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Ausgabe:

Juni/2020

Spalte:

555–557

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Kuhn, Reiner

Titel/Untertitel:

Bekennen und Verwerfen. Westphals Ringen um Luther und Melanchthon.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2019. 272 S. = Refo500 Academic Studies, 58. Geb. 90,00. ISBN 978-3-525-57097-5.

Rezensent:

Marco Stallmann

Gegen bestimmte funktionalistische Reduktionen des Religiösen im Rahmen der sozial- bzw. politikgeschichtlich ausgerichteten Konfessionalisierungsforschung fragen kirchenhistorische Ansätze unter anderem nach der »Konfessionsbildung« als Teil des Konfessionalisierungsprozesses. Nach der Niederlage des reformatorischen Bündnisses im Schmalkaldischen Krieg und deren Besiegelung durch das kaiserlich verordnete Augsburger Interim (ab 1548) kam es zu einer sichtbaren Intensivierung solcher Identitätsfindungsprozesse, die insbesondere in den scharfen Auseinander-setzungen um das Abendmahlsverständnis kulminierten. Eine zentrale Rolle spielte darin der Hamburger lutherische Theologe Joachim Westphal, der noch bei Luther und Melanchthon studiert hatte und dessen Insistieren auf der Realpräsenz im Konflikt mit Johannes Calvin zwischen 1552 und 1555 der Kirchengeschichtsschreibung das Bild eines streitbaren Gnesiolutheraners einprägte. Von diesem Bild sind noch die gegenwärtigen Forschungsdebatten zum sogenannten Zweiten Abendmahlsstreit und zur damit einhergehenden konfessionellen Spaltung zwischen Lutheranern und Reformierten bestimmt.
Hier setzt nun die von Reiner Kuhn verfasste, von Wim Janse betreute und 2017 von der Theologischen Fakultät der Vrije Universiteit Amsterdam als Dissertation angenommene Forschungsarbeit an. Sie verfolgt die Absicht, ein differenzierteres Licht auf Westphals theologische Position zu werfen, und verschiebt den Fokus vom Abendmahlsstreit auf bisher weitgehend unbeachtete Schriften und Korrespondenzen, die Westphal als Wortführer gegen die Einführung des Interims und der Adiaphora ausweisen, aber auch eine Auseinandersetzung mit der Schweizer evangelischen Theologie spiegeln. K. nimmt das soziokulturelle und kirchenpolitische Umfeld des Hamburger Pastors in den Blick, dessen Identitätsfindungsprozess durch die strikt antiinterimistische Positionierung des Geistlichen Ministeriums beeinflusst ist und hanseatischen Emanzipationsgeist gegenüber der kaiserlichen Religionspolitik atmet. In dem Brief der Prediger zu Hamburg an die Theologen zu Wittenberg von 1549 ergreift Westphal gegen die von Melanchthon federführend bearbeitete Leipziger Landtagsvorlage und das damit verbundene, kompromissbereite Taktieren mit der Obrigkeit erstmals öffentlich das Wort. Einerseits setzt er sich gegen die Inanspruchnahme Luthers in den Reihen der Adiaphoristen nachdrücklich zur Wehr. Andererseits formuliert er eigene Ansprüche auf Deutungshoheit – so vor allem in seinem an die gebildete Öffentlichkeit adressierten Lutherflorilegium (ebenfalls 1549), welches die Rechtmäßigkeit der gottesdienstlichen Zeremonien im Horizont der Rechtfertigungslehre auf den Prüfstand stellt und sich so als programmatisches Kompendium des reformatorischen Anliegens Respekt verschafft. Neben dieser theologischen Kernintention arbeitet K. aus den kommentierenden Randglossen der Zitatensammlung historiographische Querverbindungen zu Me­lanchthon und schließlich den sublimen Appell an denselben heraus, entschiedener für die evangelische Rechtgläubigkeit und ge­gen das kaiserliche Edikt einzutreten.
Mit diesem »Ringen um Melanchthon« (211), seinen einstigen Wittenberger Lehrer und Förderer, nimmt Westphal eine Sonderrolle im gnesiolutherischen Theologennetzwerk um Matthias Flacius Illyricus ein, wo ihm nicht zuletzt aufgrund seines Einsatzes für das lutherische Abendmahlsverständnis ab 1552 Vertrauen ge­schenkt wird: »Im Prozess der sich konfessionell ausdifferenzierenden innerevangelischen Identitätskonzeptionen übernimmt Westphal nicht einen polarisierenden, sondern [einen] integrativ-werbenden Part, der bis 1557 um Melanchthon als exklusive Autorität im Gegenüber zu den Altgläubigen ringt« (257). Doch wie weitreichend ist dieser vermittelnde Zug im Gesamtbild Westphals? Mit dem Augsburger Reichsabschied von 1555 spitzen sich die Debatten um das rechte Verständnis der Confessio Augustana, insbesondere der Abendmahlsartikel, zu. Das nahende Religionsgespräch von 1557 erfordert einen klaren Kurs im evangelischen Lager, was Westphal zwar zunächst nicht von weiteren Schlichtungsversuchen zwischen Melanchthon und Flacius abhält, spätestens mit dem Wormser Schisma aber zum definitiven Bruch mit Melanchthon führt, als Westphal selber in die Nähe der »Philippisten« gerückt wird.
Und schon im Adiaphoristischen Streit sind seinem »Ringen« ja enge Grenzen gesetzt: Die von Melanchthon um des Friedens willen vorgeschlagene Kombination wiedereinzuführender katholischer Riten mit der evangelischen Lehre stößt auf heftige Ablehnung, ja wird von Flacius und Westphal sogar »als Verrat an der evangelischen Sache gedeutet«, so dass von nun an »Kompromisslosigkeit im Umgang mit früheren Freunden [Westphals] Pfad säumen« (85) wird. Zwar leidet er an dem sich anbahnenden Zerwürfnis mit sei nem Lehrer, was die Arbeit eindrücklich herausstellt, trotzdem kommt für ihn um der evangelischen Sache willen nur der Weg des Widerstands infrage: »Wer sich wie die Wittenberger auf politisch-gesellschaftliche Kompromisse in der Frage der Adiaphora einlässt, läuft Gefahr, den Kern der reformatorischen Lehre preiszugeben« (117). – Umso entschiedener wird die gnesiolutherische Exklusivität später gegenüber Calvin profiliert. Inwiefern verfolgt daher Westphals umstrittene, gegen die »widersprüchlichen Abendmahls­-an­schauungen der Sakramentierer« gerichtete Schrift Farrago confusanearum […] von 1552 wirklich den »Ansatz, um Verständigungs-möglichkeiten zwischen oberdeutsch-schweitzerisch geprägten Strö­mungen und der Wittenberger Theologie zu ringen« (258)?
Diese letzte Frage fällt aufgrund der gezielt eingegrenzten Forschungsfragestellung nicht mehr in den Untersuchungsrahmen. Westphals Rolle im Prozess der evangelischen Identitätsbildung wird von K. – soweit überhaupt möglich – jenseits des Abendmahlsstreits beleuchtet und die forschungspraktische Verwendung entsprechender Gruppenbezeichnungen modifiziert: Diese sind spätestens seit Thomas Kaufmanns Infragestellungen hoch umstritten, weshalb K. die jüngst vorgeschlagene Rede von einem »Netzwerk ›gnesiolutherisch orientierter‹ Theologen« aufgreift, die mit ihrer »inklusiven Denkrichtung« (254 f.) der Komplexität und dem Prozesscharakter der konfessionellen Konsolidierung gerecht zu werden versucht. Ob jedoch die neuere Forschung die Gruppenbezeichnung »Gnesiolutheraner« tatsächlich derart anachronistisch und pluralitätsvergessen verwendet, wie hier argumentiert wird, wäre zu fragen – soll doch beispielsweise die Rede von einem »apriorischen Konsens« (Irene Dingel) nicht etwa die netzwerkinterne Meinungsvielfalt infrage stellen, sondern vielmehr eben denjenigen gemeinsamen Nenner zum Ausdruck bringen, der Westphals Bemühungen um Melanchthon letztlich scheitern lässt: die kompromisslose Bewahrung und Profilierung der als normativ-identitätsstiftend rezipierten Rechtfertigungslehre Luthers. Westphal zeichnet sich, wie K. plausibel gezeigt hat, dadurch aus, dass er Melanchthon die Tür einen Spalt weit offenhält – aber nicht, weil er dessen Andersdenken anerkennen würde, sondern weil er noch damit rechnet, dass sein Wittenberger Mentor sich wieder auf den einzig wahren Pfad der rechten Lehre begibt.
Wie viel Diversität und Transformation konnte und wollte sich dieses Netzwerk in seiner konfessionspolitischen Bedrohungssituation leisten? Dies bleibt wohl ein weiter zu erforschendes kirchenhistoriographisches Problem, für dessen Klärung sich möglicherweise auch vergleichende Ansätze eignen könnten. Unbeschadet der obigen Anfragen leistet die vorliegende Studie einen problembewussten und differenzierten Beitrag, mit dem sich künftige Forschungen zur antiinterimistischen Identitätsbildung um 1550 werden auseinandersetzen müssen.