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Ausgabe:

September/2020

Spalte:

842–845

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph

Titel/Untertitel:

Schriften 1802–1803. Hrsg. v. V. Müller-Lüneschloß u. P. Ziche. 2 Teilbde.

Verlag:

Stuttgart-Bad Cannstatt: frommann-holzboog 2019. XXVI, 836 S. m. 6 Abb. = Historisch-Kritische Ausgabe. Reihe I: Werke, 12,1–2. Lw. EUR 592,00. ISBN 978-3-7728-2395-4.

Rezensent:

Georg Neugebauer

Die anzuzeigende Edition umfasst Texte, die Schelling in den Jahren 1802/1803 geschrieben hat. Es handelt sich fast ausschließlich um Beiträge, die im Rahmen seiner Zeitschriftenprojekte entstanden sind, einerseits der Neuen Zeitschrift für speculative Physik (1802) und andererseits des gemeinsam mit Hegel herausgegebenen Kritischen Journals der Philosophie. Der erste Teilband ist auf die Neue Zeitschrift und der zweite auf das Kritische Journal bezogen und hier auf Texte, die dem dritten Stück des ersten (1802) und dem dritten Stück des zweiten Bandes (1803) entnommen sind. Damit führt dieser Teilband den Band 11 der Akademieausgabe fort. Um sich über die Entstehung des Kritischen Journals und die Edition dieser Zeitschrift zu informieren, muss der dortige editorische Bericht konsultiert werden.
Der erste Teilband umfasst wie gesagt alle Beiträge der Neuen Zeitschrift für speculative Physik, die aus Schellings Feder geflossen sind. Den Auftakt macht allerdings ein kurzer Text, der bislang in keine Schellingausgabe Eingang gefunden hat. Dabei handelt es sich um die zweiseitige Anzeige dieser Zeitschrift, die in dem selten erhaltenen Umschlag von Band II, Stück 1 des Kritischen Journals der Philosophie abgedruckt war. Die Anzeige ist zwar nicht unterzeichnet, der Verfasser des editorischen Berichts – Paul Ziche – legt jedoch gute Gründe dar, in Schelling deren Autor erkennen zu können. Das Zentrum dieses Teilbandes bilden sodann die darauffolgenden Ferneren Darstellungen aus dem System der Philosophie. Dieser für Schellings werkgeschichtliche Entwicklung ungemein wichtige Text hebt gegenüber der Darstellung meines Systems der Philosophie (1801) methodisch und inhaltlich neu an, um die bis dahin unerreichte »absolute Erkenntnisart« zu plausibilisieren. Was diese Umstellungen im Einzelnen bedeuten, wird im editorischen Bericht einmal mehr umrissen. Dieser handelt aber nicht nur von den Ferneren Darstellungen, sondern von der gesamten Zeitschrift. Daran schließt der Vorbericht Schellings zu einer Ab­handlung Karl Joseph Windischmanns (Grundzüge zu einer Darstellung des Begriffs der Physik) an. Diesen Vorbericht hatte Schelling an die Stelle von Windischmanns Einleitung gesetzt, freilich ohne diesen darüber zu informieren. Der editorische Bericht zu diesem kurzen Text streicht die vielfältigen Kooperationen zwischen beiden Autoren heraus und macht Windischmann als einen wichtigen Multiplikator neuer Einflüsse auf Schelling kenntlich (etwa was Böhme und den Neuplatonismus betrifft). In den Miscellen. Benehmen des Obscurantismus gegen die Naturphilosophie nimmt Schelling zu unterschiedlichen Formationen naturphilosophischer Reflexion Stellung, wozu etwa das in diesen Jahren ebenfalls kontrovers diskutierte Verhältnis von Philosophie und Medizin gehört. Zugleich treten in seinen Ausführungen seine massiven Vorbehalte gegen die Allgemeine Literatur-Zeitung zutage. Auf Schellings vierzeilige Anmerkung zu einer naturphilosophischen Abhandlung des Norwegers Nikolaus Jacob Möller – Über die Entstehung der Wärme durch Reibung – folgt seine eigene, 30 §§ umfassende Studie Die vier edlen Metalle. Zum Quellenbestand des ersten Teilbandes gehört schließlich eine Beilage. Sie umfasst den bereits erwähnten Text Windischmanns. Diesen aufgenommen zu haben, ist darin begründet, dass Schelling nicht nur den Vorbericht angefertigt, sondern, wie diesem zu entnehmen ist, in die Grundzüge auch redaktionell eingegriffen hat.
Im zweiten Teilband sind in erster Linie Beiträge aus dem Kritischen Journal versammelt, von denen es naheliegt, dass sie von Schelling abgefasst worden sind. Die Verfasserfrage ist hier be­kanntlich deswegen mit Unsicherheiten behaftet, weil beide Journalherausgeber – Hegel und Schelling – die in der Zeitschrift enthaltenen Texte verantworteten. Keiner von diesen ist eigens un-terzeichnet. Der editorische Bericht wägt bezogen auf die aufgenommenen Beiträge sehr gewissenhaft und behutsam die Argumente ab, die für eine Verfasserschaft Schellings sprechen. Den Auftakt macht Ueber das Verhältniß der Naturphilosophie zur Philosophie überhaupt, in der sich Schelling vor allem mit Reinhold und Fichte auseinandersetzt. Nicht weniger bedeutsam ist der Text Ueber die Construction in der Philosophie. Es handelt sich zunächst um eine Besprechung von Benjamin Carl Henrik Höijers Abhandlung über die philosophische Construction (1801). Doch ist dieser Text noch weit mehr; dokumentiert er doch den Entdeckungszusammenhang von Schellings Konstruktionsbegriff, der in dieser Zeit in den Mittelpunkt seiner Philosophie bzw. Methodenreflexion rückt. In seiner Besprechung Höijers heißt es gleich zu Beginn: »Die Lehre von der philosophischen Construction wird künftig eines der wichtigsten Kapitel in der wissenschaftlichen Philosophie ausmachen« (491). Beredtes Beispiel ist Schellings historische Konstruktion des Christentums in seinen Vorlesungen Über die Methode des akademischen Studiums. Die Anzeige einiger die Naturphilosophie betreffenden Schriften befasst sich mit den Principes naturels aus der Feder von Claude-François Le Joyands. Paul Ziche weist in seinem editorischen Bericht darauf hin, dass es bislang ungeklärt sei, wie Schelling auf diese heute nur noch in wenigen Bibliotheken erhaltene Schrift gestoßen ist. Umso erfreulicher sind die im editorischen Bericht gemachten Ausführungen zu diesem französischen Gelehrten und auch zur Entstehung des besagten Werks. Im Unterschied dazu war der Autor der drei Schriften, die im Abschnitt A des Notizenblattes von Schelling besprochen werden, in der damaligen gelehrten Welt bekannt: Charles François-Dominique de Villers. Dieser hatte 1801 ein Werk über Kant veröffentlicht, das die französische Kantrezeption maßgeblich prägte. Neben zwei weiteren Texten Villers wird dieses Werk von Schelling im Notizenblatt rezensiert. Im deutlich kürzeren Abschnitt B werden unter der Überschrift »Göttingen« Texte von Johann Christian Daniel Wildt ( Logik, 1801), Friedrich Bouterwek (Gedichte, 1802) und August Stephan Winkelmann (Einleitung in die dynamische Physiologie, 1803) ausgesprochen kritisch, polemisch und teilweise unappetitlich (vgl. die Reminiszenz an Don Quijote) besprochen. Zu dem Text Ueber Dante in philosophischer Beziehung gibt der editorische Bericht einen aufschlussreichen Überblick über die Danterezeption und -begeisterung um 1800 sowie in die im 19. Jh. sich durchsetzende Auffassung von der exzeptionellen geistesgeschichtlichen Stellung der Göttlichen Komödie. Wenn nicht neu, aber gleichwohl wichtig sind die Angaben zum werkgeschichtlichen Ort dieses kurzen Beitrags im Œuvre Schellings, den dieser nicht eigens für das Kritische Journal verfasst hatte, sondern dessen Entstehungsdokument dessen Vorlesungen über die Philosophie der Kunst sind. Die Fortsetzung der Anzeige einiger die Naturphilosophie betreffenden Schriften bildet ein kritisches Referat von Hans Christian Ørsteds Ideen zu einer neuen Architektonik der Naturmetaphysik (1802). Es verdient allein schon deswegen Erwähnung, weil es in den Sämmtlichen Werken Schellings nicht mit aufgenommen wurde.
Etwas irritierend ist in diesem Zusammenhang, dass in der Edition – so wie es natürlich dem Original entspricht – als Autor des Werks »J. C. Oerstedt« genannt wird. Diese Anfangsbuchstaben der Vornamen gehen vermutlich auf den damaligen Herausgeber der Ideen, auf Moritz Heinrich Mendel zurück. Im editorischen Bericht ist dann aber historisch korrekt von Hans Christian bzw. H. C. Ørsted die Rede. Diese Abweichung scheint den Herausgebern nicht nennenswert gewesen zu sein. Als Leser stolpert man jedoch darüber. In dem Anhang zu No. II [»Ueber Dante in philosophischer Beziehung«] ist möglicherweise Caroline Schlegel Coautorin gewesen. Im Unterschied zum Danteaufsatz ist der Anhang vermutlich eigens für das Kritische Journal angefertigt worden. Ein weiterer, nicht zum Kritischen Journal gehöriger Text des hier anzuzeigenden Teilbandes steht auf der einen Seite im Zusammenhang mit den schon angedeuteten Verwerfungen zwischen Schelling und der Allgemeinen Literatur-Zeitung und andererseits im Zusammenhang mit dem Tod Auguste Böhmers (12. Juli 1800), der Tochter Caroline Schlegels. In der Allgemeinen Literatur-Zeitung wurde die anonym veröffentlichte Schrift Lob der allerneuesten Philosophie angezeigt. Sie stammt aus der Feder des Theologen Franz Berg. Pikant war diese Anzeige insofern, als Schelling in Bergs polemischem Text für den Tod Auguste Böhmers mitverantwortlich gemacht wurde, nicht zuletzt, weil Schelling die ärztliche Behandlung angeleitet hatte. Durch die Rezension wurde dieser Vorwurf nun in eine breitere Öffentlichkeit gestreut, so dass die Gerüchteküche weiter brodelte. Als Autor dieser Rezension wurde von Schelling und August Wilhelm Schlegel schnell der Herausgeber der Allgemeinen Literatur-Zeitung – Christian Gottfried Schütz – ausfindig gemacht. Schlegels Schrift An das Publicum. Rüge einer in der Jenaischen Allg. Literatur-Zeitung begangnen Ehrenschändung (1802) bildet den Gegenangriff, zu dem auch Schellings eine Seite um­fassende Erklärung gehört. Dieser Text ist hier erstmals in eine Schellingausgabe aufgenommen worden. Den Quellenbestand schließt die Beilage ab, die zwei Beiträge Schellings umfasst: An Dante und Metrische Übersetzung aus Dantes göttlicher Komödie.
Die hier kurz vorgestellten Teilbände bzw. die darin enthaltenen Texte, die fast alle um naturphilosophische Themen kreisen, dokumentieren zunächst in einer weiteren Perspektive die Konkurrenz zwischen einer spekulativ-metaphysischen und einer empirischen Naturforschung. Dass dieses Thema die damaligen Gemüter er­hitzte, lässt sich auch an einer Bemerkung ablesen, die sich in einem Brief von Caroline Herder findet. Sie schreibt an Johann Georg Müller: Schelling »verachtet den Weg der Erfahrung um Kenntniße zu sammeln« (55). Wenn Schelling und Hegel sich im Medium von Zeitschriftenprojekten an dieser Diskussion beteiligten, dann untermauert das ihre wissenschaftspolitischen Ambitionen im Kampf um die Deutungshoheit über die Natur bzw. über den Begriff der Natur. Bemerkenswert ist dabei gerade aus heutiger Sicht, dass dieser mit harten Bandagen ausgetragene Kampf damals noch nicht entschieden war. Das unterstreicht einmal mehr die besondere problemgeschichtliche Stellung der Naturphilosophie, die vor allem mit Schellings Namen verbunden ist. Sodann fallen die Texte in eine ausgesprochen spannende Umbruchphase innerhalb der werkgeschichtlichen Entwicklung Schellings. In ihnen schlagen sich systematische und inhaltliche Umstellungen im Denken des Philosophen nieder, die sich auch auf neue Einflüsse und Impulse zurückführen lassen. Die editorischen Berichte und die erklärenden Anmerkungen führen den Leser durch dieses schwer zu durchdringende Terrain und zeichnen die Neue Zeitschrift sowie die Einzelbeiträge beider Teilbände in die breit gefächerte, zeitgenössische Diskussionslage ein. Gerade die Kontextualisierungen sind sehr informativ und für das Verständnis jener oft hochgradig voraussetzungsreichen und immer wieder polemisch gehaltenen Texte erhellend. Mit der von Paul Ziche und Vicki Müller-Lüneschloß verantworteten Textedition liegt ein weiterer be­eindruckender Baustein der Akademieausgabe vor, die in den letzten Jahren erfreulicherweise ungemein an Fahrt aufgenommen hat.