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Ausgabe:

Dezember/2022

Spalte:

1218–1220

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Gautier, Dominik

Titel/Untertitel:

Die Ambivalenz des Realismus. Reinhold Niebuhrs theologische Ethik in rassismuskritischer Perspektive.

Verlag:

Zürich: Theologischer Verlag Zürich 2022. 265 S. = Christentum und Kultur, 18. Kart. EUR 42,90. ISBN 9783290184599.

Rezensent:

Marco Hofheinz

Dominik Gautier hat mit dieser Studie eine beachtenswerte, an der Universität Oldenburg eingereichte Dissertation vorgelegt. Ihm gelingt es, die Theologie dieses im US-amerikanischen Kontext äußerst einflussreichen Denkers ins Gespräch zu bringen; zum einen, indem er herausarbeitet, dass Niebuhr selbst als dialogischer Denker sich in diversen Gesprächskonstellationen befand: etwa in den 1950er und 1960er Jahren mit der Bürgerrechts-Bewegung (u. a. James Baldwin) oder vor allem zu Beginn seines Wirkens mit der Social-Gospel-Bewegung, die er beerbte und in deren Denk-raum er nach Auffassung des Vf.s trotz Kritik stets verblieb; zum anderen, indem der Vf. auf dem Hintergrund des rekonstruierten dialogischen Profils der theologischen Ethik Niebuhrs weitere Gesprächsmöglichkeiten ausschreitet, die Niebuhr selbst nicht oder nur in Ansätzen wahrnahm. Dies betrifft etwa das Gespräch zur Ekklesiologie mit seinem Kritiker Stanley Hauerwas, das misslungene Gespräch mit Karl Barth und vor allem mit der »Black Theology« James H. Cones bzw. der »Neueren Schwarzen Theologie«. Der Vf. zeigt hier verschiedene Verständigungsmöglichkeiten auf, eröffnet also Dialogperspektiven, verschont Niebuhr bei aller Sympathie aber keineswegs vor Kritik, was die Ambivalenz von dessen sog. »Christian Realism« betrifft. Entsprechend mündet die Untersuchung konsequenterweise in das Schlussplädoyer: »Dialog riskieren« (231–234).

Zuvor entfaltet der Vf. in zwei groß angelegten Kapiteln seine Interpretation der Theologie Niebuhrs. Sie folgen auf eine knappe Einleitung (11–24), in der er seinen persönlichen Zugang zur Thematik schildert, den ihm James H. Cone in New York vermittelte, das »Revival« Niebuhrs in Öffentlichkeit und Forschung erörtert und Anliegen sowie Aufbau der Arbeit nebst Präliminarien zu Sprache, Geschlecht und »Rasse« expliziert. Danach entwickelt der Vf., gewissermaßen einer Zoombewegung folgend, seine Interpretation der Theologie Niebuhrs. Im ersten Kapitel (25–134) werden mit weitem Fokus nach biographischen Ausführungen zu Niebuhrs Leben und Werk (27–51) die theologischen Grundlagen seiner Ethik vor allem anhand einer Interpretation von dessen Gifford Lectures »The Nature and Destiny of Man« (1941/1943) entfaltet. Niebuhrs Sünden- und Erlösungsverständnis kommen ebenso zur Sprache wie sein Gottesbild, seine Kreuzestheologie und seine Reich-Gottes-Auffassung, und zwar als Grundlagen eines »Christian Realism«, der die Widersprüchlichkeit und Verstrickung des menschlichen Daseins in Ungerechtigkeit im Sinne eines simul iustus et peccator zugleich theologisch pointieren und politisch zuzuspitzen vermag: »Des Menschen Anlage zur Gerechtigkeit macht Demokratie möglich; aber des Menschen Neigung zur Ungerechtigkeit macht Demokratie notwendig« (so Niebuhrs berühmtes Diktum aus »Die Kinder des Lichtes und die Kinder der Finsternis«, München 1947, 8). Als Scharnier zum zweiten großen Kapitel fungiert eine Reflexion zum dialogischen Profil von Niebuhrs Ethik, das dessen ökumenische Sensibilität, auch was den jüdisch-christlichen Dialog etwa mit Niebuhrs Freund Abraham Joshua Heschel betrifft, unterstreicht.

Im zweiten Kapitel (135–230) wird der Fokus bewusst verengt und die Rassismusproblematik herangezoomt. Die vor allem stark fundamentalanthropologisch angelegten Ausführungen zur Grundlegung von Niebuhrs Ethik erhalten nun eine Konkretion, indem die kleineren themenbezogenen und im engeren Sinne ethischen Studien Niebuhrs, die man werkgeschichtlich gerne übersieht, mit einbezogen werden. Auf dem Hintergrund kritischer Rassismusforschung und interdisziplinärer Diskurskompetenz (etwa im Blick auf Identitätskonstruktion) kann der Vf. Niebuhrs Auseinandersetzung mit dem Rassismus rekonstruieren. Der Vf. arbeitet treffend heraus, wie der eschatologische Vorbehalt in Niebuhrs Auseinandersetzung mit der Bürgerrechtsbewegung zugleich als Motor und Hemmschuh wirkte: Im Sinne des »schon jetzt« und einer präsentischen Eschatologie konnte er etwa den gewaltlosen Widerstand als ansatzweise Realisierung des Reiches Gottes würdigen. Im Sinne eines »noch nicht« verschob er allerdings die Forderung nach Autonomie und Partizipation durch Geduldsappelle auf eine ungewisse Zukunft und unterstützte so »white supremacy«. Diese Paradoxie lässt die Ambivalenz von Niebuhrs Realismus aufscheinen und macht dessen Teilhabe am Rassismus deutlich. Die Ausführungen des Vf.s münden in einen konstruktiv-theologischen Ausblick (197–230), der in kritischer Weiterführung Niebuhrs die Thematisierung von gegenwärtigem Rassismus in selbstkritisch-reflexiver Weise etwa im Gespräch mit Cone weiterzuführen versucht. Die Untersuchung unterstreicht die Notwendigkeit einer »involvierten Kritik«, d. h. »eine[r] Form von Kritik, die handlungsfähig zu bleiben versucht, ohne dabei die Gewissheit zu haben, auf der richtigen Seite zu stehen« (261).

Rückblickend zeigt sich im Blick auf die Disposition dieser Untersuchung: Ihre beiden Hauptkapitel verhalten sich, auch wenn man auf den ersten Blick vielleicht den Eindruck gewinnen könnte, keineswegs wie ein aufklappbares Diptychon aus rekonstruierter Selbstkritik Niebuhrs und dekonstruierender »Fremdkritik« zueinander. Nein, in beiden Kapiteln wechseln sich Rekonstruktion und Dekonstruktion der Theologie Niebuhrs ab und in beiden Kapiteln werden außerdem aufbauend auf Niebuhrs eigenen Impulsen weiterführende kritische Dialogmöglichkeiten eröffnet und so mancher anschlussfähige Gesprächsfaden entwickelt. Durch dieses Vorgehen wirkt die Untersuchung homogen und die (rassismus-)kritische Perspektivierung keineswegs aufgesetzt. Insgesamt stellt diese für eine Dissertation vergleichsweise knappe, aber gehaltvolle Arbeit einen wichtigen Beitrag zur Förderung des Gesprächs zwischen kritischer Rassismusforschung und christlicher Theologie dar, der manchen Anstoß für das theologische Gespräch in interdisziplinärer Ausrichtung gibt.