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Ausgabe:

Januar/2021

Spalte:

52–54

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Johnson, Luke Timothy

Titel/Untertitel:

Constructing Paul.

Verlag:

Grand Rapids u. a.: Wm. B. Eerdmans 2020. 375 S. = The Canonical Paul, 1. Geb. US$ 50,00. ISBN 9780802807588.

Rezensent:

Armin D. Baum

Der amerikanische Neutestamentler Luke Timothy Johnson (geb. 1943) lehrt seit 1992 an der Emory University in Atlanta, Georgia. Seine jahrzehntelange bibelwissenschaftliche Arbeit hat ihn zu der Überzeugung geführt, dass der weitverbreiteten Unterscheidung zwischen sieben echten und sechs unechten Paulusbriefen ein so-lides wissenschaftliches Fundament fehlt. Die sieben allgemein als echt eingestuften Paulusbriefe seien in mehrfacher Hinsicht viel zu unterschiedlich. »It is simply not the case that the seven letters usually regarded as authentic are so uniform in style, argument, theme, and perspective as to form a measuring stick against which the ›divergence‹ of six letters (the Pastorals, Colossians/Ephesians, and 2 Thessalonians) can be judged as non-Pauline.« (10) Denn ähnliche Unterschiede wie zwischen anerkannten und umstrittenen Briefen gebe es auch zwischen den anerkannten Briefen. Das be-treffe nicht nur ihre Sprache, sondern auch die Verwendung rhe-torischer Stilmittel (Dialog, Diatribe) und alttestamentlicher Be-züge (Anspielung, Zitat) sowie die Auswahl theologischer Themen (Abendmahl, Ämter, Beschneidung, Christologie, Eschatologie, Ethik, Gesetz, Heiliger Geist, Kreuz) (74–90 und passim).
J.s Alternativvorschlag besteht darin, innerhalb des neutes-tamentlichen Corpus Paulinum zwischen fünf Briefgruppen zu unterscheiden, deren Mitglieder jeweils eng miteinander verwandt sind: 1–2Thess/Röm und Gal/1–2Kor/Kol und Eph/1–2Tim und Tit. Nur Phil und Phlm stehen je für sich. Die Zusammengehörigkeit dieser Briefgruppen ergebe sich unabhängig davon, dass nur für fünf der 13 Paulusbriefe eine chronologische Einordnung in die Biographie des Paulus möglich ist (75–76). Auch die in den Paulusbriefen enthaltenen Andeutungen über die bekämpften Gegner seien so vage, dass sie nicht als belastbare Anhaltspunkte für eine historische Einordnung dienen können (105–118). Und für eine nachpaulinische Paulusschule, der man einzelne Briefe zuschreiben könnte, gebe es außerhalb des Neuen Testaments keine selbständige historische Evidenz (118–122). Alle 13 kanonischen Paulinen seien am wahrscheinlichsten im Mitarbeiterteam des Paulus entstanden, zu dem zahlreiche Mitautoren und Sekretäre gehörten, und noch von Paulus selbst autorisiert worden (90–92).
Neu ist eine solche Herangehensweise an das Corpus Paulinum nicht. Ähnlich hat bereits Ende des 19. Jh.s Joseph Barber Lightfoot in seinen »Biblical Essays« argumentiert, auch wenn er nur vier authentische Briefgruppen identifizierte (1–2Thess/1–2Kor, Gal, Rom/Phil, Eph, Kol, Phlm/1–2Tim, Tit). Kürzlich hat auch Stanley Porter in seiner Gesamtdarstellung »The Apostle Paul« (2016) die 13 Paulinen in authentische Briefgruppen unterteilt (Gal/1–2Thess/1–2Kor/Röm/Phil, Kol, Phlm, Eph/1–2Tim, Tit). Die Abweichungen zwischen Lightfoot, Porter und Johnson deuten darauf hin, dass die tatsächlichen Verwandtschaftsverhältnisse zwischen den Briefen komplexer sind, als solche groben Einteilungen zeigen können.
Man könnte vermuten, dass J. seine historischen Echtheitsurteile letztlich aus dogmatischen Gründen gefällt hat, aber das ist unwahrscheinlich. Denn als (frommer) Katholik hält er es für theologisch irrelevant, ob Paulus die umstrittenen Briefe wirklich geschrieben hat oder nicht. Dass die 13 neutestamentlichen Paulusbriefe für die Kirche Autorität haben, ergebe sich ganz unabhängig von allen Verfasserschaftsurteilen aus ihrer Zugehörigkeit zum Kanon (13).
J.s einleitungswissenschaftliche Kernthese ist eingebettet in eine Gesamtdarstellung der paulinischen Theologie, die ebenfalls manche eigenen Akzente aufweist. Im ersten, historischen Hauptteil (19–122) behandelt er die kanonischen und außerkanonischen Quellen zu Paulus, seine Biographie, seine Briefe sowie seine Gegner und Mitarbeiter. Im zweiten Hauptteil (125–189) geht es um das Verhältnis des Paulus zum Judentum, seinen Umgang mit dem Alten Testament und seine Beziehungen zur griechisch-römischen Kultur. Der dritte und längste Hauptteil (125–289) verfolgt eine Reihe von Themen durch alle 13 Paulusbriefe (religiöse Erfahrungen, Überzeugungen, Mythen, Symbole und Metaphern), empfiehlt den Philemonbrief als geeigneten Zugang zur Wirksamkeit des Paulus und mündet in die Frage, ob der Apostel als Unterdrücker oder als Befreier zu verstehen ist. – Ein Fortsetzungsband befindet sich in Vorbereitung.
All das trägt J. in großen Linien und mit einer angenehmen Leichtigkeit vor, die in der angelsächsischen Theologie selbst-verständlicher ist als in unseren deutschen Fachbüchern mit ihrer Liebe zum kleinsten Detail und einer gewissen Schwerfälligkeit. Sicher haben beide akademische Kulturen mit ihren jeweiligen Stärken und Schwächen ihre Berechtigung. Aber persönlich hätte ich, bei aller Zustimmung zu J.s Einwänden und aller Sympathie für seinen Alternativvorschlag, manches gern noch etwas ausführlicher und detaillierter präsentiert bekommen.
Außerdem finde ich, dass J. die echtheitskritischen Fragen, die die Pastoralbriefe aufwerfen, stellenweise ein wenig herunterspielt. Seine Darstellung des entsprechenden Befunds schließt mit den Worten: »the Pastorals are no closer or more distant from Galatians and Romans as those two letters are to the Thessalonian correspondence« (88). Man vergleiche dazu neuerdings die linguis-tische Untersuchung von J. van Nes, Pauline Style and the Pastoral Epistels (Leiden: Brill, 2017).
Für unzutreffend halte ich auch die folgenden Feststellungen: »Among ancient corpora of correspondence, Paul’s letters are marked by unusual variety.« (65) Die über 900 bekannten Briefen Ciceros, deren stilistische Vielfalt von Altphilologen systematisch aufgearbeitet worden ist, weisen m. E. ebenso große Stilunterschiede auf wie die neutestamentlichen Paulusbriefe (siehe den Stilvergleich in JSPL 9 [2019], 118–157).
Aber diese Einwände schmälern nicht den grundsätzlichen Wert von J.s Entwurf. Hoffentlich gelingt es ihm mit seinen Anfragen an die einleitungswissenschaftliche Mehrheitsmeinung zu den Paulusbriefen und seinem echtheitskritischen Alternativvorschlag, frischen Wind in ein zu selten gelüftetes Gebiet der neu-testamentlichen Wissenschaft zu bringen.