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Ausgabe:

März/2022

Spalte:

211–214

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Loader, William R. G.

Titel/Untertitel:

Sexuality and Gender. Collected Essays.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2021. IX, 463 S. = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament, 458. Lw. EUR 154,00. ISBN 9783161601996.

Rezensent:

Armin D. Baum

Es dürfte weltweit keinen Bibelwissenschaftler geben, der sich zum Thema Sexualität im antiken Juden- und Christentum besser auskennt als William Loader, Emeritus für Neues Testament an der Murdoch University in Perth. Im Laufe von rund zehn Jahren hat er sechs Monographien über Sexualität in der Septuaginta (2004), der Henochliteratur (2007), den Qumrantexten (2009), den Pseudepigraphen (2011), bei Philo und Josephus (2011) sowie im Neuen Testament (2012) veröffentlicht und seine Forschungsergebnisse 2013 in einem allgemeinverständlichen Band unter dem Titel »Making Sense of Sex« zusammengefasst.
Bei den 23 Aufsätzen des vorliegenden Sammelbands aus den Jahren 2005 bis 2020 handelt es sich um ergänzende Untersuchungen, die in den Monographien getroffene Aussagen weiterführen und zusammenfassen. Die ersten sechs Aufsätze sind der Septuaginta gewidmet, vor allem den Schöpfungserzählungen und der Weisheitsliteratur. Fünf Aufsätze behandeln sexuelle Themen in den Pseudepigraphen und drei Aufsätze in den Qumranschriften. Neutestamentliche Texte analysiert L. in neun Aufsätzen. Vornehmlich geht es in den 23 Kapiteln um Fragen der Sexualität und nur in zweiter Linie um das im Titel ebenfalls erwähnte soziale Geschlecht (Gender).
Beim Lesen fällt sofort ins Auge, dass L. deutschsprachige Sekundärliteratur häufiger heranzieht, als es in englischsprachigen Un­tersuchungen üblich ist (er hat 1972 an der Universität Mainz bei Ferdinand Hahn mit einer deutschsprachigen Dissertation über den Hebräerbrief promoviert).
Als ordinierter Geistlicher der Uniting Church in Australia be­schränkt L. sich nicht auf die historische und exegetische Arbeit an den antiken Texten, sondern fragt auch immer wieder nach der kirchlichen und gesellschaftlichen Relevanz seiner Ergebnisse. Dabei will er es ausdrücklich vermeiden, die Aussagen seiner Quellen bewusst oder unbewusst heutigen Mehrheitsmeinungen an­zunähern; er will die biblischen Texte gerade dann genau hören, wenn sie mit seinen persönlichen Überzeugungen unvereinbar sind (1–2).
Wie L. arbeitet und was seine Untersuchungen zur neutestamentlichen Exegese beitragen, lässt sich an zwei Themen verdeutlichen, auf die er in mehreren Aufsätzen zu sprechen kommt. Sowohl zum Thema Ehescheidung als auch zum Thema Homosexualität ist L. der Ansicht, dass wir heutigen Christen über die neutestamentliche Ethik hinausgehen, diese weiterentwickeln und dadurch auf ein höheres Niveau heben müssen.
In Kapitel 17 (»Did Adultery Mandate Divorce« [2015]) und mehreren weiteren Kapiteln vertritt L. die These, dass sowohl der historische Jesus und die Synoptiker als auch der Apostel Paulus der Ansicht waren, Ehebruch erzwinge die Ehescheidung (271–282): Nicht nur im Alten Testament (Lev 20,10; Dtn 22,22), sondern auch im antiken Judentum stand auf Ehebruch die Todesstrafe (vgl. Joh 8,4–5). Wo den Juden die Verhängung der Todesstrafe verboten war, wurde eine gebrochene Ehe geschieden (vgl. Prov 18,22 LXX; slHen 71,6; t Sot 5,9). An diese Regel hielt sich auch Joseph in der Weihnachtsgeschichte (Mt 1,18–19). Eine Ehefrau, die mit einem anderen Mann geschlafen hatte, galt aufgrund dessen für ihren Ehemann als unrein (vgl. 2Sam 20,3; Jub 33,9). Außerdem bestand die Gefahr, dass sie ein außerehelich gezeugtes Kind zur Welt brachte (vgl. Weish 4,6). Auch im griechischen und römischen Recht erzwang Ehebruch die Scheidung (vgl. 190.246–247.260–262).
Auf diesem Hintergrund sind nach L. zwei eng verwandte Jesuslogien zur Ehescheidung zu verstehen: »Wer seine Frau entlässt, es sei denn wegen Unzucht (d. h. Ehebruch), und eine andere heiratet, begeht Ehebruch« (Mt 19,9 par Mk 10,11 par Lk 16,18a). Weil die Scheidung einer nicht gebrochenen Ehe diese nicht auflöst, bricht ein Ehemann nach einer Scheidung aus unzureichenden Gründen im Moment der Wiederheirat seine erste Ehe. Entsprechend bricht nach Mk 10,12 eine Ehefrau, die sich aus unzureichenden Gründen von ihrem Mann scheiden lässt, durch Wiederheirat ihre erste Ehe. Eine Variante derselben Grundaussage lautet: »Jeder, der seine Frau entlässt, es sei denn wegen Unzucht (d. h. Ehebruch), bewirkt, dass mit ihr Ehebruch begangen wird.« (Mt 5,32a) Ein Ehemann, der eine aus unzureichenden Gründen entlassene Ehefrau heiratet, bricht deren noch bestehende Ehe (Mt 5,32b; Lk 16,18b).
Jesus setzte in diesen Aussagen im Anschluss an Gen 2,24 (»sie werden ein Fleisch«) voraus, dass außerehelicher Geschlechtsverkehr die einzigartige Verbindung mit dem Ehepartner zerstört und durch eine einzigartige Verbindung zu einem anderen Partner ersetzt (Mt 19,4–6). Daraus folgert L., Jesus müsse aufgrund von Gen 2,24 auch das Fortbestehen einer durch Ehebruch zerstörten Ehe abgelehnt und ihre Scheidung gefordert haben (vgl. 265–268.285).
Auch Paulus argumentierte sexualethisch im Anschluss an Gen 2,24: Ein Christ, der Geschlechtsverkehr mit einer Prostituierten hat, stellt mit dieser eine einzigartige Verbindung (»ein Leib« bzw. »ein Fleisch«) her, die seine einzigartige geistliche Verbindung mit Christus (»ein Geist«) zerstört (1Kor 6,15–17). Darum muss nach L. auch Paulus der Ansicht gewesen sein, dass ein Ehebruch die Ehescheidung erzwingt (vgl. 246–248.263–265).
Welche Folgen hat diese Exegese für die christliche Sexualethik und Eheseelsorge? L. ist der Ansicht, dass sichere Verhütungsmittel, die die Geburt illegitimer Nachkommen verhindern, uns heute die Möglichkeit geben, anders zu urteilen als Jesus und Paulus: »Combined with the insights and skills of reconciliation and forgiveness, many marriages remain intact even after the trauma unsually associated with adultery.« (269)
Diese Deutung halte ich nicht für zutreffend. Erstens können die frühjüdischen Quellen zwar belegen, dass ein betrogener Ehemann sich normalerweise von seiner untreuen Ehefrau scheiden ließ; es lässt sich m. E. aber nicht nachweisen, dass er dazu vor 70 n. Chr. verpflichtet war (vgl. D. Instone-Brewer, Divorce and Remarriage in the Bible [2002], 94–99).
Zweitens sagen in Mt 19,7–8 die Pharisäer, Mose habe (in Dtn 24,1–4) die Ehescheidung »geboten«, während Jesus sagt, Mose habe sie »erlaubt«. In Mk 10,3–4 sagen auch die Pharisäer, dass Mose die Ehescheidung lediglich »erlaubt« habe. Dieser Befund spricht dagegen, dass Jesus eine Pflicht zur Ehescheidung gelehrt hat.
Drittens würde die Aussage, dass Ehebruch nicht vergeben werden kann, sondern zur Scheidung zwingt, nicht zu anderen Jesuslogien passen, in denen Jesus von seinen Anhängern außergewöhnlich große Vergebungsbereitschaft fordert (Mt 18,21–22 par Lk 17,3–4). Dass Jesus mehr Gnade predigte als das mosaische Gesetz und seine Vertreter, ergibt sich auch aus der (von L. als historisch anerkannten) Ehebrecherinnenperikope, derzufolge Jesus für eine Ehebrecherin nicht die Todesstrafe forderte, sondern sie gehen ließ (Joh 8,5.11) – so wie Gott dem David, über das mosaische Gesetz hinaus, seinen Ehebruch vergeben und die Todesstrafe erlassen hat (2Sam 12,13). Aus diesen Gründen bin ich im Unterschied zu L. der Ansicht, dass christliche Paare, die sich nach einem Ehebruch wieder versöhnen, damit nicht über die von Jesus verkündigte Ethik hinausgehen, sondern ihr gemäß handeln.
In Kapitel 21 (»Reading Romans 1 on Homosexuality« [2017]) und mehreren anderen Kapiteln entfaltet L. seine Überzeugung, dass Paulus jegliche Form homosexuellen Verlangens und Verkehrs ab­gelehnt hat (349–377): Im frühen Judentum wurde homosexuelles Verhalten ausnahmslos abgelehnt. L. zieht u. a. Philo heran, der nicht nur die Päderastie, sondern auch den einvernehmlichen gleichgeschlechtlichen Verkehr Erwachsener verurteilte (Abr 135–136). Philo kannte zwar den in Platos »Gastmahl« von Aristophanes vorgetragenen Mythos vom Kugelmenschen, der zwischen von Natur aus heterosexuellen und von Natur aus homosexuellen Menschen unterschied (VitCont 63); dennoch lehnte er unter Berufung auf die biblischen Schöpfungserzählungen jedes homosexuelle Verhalten ab (vgl. 181–183).
L. hält es für wahrscheinlich, dass auch Paulus die (nicht nur) bei Plato nachweisbare Unterscheidung zwischen verschiedenen sexuellen Orientierungen bekannt war; weil Paulus sich an einer göttlichen Schöpfungsordnung orientierte, habe er jedoch wie Philo auch den homosexuellen Geschlechtsverkehr homosexuell orientierter Partner abgelehnt. Paulus habe sein negatives Urteil auch nicht auf homosexuellen Verkehr mit Minderjährigen oder Sklaven beschränkt. Und er habe nicht nur homosexuelles Verhalten, sondern auch homosexuelles Verlangen verurteilt (vgl. 287). Die Paulusbriefe enthielten keinen Hinweis darauf, dass der Apostel sich von der Argumentation seiner frühjüdischen Zeitgenossen absetzte, die ihre Position aus dem mosaischen Gesetz und den biblischen Schöpfungserzählungen ableiteten.
L. wundert sich über »the extraordinary manoeuvres which have been undertaken to re-read Paul as not condemning homosexual relations at all« (349). Sein eigener Weg besteht darin, sich bei allem Respekt für die paulinische Position von dieser zu distanzieren und gegen Paulus kirchliche Trauungen homosexueller Paare zu befürworten.
Ich halte L.s Ergebnis, dass Paulus homosexuelles Verhalten insgesamt abgelehnt hat, für exegetisch und historisch überzeugend. Dass Paulus auch homosexuelle Gefühle als Sünde eingestuft hat, wird in Röm 1 m. E. aber nicht gesagt. Paulus kann eine homosexuelle Orientierung durchaus als »Schöpfungsstörung« bzw. (im philosophischen Sinn) als »Übel« aufgefasst haben. Außerdem finde ich es mit L. unbestreitbar, dass Paulus sich in Röm 1 argumentativ auf die erste Schöpfungserzählung (Gen 1,26–28) bezog. Ein auffälliger Un­terschied zu vielen frühjüdischen Autoren scheint mir jedoch darin zu liegen, dass in den Paulusbriefen nirgends mit den Verboten des mosaischen Gesetzes (Lev 18 und 20) argumentiert wird.
Nachvollziehbar finde ich schließlich auch, dass L. die Verbote des Buches Leviticus für Christen nicht mehr gelten lassen will. Unklar geblieben ist mir aber, ob er so auch über die biblischen Schöpfungserzählungen urteilt. Betrachtet er die jüdisch-christlichen Schöpfungsaussagen weiterhin als grundlegend für eine christliche Sexualethik oder würde er dem griechischen Mythos vom Kugelmenschen den Vorzug geben? Das wäre aus meiner Sicht ein zu weitreichender Schritt.
Unabhängig von solchen schwierigen exegetischen und vor allem hermeneutischen Fragen steht eines außer Zweifel: Für die sexualethischen Diskussionen, die die christlichen Kirchen und ihre Theologen seit einigen Jahrzehnten weltweit in Atem halten, bilden L.s Monographien und Aufsätze eine einzigartige Ressource.