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Ausgabe:

Januar/2021

Spalte:

49–51

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Günther, Eva

Titel/Untertitel:

Wisdom as a Model for Jesus’ Ministry. A Study on the »Lament over Jerusalem« in Matt 23:37–39 Par. Luke 13:34–35.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2020. XII, 246 S. = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament. 2. Reihe, 513. Kart. EUR 79,00. ISBN 9783161567308.

Rezensent:

Boris Repschinski

Studien zum Einfluss weisheitlicher Motivik auf das Neue Testament und insbesondere auf dessen Christologie hat es schon viele gegeben. Eva Günther geht der Frage nach, ob der eher generelle Appell an eine Weisheitsmetaphorik als Illustration für die Person Jesu nicht zu kurz greift. Ihre These wird im ersten Kapitel dieses auf eine in Nottingham unter Roland Deines entstandene Dis-sertation zurückgehenden Buches konstatiert: Die Weisheit ist in jüdischer Tradition nicht nur eine Variation der Erscheinungsformen Gottes, sondern Repräsentant Gottes mit einer gewissen Eigenständigkeit im Handlungsspielraum, die G. mit dem Begriff Hypostase belegt. Dieser Begriff transportiert die Idee eines göttlichen Mittlers, der »in different shapes throughout the ages, sometimes visible […] sometimes invisible« Gott vertritt (6). Die zu belegende These sieht Jesus als eine dieser Erscheinungsformen des göttlichen Mittlers in der Klage über Jerusalem. Die Klage ist insofern bemerkenswert, als dass sie ein christologischer Text ist, der nicht auf Passion und Auferstehung Bezug nimmt und somit eine Beschreibung des irdischen Wirkens Jesu ist.
Das zweite Kapitel beschäftigt sich mit der Klage über Jerusalem. Der Text wird in Q verortet und zunächst nach seinem ursprünglichen Wortlaut befragt. G. folgt hier dem Text der Critical Edition of Q. Ein möglicher Kontext für das Logion ist für G. nicht mehr feststellbar; das Logion muss demnach in Isolation interpretiert werden. Diesen Beobachtungen folgt ein Forschungsüberblick zur Frage, ob die Klage überhaupt als weisheitlicher Text zu verstehen ist. Die in der Klage beschriebenen Aktivitäten wie das Aussenden von Propheten, das Sammeln der Versprengten oder auch das Verlassen des Hauses können sowohl Gott wie auch der Weisheit zugeschrieben werden. Eine Datierung in das irdische Wirken Jesu hinein ist möglich, aber nicht zwingend, während die Form eine Annäherung an weisheitliche Zusammenfassungen bietet.
Die nächsten fünf Kapitel beschäftigen sich mit den Funktionen der Weisheit in jüdischer Tradition. Kapitel 3 gibt einen Überblick über Funktionen, die der Weisheit zugeschrieben werden. Darunter sind Mitarbeit an der Schöpfung (Spr; Ijob), am Kult und als Inspiration für die Weisen (Sir) oder als Retterin der Patriarchen in Krisensituationen (Weish). Das Kapitel endet mit einer Diskussion der Personifizierung der Weisheit als literarischer Kunstgriff oder als Hypostase einer effektiven Macht, die zu Gott gehört und doch Selbständigkeit besitzt. Eine Hypostase besitzt ontologische Eigenständigkeit als Handelnde, ohne die Souveränität Gottes zu bedrohen. Vergleichbar sind Figuren des himmlischen Hofes oder auch Engel.
Die folgenden Kapitel suchen zu etablieren, in welchen Bereichen der Weisheit die Qualitäten einer Hypostase zukommen. Kapitel 4 beschreibt Weisheit als Prophetin wie auch als Senderin der Propheten in Spr 1,20–33. Die Eigenständigkeit der Weisheit findet sich »by speaking on her own account and creating a new pattern of sapiential address« (48). Kapitel 5 beleuchtet die Rolle der Weisheit als Handelnde und Mittlerin in der Heilsgeschichte (Weish). Einerseits bleibt die Weisheit Teil Gottes, andererseits agiert sie mit Eigenständigkeit in der materiellen Welt. Kapitel 6 beschreibt Weisheit als Manifestation der Gegenwart Gottes im Tempel (Sir 24), die dann zur Dienerin Gottes mutiert, indem sie liturgisch eine priesterliche Rolle einnimmt. Wiederum wird sie zur Mittlerin, diesmal als Repräsentation Gottes gegenüber den Menschen und der Repräsentation der Menschen gegenüber Gott. Schließlich folgt in Kapitel 7 eine Analyse der Weisheit, die sich von der Erde zurückzieht und in der Folge mit dem himmlischen Menschensohn identifiziert wird (Hen[aeth] 37–71).
Das Schlusskapitel fasst die Ergebnisse zusammen. Auf dem Hintergrund eines Verständnisses der Weisheit als göttlicher Mittlerfigur mit Eigenständigkeit in verschiedensten Funktionen könnte auch Jesus als solcher Akteur Gottes zu verstehen sein. Dabei muss sich G. auch mit der Tatsache auseinandersetzen, dass Jesus im Neuen Testament nicht mit der Weisheit identifiziert wird. G.s Antwort konstatiert, dass ein Verständnis von Jesus als endgültigem und vollkommenem Mediator die Weisheit in den Hintergrund treten lässt.
Obwohl die christologische Frage den Ausgangspunkt bildet, stehen die Überlegungen zu einer Hypostase der Weisheit im Mittelpunkt des Buchs. Hier spielt es seine Stärken aus, indem es die zwischen Repräsentation Gottes und eigenständigen Handelns oszillierende Figur der Weisheit beleuchtet. Ob der Begriff der Hypostase wirklich geeignet ist, dieses Phänomen zu beschreiben, mag angezweifelt werden. Auch die Forschung ist gespalten. G. selbst spielt auch mit einer Alternative, indem sie von einem Anthropomorphismus für eine mythische Person spricht (187). Letztlich entscheidet sich auch G. nicht definitiv, ob die Weisheit eine Metapher ist, die verschiedene Eigenschaften und Handlungen Gottes bündelt, oder ob sie tatsächlich ein eigenständiges, himmlisches Wesen zwischen Gott und Mensch ist. Fraglich ist grundsätzlich, ob weisheitlich-poetische Texte überhaupt ein Kriterium für eine Diskussion sein können, die ontologischer Natur ist. Diese Frage stellt G. allerdings nicht.
Die Weisheit als Hypostase wird als Kontext für eine weisheitliche Christologie positioniert. Allerdings muss hier die Klage über Jerusalem als einziger neutestamentlicher Referenzpunkt doch sehr viel Gewicht des Arguments tragen, wenn beispielsweise be­hauptet wird, die Klage sei eine Zusammenfassung des Wirkens Jesu. Zudem wird auf manche Eigenheit der Klage nicht eingegangen. Wenn beispielsweise die Sammlung Israels durch die Weisheit mit der Sammeltätigkeit Jesu in der Klage verglichen wird, wäre doch ein Eingehen auf das ungewöhnliche Bild der Henne in Jesu Spruch gegenüber dem Bild des Adlers in den weisheitlichen Texten angebracht gewesen.
Was G. jedoch gut gelingt, ist das Aufzeigen möglicher Vorläufer in weisheitlichen Schriften, die eine spätere hohe Christologie möglich machen und kontextualisieren. Dieser Kontext existiert auch, will man sich der These von der Hypostase der Weisheit nicht anschließen. Daneben sind auch immer wieder hilfreiche Diskussionen der Forschungsgeschichte eingestreut. Zudem ist das Buch gut gegliedert und redigiert, sieht man von einem Un­glück mit einer sinnentstellenden Zwischenüberschrift (204) ab. Es empfiehlt sich nicht nur für die Beschäftigung mit weisheit-licher Christologie und ihrer Vorläufer, sondern auch für alle, die an möglichen Schritten hin zu einer Präexistenzchristologie in­teressiert sind.