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Ausgabe:

März/2021

Spalte:

170-172

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Butticaz, Simon, Devillers, Luc, Morgan, James M., et Steve Walton[Éds.]

Titel/Untertitel:

Le corpus lucanien (Luc-Actes) et l’historiographie ancienne. Quels rapports?

Verlag:

Münster u. a.: LIT Verlag 2019. V, 303 S. = Théologie biblique, 2. Kart. EUR 39,90. ISBN 9783643909541.

Rezensent:

Knut Backhaus

Die Westschweiz hat sich seit einiger Zeit zu einem Zentrum der internationalen Lukasforschung entwickelt, wofür besonders die Namen von François Bovon, Daniel Marguerat und jüngst Simon Butticaz stehen. Dafür steht auch dieser Sammelband, der auf ein Symposion an der Université de Fribourg zurückgeht und zwölf Aufsätze von ausgewiesenen Lukas-Kennern verschiedener Generationen aus fünf Ländern vereint (sieben französisch, drei englisch, zwei deutsch). Das Werk gliedert sich in drei Teile: (I) »Lukas« (eigentlich: Apg) und die jüdischen sowie griechisch-römischen Modi von Geschichtsschreibung, (II) die lukanische Eigenart solcher Geschichtsschreibung, (III) Spezialprobleme der Fragestellung.
Als Vertreter der Gastgeber beschreibt Luc Devillers (Fribourg) den genius loci des Tagungsorts Albertinum, das seit 130 Jahren die dominikanische Gelehrsamkeit der Universitätsstadt, nicht zu­letzt in biblicis, verkörpert, und stellt knapp die folgenden Beiträge vor.
I. Daniel Marguerat (Lausanne) gibt einen Überblick über die jüngere Actaforschung und legt dabei, durch seine profunden eigenen Studien sensibilisiert, Gewicht auf den Ort des Lukas am »carrefour« von jüdischer und griechisch-römischer Geschichtsschreibung. Hinsichtlich der vieldiskutierten Bifurkation zwischen Ge­schichtsschreibung und Theologie vertritt er die plausible Auffassung, im Kerygmatischen liege das innere Konstruktionselement des Geschichtsbilds, wie es sich vor allem in der Deutungs-figur der Providenz zur Geltung bringe. Das lukanische Narrativ kanonisiert für die kulturelle Erinnerung der jungen Gemeinschaft die Entwicklung »de Jésus à Paul«, indem es einerseits Anciennität und Kontinuität des »Weges« ausweist und andererseits eine Ätiologie der Spaltung in Israel vorlegt. So bietet Apg in Analogie zu den kolonialgriechischen κτίσεις – erzählerisch in gemessenem Spielraum kreativ – die Stiftungsmemoria des werdenden Christentums. Die Vergangenheitsbehauptung dient der kulturellen Selbstaffirmation und sozialen Integration auf dem kompetitiven Markt reichsrömischer Wirklichkeitsentwürfe. Die Erzählfigur des Paulus individualisiert dieses Gedächtnisbild. Unter Rekurs auf die pionierhafte Studie »World upside down« von C. Kavin Rowe (2009) distanziert M. sich von der konventionellen politisch-apologetischen Interpretation des Lukas: Der Historiog raph inszeniert selbstbewusst einen religiösen Gegenentwurf und sichert ihn zugleich gegen politisches Missverständnis ab. Steve Walton (Bristol) betont – mit einer breiteren Strömung der jüngeren Forschung – die jüdische Prägung der lukanischen Ge­schichtsschreibung mit ihrer biblisch, näherhin deuteronomis-tisch gefärbten Theozentrik, die Apg geradezu als Fortsetzung der Septuaginta lesen lasse. Dass Lukas sich literarisch wie theologisch in die biblisch-jüdische Überlieferungslinie stellt, steht außer Frage, aber das kontrastreiche Bild, das W. von der »Greek historiography« entwirft, wirkt so holzschnittartig, dass die kulturelle Übers etzungsleistung des Lukas aus dem Blick gerät. Nachdem im ersten Aufsatz die kerygmatische und im zweiten die biblische Geschichtsschreibung als Leitkategorie vorgeschlagen wurde, ist es im dritten, von James Morgan (Fribourg) beigesteuerten Aufsatz die »prophetische Geschichtsschreibung«. Darunter versteht M. eine Vergangenheitsdarstellung, die auf das Divinum als leitendes Konstruktionskonzept zurückgreift und für die als Pendant zu Lukas, dem »Vater der christlichen Geschichtsschreibung«, der (vielleicht denn doch etwas abgelegene) pater historiae Herodot gelten könne. Als instruktive Ergänzung seines Opus magnum »L’identité de l’Église dans les Actes des apôtres« (2011) liest sich der Beitrag von Simon Butticaz (Lausanne). B. interpretiert den zweiten Logos des Lukas – in Fortführung des Ansatzes von Daniel Marguerat – als Gründungsmythos, der dem tertium genus hominum Platz und Recht in der Geschichte zuweist, indem er die Brücke von Israel über Jesus zur Apostelzeit schlägt. Darin zeigt sich Apg textpragmatisch als Analogon zur Aeneis. Etwas unterbestimmt bleibt hier das Verhältnis des »mythe fondateur« zum historiographischen Anspruch: Paulus ist kein Äneas. Mit seinem Doppelwerk entwirft Lukas in der Sicht von B. nicht nur das erste Neue Testament (C. K. Barrett), sondern, »le tout premier ›canon‹ chrétien, résumant tout ce qu’il y a à savoir sur l’Église pour lui assurer consistance et cohérence à l’avenir« (122) – vielleicht wäre »master narrative« eine den Anachronismus meidende Formulierung für das Gemeinte. Jedenfalls inszeniert Lukas Ethos und Herkunft eines durch den Glauben etablierten λαός und lehrt die Christen der Schwellenphase auf diese Weise, ἡμεῖς zu sagen (vgl. 130 f.).
II. Der originelle Beitrag von Anthony Giambrone (École biblique, Jerusalem) geht dem Asphaleia-Anspruch des Lukas am herausfordernden Beispiel der Jungfrauengeburt nach. Er setzt das Motiv in Beziehung zu örtlichen Geburtslegenden und den biblischen type scenes und ordnet die Wahrheitsfrage auf den poststrukturalistischen Spuren von Hayden White der ästhetischen und ethischen Selbstkonstitution des Erzählers (εὐμένεια) zu. Thomas Schumacher (Fribourg) interpretiert den zweiten Logos als Vita des erhöhten Kyrios und somit das Doppelwerk als einen zweiteiligen Jesus-Bios. Sosehr man dem Verfasser angesichts der (sublimen) Konstanz des Protagonisten in Lk und Apg christologisch zustimmen möchte, so wenig befriedigt die gattungstheoretische Absicherung. So wird die (Holger Sonnabend verdankte) trennscharfe Interpretation der klassischen Belegstellen Polybios, hist. 10,21, und Plutarch, Alex. 1, heute vielfach und begründet angefochten, und das Handeln des Erhöhten wird man kaum unter der generischen Kategorie des Bios subsumieren können. Manfred Lang (Halle-Wittenberg) macht auf den in der komparativen Actaforschung zu Unrecht meist übersehenen, im frühen Prinzipat schreibenden Historiographen Velleius Paterculus aufmerksam. Heuristisch ist dessen auf die Ära des Tiberius ausgerichtete zweiteilige römische Geschichte wertvoll, weil sie »personalisierte Geschichtsschreibung« repräsentiert und ein geschichtsdynamisches Prinzip, die fortuna, herausarbeitet.
III. Marie-Françoise Baslez (Paris – Sorbonne) profiliert, ausgehend von Apg 8,26–40, die lukanische Erzählfigur der θεοσεβεῖς: Die historisch plausible Darstellung der Apg führt ein sozial hochdivergentes Gefüge biblisch orientierter Sympathisanten des Ju­dentums vor Augen. Cédric Brélaz (Fribourg) untersucht die Ausführungen zu den reichsrömischen Institutionen in Apg, namentlich in Philippi, Jerusalem und Caesarea Maritima. Die Prägnanz der lokaladministrativen Kenntnisse des Lukas hat mitunter die Vermutung genährt, er habe die Orte als Paulus-Begleiter unmittelbar aufgesucht – ein kühner Schluss, den Hans Conzelmann mit dem Verweis auf Karl May zu entkräften suchte. Dass Lukas sich in zeitgenössischen Milieus auskennt, überrascht kaum; Details können zum Beglaubigungsapparat gehören. Gleichwohl ist mit B. zu vermuten, dass Lukas lokale und regionale Details der ihm vorgegebenen christlichen Überlieferung verdankt. Anzunehmen, dass ihm auch Kopien offizieller Dokumente und Protokolle zugänglich waren, wie B. mutmaßt, erscheint mir unnötig. Einleuchtend wirkt jedoch die These, dass die Betonung juridischer Einrichtungen, Verfahren und Denkfiguren, darin den frühchristlichen Martyrerakten vergleichbar, dem apologetischen Ziel dient, die Unanfechtbarkeit des Paulus objektivierend nachzuweisen. Nathalie Siffer (Strasbourg) untersucht die nächtliche Vision des Paulus zu Troas und seine wunderhafte Befreiung in Philippi (Apg 16,6–10.25–34) und kommt im religionsgeschichtlichen Vergleich zu dem triftigen Ergebnis, dass diese Motive dem Stiftungsnarrativ von Kolonien und Kulten affin sind: Die göttliche Intervention legitimiert Wandel und Weitung. Dem Motivverbund der maritimen Reise wendet sich Chantal Reynier (Paris – Centre Sèvres) zu: Lukas erweist sich als Kenner dieses Metiers und teilt die griechische Sicht auf das Mittelmeer, das Kulturen zusammenführt. Das mare nos-trum wird zum Topos des Evangeliums.
Der Band bewegt sich sach- und literaturkundig auf der Höhe der aktuellen Lukasforschung. Obwohl die Beiträge – wie leider in den meisten Tagungsbänden – kaum interagieren und keine Synthese versucht wird, lassen sich Querlinien ausmachen, vor allem die Konzentration auf das soziale Gedächtnis, das in den wertvollen Hinweisen auf die Ktisis-Literatur und -Motivik konkretisiert wird. Die knappe Frage des Untertitels (»Quel rapports?«) kann fast ebenso knapp beantwortet werden: vornehmlich solche der Stiftungsmemoria. Auch das generische Interesse verbindet die Beiträge, aber hier vermisst man die Synthese besonders schmerzlich. Unter den zahlreichen Subgenres für Apg werden (additiv) die intentionale, apologetische, kerygmatische, prophetische Historiographie hervorgehoben oder die Gattung Historiographie für Apg überhaupt in Frage gestellt. All diese Versuche erzielen durchaus Beschreibungsgewinne, aber die seit Jahrzehnten fortgesetzten Bemühungen, das (mit Alastair Fowlers Bild) »pigeon-hole« zu fixieren, sollten durch die Beobachtung des »pigeon flight« ersetzt werden: Lukas ist ein Meister des genre-switching und genau darin liegt die Strategie seines Doppelwerks. Die Stiftungsmemoria ko­diert sich in vielen Weisen und Richtungen: »The medium is the message«. Man legt den Sammelband mit Gewinn aus der Hand: Er handelt nicht nur religionsgeschichtlich vom »carrefour«, er repräsentiert ihn auch auf der Forschungsebene.