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Ausgabe:

Januar/2023

Spalte:

50-52

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Cole, Daniel M. I.

Titel/Untertitel:

Isaiah’s Servant in Paul. The Hermeneutics and Ethics of Paul’s Use of Isaiah 49–54.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2021. XII, 361 S. = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament. 2. Reihe, 553. Kart. EUR 89,00. ISBN 9783161593406.

Rezensent:

Rouven Genz

Mit diesem Band hat Daniel Cole, Lecturer für Neues Testament und Griechisch am Trinity Theological College in Perth, eine vor allem im ersten und letzten Teil überarbeitete Fassung seiner Dissertation vorgelegt, mit der er 2018 unter D. A. Carson an der Trinity Evangelical Divinity School in Deerfield, Illinois, promoviert wurde. Um es vorwegzunehmen: Die neutestamentliche Wissenschaft hat damit einen Beitrag erhalten, über den nicht ohne Verlust hinweggesehen werden kann. Hier werden wertvolle Einsichten aus der bisherigen Diskussion gebündelt und in stringenter Weise weiterführende Erkenntnisse geboten. Thema der Diskussion sind diejenigen Texte aus dem Jesajabuch, die oft in geheimnisvoller Weise von der Gestalt eines Gottesknechts sprechen, und speziell deren Rezeption durch die neutestamentlichen Autoren. Dass der Diskurs auf diesem Gebiet nach wie vor nötig und im Gange ist, zeigt auch der im gleichen Jahr in derselben Reihe nachfolgend veröffentlichte Sammelband Isaiah’s Servants in Early Judaism and Christianity (hg. v. M. A. Lyons and J. Stromberg, WUNT II/554). Dort wird in der Einführung als Erkenntnis der jüngeren Forschung herausgestellt, dass die späteren Texte in der Art, wie sie von den jesajanischen Texten Gebrauch machen, thematische Entwicklungen darstellen, die im Jesajabuch als Ganzem schon angelegt sind. Es geht also um die Betrachtung der Passagen in ihrem ursprünglichen Gesamtzusammenhang und um die Kernfrage, mit welcher Begründung und unter welchen Voraussetzungen die Gottesknechtstexte auf neutestamentlicher Seite sowohl auf Jesus als auch auf seine Jünger bezogen werden konnten (ebd., 7–9).

Genau diesen Fragen und diesem Anliegen widmet sich auch C. in eigener Weise und in monographischer Länge – mit dem Schwerpunkt auf Paulus. Nach einem instruktiven Forschungsüberblick (3–14) markiert er seine Zielsetzung und Vorgehensweise (15–25): Er möchte die theologische Rechtfertigung und die ethischen Implikationen des Bezugs auf die jesajanische Gottesknechts-Tradition bei Paulus herausarbeiten. Dabei ist er sich in der Diskussion um den Gebrauch des Alten im Neuen Testament beim Ansatz der Intertextualität der Möglichkeit einer »echomania« bewusst und entscheidet sich gegenüber nur möglichen Anspielungen und Echos für die expliziten Zitate und Allusionen als deutlichste Verwendung der Gottesknechts-Tradition (20 f.). Die Untersuchung erfolgt in drei Schritten: Zunächst wird die Bedeutung der Verse im jesajanischen Kontext und nach dem hebräischen Wortlaut beleuchtet (Kap. 2). Anschließend wird die Rezeption dieser Verse in der Septuaginta und in weiteren Texten aus der Zeit des Zweiten Tempels betrachtet (Kap. 3), bevor im Vergleich dazu die eindeutigen Bezugnahmen auf den Textkorpus Jes 49–54 bei Paulus exegesiert werden (Kap. 4–6). Am Ende werden die Implikationen der Ergebnisse in dreifacher Hinsicht bedacht: für die weitere Untersuchung der Verwendung des Alten im Neuen Testament, für die paulinische Ethik und für den Auftrag der Kirche (Kap. 7).

Im grundlegenden Kapitel 2 (26–69) kommt C. zu dem Ergebnis, dass die einzelnen Verse aus dem Bereich der Gottesknecht-Prophetien in Jes 49–54, die Paulus in seinen Briefen anführt, bei Jesaja Teil einer heilsgeschichtlichen narratio sind und daher nicht losgelöst und unabhängig von ihrem unmittelbaren Kontext betrachtet werden dürfen. Der Gottesknecht im Gesamtkontext von Jes 49–54 ist demnach ein »prophetic individual marked by faith and proclamation, around whom God promises to accomplish not only a new exodus but a new creation«; der Knecht erreicht dies durch seinen Tod sowie durch sein Weiterwirken in der Verkündigung seiner Knechte (23.58). Diese sind bestimmt durch ihre Beziehung zum Gottesknecht im Vertrauen auf sein Wort und Werk und erfahren als Teil ihrer weltweiten Verkündigung auch Leiden, das freilich von anderer Art ist als das stellvertretende Sühneleiden, welches der Knecht erduldet (65 f.).

Der dritte Teil (70–120) bietet für die betreffenden Verse eine detaillierte Analyse der Nuancen bei der Übersetzung ins Griechische der LXX (theologisch bedeutsam etwa bei Jes 52,15, wo im Hebräischen von einer »Besprengung« der Heiden die Rede ist, welche sich laut C. durch die Verkündigung der Knechte vollzieht). Als weitere Texte mit Bezügen auf die Gottesknechts-Tradition kommen in den Blick: 1Henoch, Psalmen Salomos, Weisheit, die qumranischen Schriften 11QMelch und Hodayot (1QHa) sowie Targum Jonathan – mit dem Ergebnis, dass hier jeweils vor allem die Unterdrückung des Gottesvolkes und die Erwartung eines Befreiers den historischen Hintergrund für die Bezugnahme bot.

Die Exegese der relevanten Paulustexte (121–290) unternimmt C. in drei Schritten, geordnet nach den Bezügen im Römerbrief (Jes 52,5 in Röm 2,24; Jes 52,7 und 53,1 in Röm 10,15 f.; Jes 52,15 in Röm 15,21), im 2. Korintherbrief (Jes 49,8 in 2Kor 6,2; Jes 52,11 in 2Kor 6,17) und schließlich im Galaterbrief (Jes 49,1 in Gal 1,15; Jes 54,1 in Gal 4,27). Dabei geht er jeweils auf den Kontext ein, erhebt den genauen Wortlaut im Vergleich mit der hebräischen und griechischen »Vorlage« und plausibilisiert, welche Motivation Paulus bei der Bezugnahme auf die Gottesknechts-Tradition geleitet hat.

Die Hauptthesen lassen sich folgendermaßen zusammenfassen: Paulus liest die Verse aus den Gottesknechts-Prophetien Jesajas als Teil eines größeren heilsgeschichtlichen Ganzen und er sieht sie zu seiner Zeit erfüllt, ja er sieht sich selbst in die Erfüllung dieser Prophetien einbezogen (240.291). Er erfüllt sowohl die Rolle des Botschafters aus Jes 52 als auch des individuellen Knechts aus Jes 49. Seine Gemeinden und alle, die seine Botschaft noch hören sollen, begreift er ebenfalls vor diesem Hintergrund. Die Heilsgeschichte ist mit dem Tod und der Auferstehung Jesu, dem einzigartigen Gottesknecht nach Jes 53, zu einem Höhepunkt gelangt und nun hat auch Paulus seinen Platz darin. Neben dem heilsgeschichtlichen Aspekt ist die »spiritual union with Christ« der Grund dafür, warum Paulus die Jesaja-Texte so verstehen kann, wie er es tut: Er trägt nicht etwas in die Texte ein, das ihnen nicht inhärent wäre, sondern findet beides, den heilsgeschichtlichen Ansatz und die »union« der Knechte mit dem Gottesknecht in den Texten angelegt. So wirkt der Gottesknecht Jesus durch ihn weiter (22–24.212 f.236). Die Jesaja-Rezeption prägt demnach das Amtsverständnis des Paulus und die Art, wie er seinen Dienst ausführt, bis hin zu seiner Ethik (292).

Stilistisch ist das Werk gut gelungen. Obwohl an vielen Stellen erwartbar detailliert und ausführlich, ist die Argumentation stets erkennbar. Durchgängig wird dem Leser auch für Einzelfragen die jeweilige Forschungslage klar gegliedert vor Augen geführt und in kritisch-konstruktiver Haltung gegenüber anderen Positionen der eigene Standpunkt herausgearbeitet. Es sind nur wenige und marginale Corrigenda zu entdecken (z. B. die irrtümliche Bezeichnung von Kapitel 5 als Kapitel 4 im Inhaltsverzeichnis), die die Qualität der Arbeit nicht schmälern. Die ausführliche Bibliographie und verschiedene Indices belegen, dass C. neben englisch- auch deutsch- und französischsprachige Beiträge gewürdigt und die internationale Forschung berücksichtigt hat.

Selbst wenn man an manchen Stellen zu anderen Ergebnissen kommen sollte, ist C. für die Auseinandersetzung ein wertvoller Gesprächspartner. Dem Band und seinem Autor ist in Fragen der gesamtbiblischen Hermeneutik und im Blick auf Paulusstudien eine breite Rezeption zu wünschen.