der »Kritische[n] Spalding Ausgabe« sowie den vier vorausgehenden Bänden der »Bibliothek der Neologie« erprobten und bewährten Verfahren angelegt. Dabei werden Abkürzungen aufgelöst und fehlerhafte Textpassagen behutsam korrigiert (XLIV–LXIII). Dem Text sind zahlreiche weiterführende und erklärende Erläuter-ungen beigefügt (463–566). Sie müssen während der Lektüre zur jeweiligen Seite aufgesucht werden. Angesichts der bereits unter dem Text stehenden zwei Apparate ist der mangelnde Hinweis im Originaltext leicht zu verschmerzen. Der Ausgabe sind Register zu Bibelstellen, Personen, Antiken Autoren und Sachen beigefügt. Ein zusammenfassendes Literaturverzeichnis fehlt leider.

Die Predigtsammlung lässt das Profil des Göttinger Universitätspredigers gut erkennen. Er sucht die tradierte Bibelfrömmigkeit mit dem aufgeklärten Subjektivismus zu vermitteln. Dabei legt er einen Schwerpunkt auf die Explikation der aus der Textauslegung folgenden moralischen Handlungsorientierung und -anweisung. Schriftauslegung, Erbauung im Sinne der Erweckung handlungsstiftender Affekte und die moralische Besserung der Zuhörer sind die wesentlichen Elemente seiner Predigten. Damit bestätigt L. die bereits in seinem 1765 veröffentlichten homiletischen Traktat »Betrachtungen über einige neuere Fehler im Predigen welche das Rürende des Kanzelvortrags hindern« erkennbare Tendenz zu einer wenig originellen Auffassung im Bereich der Predigtlehre. Sie steht weitgehend im Einklang mit der frühaufklärerischen Homiletik und sucht mit äußerster Zurückhaltung zur Revision der dogmatischen Überlieferung am Kriterium des praktisch-ethischen Nutzens der Lehrvorstellungen beizutragen. Zum Ende seiner Göttinger Zeit wird er dieses apologetische Grundmotiv in einer weiteren Schrift »Ueber Christliches Lehr-Amt« wiederholen. Ziel der Predigt des Evangeliums ist es, die Menschen mit geisti-gen Mitteln zur Besserung und zur Glückseligkeit anzuleiten.

Auch in seiner postillenartigen Zusammenstellung der Sonntagspredigten konzentriert sich L. auf die ethischen Implikationen der Offenbarungswahrheiten. Bemerkenswert ist bei dieser Sammlung aber der Beibehalt der lutherischen Perikopenordnung, von der sich die aufgeklärte Predigt und insbesondere L. eigentlich verabschiedet hatten. Herrschte üblicherweise auch in Göttingen eine Themenpredigt mit nur losem Textbezug vor, geht L. in seiner Zusammenstellung von den vorgegebenen Texten der Leseordnung aus. Dabei trägt er in Analogie zum Schema der Homilie den wesentlichen Textbestand vor, um ihn in einem zweiten Teil der Predigt sodann handlungspragmatisch und erbaulich auszulegen. In diesen Passagen traktiert L. ausführlich den orthodoxen Topos der Heiligung. Er erliegt an keiner Stelle der Gefahr der Behauptung einer pelagianischen Selbstverantwortung des Menschen für sein Heil. Wohl aber ist der Duktus seiner Ausführungen in signifikantem Unterschied zur reformatorischen »sola gratia«-Auffassung von einer moralischen Tendenz zur praktischen Anwendung der erfahrenen Gnade Gottes und damit einer semipelagianischen Mit-Verantwortung für die eigene Besserung geprägt. Beide Ausdrücke »Heiligung« und »Verdienst« fallen nicht – jedenfalls sind sie im Register nicht ausgewiesen –, sind aber der Sache nach in den meisten Predigten vorhanden.

Neben die Besonderheit der Perikopentreue tritt weiterhin das Bemühen um eine angemessene Wiedergabe des biblischen Textes. L. vermerkt im Vorwort, dass er die den Predigten zugrundeliegenden Schriftpassagen neu übersetzt und in zeitgemäßes Deutsch übertragen habe. Der Herausgeber Lemitz vermutet, dass den neutestamentlichen Passagen die großen Ausgaben von Johann Jakob Wettstein (Novum Testamentum Graecum, 2 Bde. Amsterdam 1751/52) und evtl. J. J. Griesbach (Novum Testamentum Graece, 2 Bde. Halle 1774/1775; 21796/1806) zugrunde lagen. Es verwundert etwas, dass nur die zweite Auflage in den Erläuterungen (463) aufgenommen wurde, da L., wenn überhaupt, für seine Arbeit die erste Auflage konsultiert haben dürfte. Weitere Hilfsmittel stellt etwa Wilhelm Abraham Tellers »Wörterbuch zum Neuen Testament« (Berlin 1772 fünf Auflagen bis 1805 – Das Werk ist bereits als Band IX der »Bibliothek der Neologie« Tübingen 2022 erschienen). Immerhin ist unübersehbar, wie L. vom Wortlaut der Luther-Übersetzung abweicht (XXII). Über die Textgrundlage der hebräischen Bibelpassagen oder deren griechische Übersetzung in der LXX machen Leß und auch sein Herausgeber keine Angaben.

Insgesamt erweisen sich die Auslegungen als auf dem Höhepunkt exegetisch-religionsgeschichtlichen Wissens aus dem 17. und 18. Jh. stehend, wie sich beispielhaft an einer kritischen Passage zu Flavius Josephus’ »Jüdischem Krieg« (138–140 u. ö.) zeigt. Wiewohl in ihrer konfessionellen Positionierung völlig eindeutig, fehlen den Predigten insgesamt kontroverstheologische Polemiken. Dennoch wird man L. keine Nivellierung des konfessionstheologischen Unterschiedes unterstellen können. Wichtige Lemmata wie beispielsweise das der »Pharisäer«, die er ihrer Streit- und Disputationslust wegen kritisiert (13.110.151.235.241.289 f. 303 u. ö.), lassen eine konfessionelle Inanspruchnahme zu.

Die Sammlung ist für den »Leser« (18.462) konzipiert. Der immer wieder von Krankheit geplagte Gelehrte hatte bereits 1777 auf sein Amt verzichtet, es aber dann doch immer wieder, unterstützt durch andere Prediger, weitergeführt. Im Nachwort hebt L. allerdings auch hervor, dass er aufgrund der Veröffentlichung seiner Predigten nur kürzer sprechen könne und so Zeit zum Gebet verbliebe (462). Wahrscheinlich haben die Predigten über den vornehmlich akademischen Hörendenkreis in der Göttinger Universitätskirche hinaus das lesende Publikum angesprochen. Eine klare Vorstellung der durch diese Predigten erreichten Öffentlichkeit ist aber nicht zu rekonstruieren.

Die Predigten von L. zeugen von einer Kompilation orthodoxer, pietistischer und aufgeklärt-rationalistischer Theologie. Im Erläuterungsapparat werden so einige Bezüge offengelegt. Allerdings fallen Verweise auf die breite voraufklärerische Tradition der Reformationszeit und der ihr vorausliegenden Traditionsepochen äußerst knapp aus (vgl. 8 mit Luthers Hinweis einer »auf den Bauch« ausgerichteten Sichtweise, oder aber die Aufnahme des Verdienstgedankens von Augustin, 43). Alle diese und weitere Bezugnahmen aufzuweisen würde allerdings die Erläuterungen erheblich be- und überlasten. Die Hinweise hier verweisen aber auf das Desiderat einer theologiegeschichtlichen Untersuchung des Göttinger Universitätspredigers und -professors und seiner Beziehungen zum zeitgenössischen wie theologiegeschichtlichen Erbe.

Der anzuzeigende Band ist fraglos ein weiterer Baustein zur theologiegeschichtlichen Neubewertung der Neologie, zu der insbesondere der Reihenherausgeber Albrecht Beutel in Münster mit seinen Mitarbeitern seit mehr als 20 Jahren intensiv beiträgt. So bleibt zu hoffen, dass die bibliophile Ausgabe Anlass zur weiteren Beschäftigung mit den Neologen im letzten Drittel des 18. Jh.s ist und Anreiz zu weiter ausgreifenden Studien gibt. Auch in der akademischen Lehre, nicht nur in kirchengeschichtlichen, sondern auch in interdisziplinären Veranstaltungen etwa mit Vertretern des Neuen Testaments oder der Praktischen Theologie können die »Sontags-Evangelia« von L. wertvolle Einsichten ermöglichen.