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Ausgabe:

Dezember/2021

Spalte:

1222-1226

Kategorie:

Kirchengeschichte: Mittelalter

Autor/Hrsg.:

Guiliano, Zachary

Titel/Untertitel:

The Homiliary of Paul the Deacon. Religious and Cultural Reform in Carolingian Europe.

Verlag:

Turnhout: Brepols Publishers 2021. 341 S. m. Abb., Ktn. u. Tab. = Sermo, 16. Geb. EUR 90,00. ISBN 9782503577913.

Rezensent:

Lukas J. Dorfbauer

Zachary Guiliano, College Chaplain of St. Edmund Hall (Oxford), legt mit diesem Buch eine überarbeitete Fassung seiner Doktorarbeit vor, welche in Cambridge unter der Mittelalterhistorikerin Rosamond McKitterick entstand und dem Paulus Diaconus-Homiliar (= PD) gewidmet ist. Die Forschungssituation zu dieser Predigtsammlung, deren Erstellung von Karl dem Großen selbst angeregt wurde, ist merkwürdig: Einerseits wird in fast jeder ausführ-licheren Behandlung der Karolingerzeit erwähnt, wie groß die theologische und kulturelle Bedeutung von PD gewesen sei; andererseits wurde das Werk bisher nur zweimal im Detail untersucht, zuerst 1897 von Friedrich Wiegand (»Das Homiliarium Karls des Grossen auf seine ursprüngliche Gestalt hin untersucht«) und dann 1980 innerhalb von Réginald Grégoires Monographie über die frühmittelalterlichen lateinischen Homiliare (»Homéliaires liturgiques médiévaux: Analyse de manuscrits«, eine überarbeitete und erweiterte Fassung seines »Les Homéliaires du Moyen Âge: Inventaire et analyse des manuscrits« von 1966).
Wie G. im ersten Kapitel (nach einem einführenden Forschungsüberblick) herausstellt – und wie Raymond Étaix zuerst 1978 andeutete –, hat man sich bisher ein nicht ganz zutreffendes Bild von der originalen Struktur von PD gemacht. Das Homiliar bietet für die Sonntage und Kirchenfeste des liturgischen Jahres Evangelienlesungen und darauf bezogene Predigten (insgesamt 243) von Autoritäten wie Gregor dem Großen, Beda oder Augustinus; wie bei derartigen Sammlungen üblich, erscheint es aufgeteilt in einen Winterteil (Adventszeit bis Karsamstag) und in einen Sommerteil (Ostersonntag bis Matthäustag, 21.9.), wobei Letzterer als Anhang auch das sogenannte Commune sanctorum (Heiligenfeste) umfasst. Da sich der liturgische Zirkel im Mittelalter von Ort zu Ort mehr oder weniger stark unterschied, wurden Homiliare – so auch PD – eher selten unverändert kopiert; oft schied man selbständig einzelne Festtage bzw. darauf bezogene Texte aus, nahm dafür andere auf oder stellte die Reihenfolge um. Als Friedrich Wiegand am Ende des 19. Jh.s seine bislang grundlegende Studie zu PD verfasste, kannte er nur wenige Textzeugen, welche sich nach Inhalt und Struktur teils stark unterscheiden; die Form von PD, die er auf dieser Basis als original rekonstruierte, wurde von Grégoire im Wesentlichen akzeptiert und damit für die Forschung kanonisiert. G. hat sich bemüht, möglichst viele vollständig oder fragmentarisch erhaltenen Handschriften von PD – es gibt weit über 300 – bis ins 15. Jh. zu berücksichtigen, und kann überzeugend aufzeigen, was an jener Rekonstruktion zu ändern ist.
Die Korrekturen für den Winterteil sind gering und führen lediglich zu einer im Vergleich zu Wiegand-Grégoire etwas abweichenden Zählung der Texte (vgl. die Tabelle, 58); der Sommerteil hingegen folgte ursprünglich einer teilweise anderen Leseordnung als der von Wiegand-Grégoire angesetzten, so dass sich die Reihenfolge vieler Texte ändert, und es fehlten in ihm einzelne Feste wie Maria Himmelfahrt, so dass die entsprechenden Texte als spätere Zusätze gelten müssen (vgl. die Tabelle, 64 f., wo bei nr. 82/80 leider ein Tippfehler passiert ist, der für viel Verwirrung sorgen kann: Richtig muss es heißen »Bede, In Luc III,1641–91«, wie 63). Das in nur wenigen Handschriften überlieferte Gedicht Utere felix des Paulus Diaconus gehörte – anders als seine Widmungsverse Summo apici rerum an Karl den Großen, die sogenannte »Epistola generalis« des Letztgenannten, eine kurze Prosaeinleitung und eine Inhaltsübersicht – nicht dem ursprünglichen Präfationsmaterial des Homiliars an.
Das zweite Kapitel ist dem liturgischen Zirkel gewidmet, der PD zugrunde liegt. G. betont mit Recht, dass die Auswahl der Heiligenfeste, die das Homiliar umfasst, weder charakteristisch für die italienische Herkunft des Paulus Diaconus erscheint noch für das Frankenreich Karls des Großen oder für irgendeinen anderen lokalen Hintergrund. Sie berücksichtigt vielmehr Heilige, deren Verehrung im Frankenreich überall annähernd gleich stark gewesen sein dürfte (Apostel, Evangelisten und einige der ältesten Märtyrer), sowie mit Hilarius von Poitiers, Eusebius von Vercelli und Paulinus von Trier drei Bischöfe, denen jeweils ihr Wirken im antiarianischen Streit des 4. Jh.s den Rang von confessores und von Vorkämpfern des rechten Glaubens eingebracht hatte. Somit erscheint der liturgische Zirkel von PD vor dem kulturellen Hintergrund seiner Zeit gewissermaßen »universal«, und dies war zweifellos auch die Absicht des Urhebers (in den einzelnen Abschriften wurde das Homiliar dann ohnehin, wie bereits erwähnt, sehr oft nach den jeweiligen Anforderungen adaptiert). Der in PD fassbare Kalender lässt sich nicht mit einer jener Formen identifizieren, welche in den uns erhaltenen alten Sakramentarien belegt sind, und dasselbe gilt für die Auswahl an Lesungen; es liegt sicherlich eine selbständige Schöpfung durch Paulus Diaconus vor, und laut G. lässt sich der in PD abgebildete Jahreskreis am ehesten mit den Kirchenjahren von 786/7 oder 797/8 vereinbaren, was für das (uns unbekannte, aber höchstwahrscheinlich zwischen 786 und 800 liegende) Datum der Fertigstellung des Homiliars von Bedeutung sein könnte.
Im dritten Kapitel diskutiert G. zuerst das bereits erwähnte Präfationsmaterial von PD, um Rückschlüsse auf die Umstände der Abfassung zu ziehen. Die Widmungsverse des Paulus Diaconus und die »Epistola generalis« Karls des Großen suggerieren eine ge­wissermaßen aufgeteilte Urheberschaft zwischen dem das Homiliar in Auftrag gebenden Herrscher und dem ausführenden famulus supplex; Letzterer beruft sich dazu noch auf die Unterstützung seines Abtes (dem nicht namentlich genannten Theudemar von Monte Cassino) sowie seines himmlischen Patrons, des Heiligen Benedikt.
Die Erstellung von PD erscheint somit von höchsten weltlichen wie geistlichen Stellen legitimiert. Danach wendet sich G. der äußeren Ausgestaltung des Homiliars zu, welches sich durch benutzerfreundliche Organisationsprinzipien (Inhaltsverzeichnis, Titel, Rubriken etc.) dem karolingischen Trend zur Klarheit und Übersichtlichkeit in der Buchproduktion einfügt. Bei der Auswahl der aufgenommenen Predigten ist interessant, dass Paulus Diaconus selbst in der Einleitung zu allererst die großen Namen Ambrosius, Augustinus und Hieronymus nennt, dass er aber tatsächlich viel stärker auf Texte von Beda, Maximus (II.), Leo dem Großen und Gregor dem Großen zurückgreift. G. geht davon aus, dass Paulus Diaconus die verwerteten Quellen unmöglich an einem einzigen Ort benutzt haben kann – die frühere Forschung dachte hier insbesondere an sein Heimatkloster Monte Cassino –, sondern vielmehr über einen längeren Zeitraum in verschiedenen Bibliotheken gesammelt hat.
Das vierte Kapitel geht der Vervielfältigung und Verbreitung von PD nach und berücksichtigt dabei sowohl grundlegende materielle Aspekte – was war notwendig, um die zwei dicken Bände des Homiliars zu kopieren, und wie lange dauerte das? – als auch direkte und indirekte Zeugnisse dafür, an welchen Orten Exemplare von PD vorhanden waren.
Das Problem mit dem physischen Aspekt der Buchproduktion sind die vielen von G. präsentierten Zahlen, die zwar auf den ersten Blick beeindrucken, in vielen Fällen aber als unsicher begründet gelten müssen; die Schwierigkeit an der Bezeugung in mittelalterlichen Bücherverzeichnissen besteht darin, dass Homiliare in diesen meist nur sehr oberflächlich charakterisiert wurden, weshalb viele von G.s Identifikationen fraglich sind (besonders die drei Bände in St. Riquier [138], alle Bände in Lorsch [139 f.] und jene der auf S. 144–146 genannten Bibliotheken). Mit größter Zurückhaltung sollten auch die danach präsentierten Stemmata aufgenommen werden, welche die Verwandtschaft einiger der ältes- ten Handschriften abbilden: Da das Wenige, das G. einleitend über seine Methode der genealogischen Klassifikation mitteilt, ungenügend erscheint (Orientierung an ›Varianten‹ statt ›Bindefehlern‹), muss die Stichhaltigkeit dieser Stemmata einstweilen offen bleiben. Berechtigt ist hingegen G.s Hinweis auf die Tatsache, dass Winter- und Sommerteil von PD nicht selten unabhängig voneinander kursierten und kopiert wurden.
Im fünften Kapitel bespricht G. den theologischen Gehalt von PD. Der Schwerpunkt der aufgenommenen Predigten liegt klarerweise auf der (zumeist allegorischen) Evangelienexegese zum jeweiligen Festtag, doch zeichnet sich als wichtigstes dogmatisches Fundament die Betonung der Dreifaltigkeit Gottes klar ab, was ganz im Einklang mit der karolingischen Orthodoxie steht. Letzteres gilt auch für die oftmals wiederholten Warnungen vor dem Jüngsten Gericht, die Erinnerung an die fleischliche Auferstehung, was in vielen (insbesondere von Gregor stammenden) Predigten der Sammlung thematisiert wird, sowie allgemein die Betonung von ethischen Verhaltensregeln wie regelmäßiges Fasten, Sündenbekenntnis und Almosengeben. Interessanterweise fanden einige wenige homiletische Texte von Origenes (unter expliziter Namensnennung des Verfassers) Eingang in PD, die freilich dogmatisch »unbedenklich« erscheinen. Insgesamt wirkt das theologische Programm von PD auf einer Linie mit Rechtstexten Karls des Großen wie etwa der »Admonitio generalis« von 789.
Das sechste Kapitel ist der frühen Rezeption von PD gewidmet. G. zeigt an vielen Beispielen auf, wie das Homiliar jeweils nach wechselnden Bedürfnissen adaptiert wurde, indem man den Inhalt umstellte, kürzte oder erweiterte.
Manche Exemplare von PD erscheinen ihrer Anlage und Ausstattung nach als regelrechte Prachtbände, andere wiederum als anspruchslose Bücher zum alltäglichen Gebrauch. G. geht davon aus, dass das Homiliar nicht nur – wie in den Präfationstexten explizit gesagt – für die Lektüre beim nächtlichen Offizium diente, sondern auch zur Predigt vor dem Kirchenvolk sowie der privaten Andacht und Studie. Manche Kopien enthalten Marginaleinträge, die auf den konkreten Gebrauch des jeweiligen Buches schließen lassen, im Einzelnen aber oft schwierig zu bewerten sind. Zweifellos avancierte PD rasch zu dem am weitesten verbreiteten Homiliar im Frankenreich, aber die auf S. 228 f. gebotene Übersicht über angebliche Kenner des Werks ist höchst spekulativ und irreführend. Für Diskussion dürfte G.s wiederholt vorgebrachte Annahme sorgen, PD sei nach dem Willen von Karls »Epistola generalis« ursprünglich für »seine« Kirche in Aachen gedacht gewesen (vgl. etwa 95 f. oder 137).
Nach einer Zusammenfassung folgen als Zusätze zur eigentlichen Studie zuerst der lateinische Text samt englischer Übersetzung für die Widmungsverse des Paulus Diaconus, für Karls »Epistola generalis«, für die kurze Prosaeinleitung von PD sowie für das Gedicht Utere felix.
Der Benutzer sei gewarnt, dass diese – wie auch andere Übersetzungen aus dem Lateinischen in G.s Buch – nicht immer fehlerfrei sind (vgl. etwa 252 f.,7: »sit licet effectus modicis pro viribus impar« – »although the work was made for little men, if it proves unequal«!) und dass vor allem die Interpunktion im Lateinischen oft geradezu widersinnig gesetzt ist (vgl. etwa die Verse auf S. 252,3–6). Danach kommt eine lange Liste der G. bekannt gewordenen Handschriften von PD. Das Buch schließt mit einer ausführlichen Bibliographie sowie mit Indizes zu den zitierten Handschriften und zu den wichtigsten in der Studie genannten Namen und Sachen.
Dem Leser wird hier eine umfassende, wenn auch in manchen Details nicht immer fehlerfreie Studie des wohl einflussreichsten Homiliars des lateinischen Mittelalters geboten, welche sich durch eine klare Struktur und Sprache auszeichnet. Zahlreiche der Diskussion beigegebene Tabellen, Karten und Abbildungen erhöhen die Benutzbarkeit von G.s Buch zusätzlich. Druckfehler betreffen oft lateinische Texte, halten sich insgesamt aber in Grenzen. Was ich vermisse, ist ein kurzes einleitendes Kapitel zur Biographie des Paulus Diaconus, der ja einer der bedeutendsten Gelehrten seiner Zeit war und neben dem Homiliar u. a. auch mehrere Geschichtswerke, grammatisch-lexikalische Arbeiten sowie zahlreiche Ge­dichte verfasst hat. Da sich das von G. favorisierte Jahr der Fertigstellung 797/8 für PD (vgl. 121) schlecht mit dem weithin angenommenen Zeitraum des Todesjahrs von Paulus Diaconus 796/800 verträgt, wäre eine nähere biographische Diskussion zumindest in dieser Hinsicht wichtig gewesen.
Das m. E. größte Verdienst von G.s Arbeit liegt in der Korrektur der von Wiegand und Grégoire rekonstruierten vermeintlich originalen Form von PD. Möglich war dies – und mehrere andere wichtige Erkenntnisse – für G. aufgrund seines fleißigen Handschriftenstudiums, welches das Fundament, auf dem die Forschung jetzt steht, massiv verbreitert hat. Hätte G. – nach dem Vorbild von Raymond Étaix, RHT 8 (1978), 315 f. – in seiner Handschriftenübersicht den Inhalt zumindest der ältesten Codices knapp angegeben, hätte dies die Nützlichkeit der Liste noch weiter vergrößert, doch wird man auch so dankbar für das Gebotene sein. Ich habe eine Vielzahl an Korrekturen und Ergänzungen, was die Zusammenstellung und Bewertung dieses handschriftlichen Materials angeht, das ich bald an anderer Stelle zu publizieren hoffe, möchte aber abschließend noch einmal betonen, dass G. mit diesem Buch eine nützliche und gut lesbare Arbeit vorgelegt hat, die all jene interessieren dürfte, die sich mit der Geschichte, Kultur und Theologie der Karolingerzeit sowie mit homiletischen Texten beschäftigen.