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Ausgabe:

April/2020

Spalte:

341–344

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Honecker, Martin

Titel/Untertitel:

Auf der Suche nach Orientierung im Labyrinth der Ethik.

Verlag:

Stuttgart: Kohlhammer Verlag 2017. 184 S. Kart. EUR 28,00. ISBN 978-3-17-033178-5.

Rezensent:

Marco Hofheinz

Martin Honecker, der zweifellos zu den renommiertesten Vertretern evangelischer Ethik der Gegenwart gehört und das Fach in den vergangenen Jahrzehnten maßgeblich mitprägte, hat als Alterswerk einen neuen Aufsatzband vorgelegt. Dieser ergänzt seine »Einführung in die Theologische Ethik« (1990), seinen »Grundriß der Sozialethik« (1995), seinen Entwurf »Evangelische Ethik als Ethik der Unterscheidung« (2010) und einige vorausgehende Aufsatzbände um einen weiteren. Dazu greift er den Titel einer der ihm gewidmeten Festschriften auf: »Im Labyrinth der Ethik« (2004). H. bemüht diese klassische Metapher, die nicht nur auf den Minotauros-Mythos zurückgeht, sondern durch ihre Verwendung im Kontext der Bibelauslegung von Hieronymus, Erasmus und Luther auch theologisch besetzt ist, um den Standort und die Aufgabe der Ethik zu umschreiben (vgl. 7). Er sieht sie durch einen Pluralismus u. a. der unterschiedlichen Perspektiven und eine Komplexität nicht nur der (ethischen) Konzeptionen, sondern auch der unüberschaubaren Lebenskonstellationen gekennzeichnet, die sich in der ethischen Urteilsbildung abbilde. Es geht H. nach eigenen Worten um die Suche, »den richtigen Weg zum Ausgang zu finden« (11).
Der seit 1999 emeritierte Bonner Sozialethiker beschreitet in diesem Bemühen sechs Wege in Gestalt sechs unveröffentlichter Studien, die auf den deutschen Sprachraum kapriziert sind. Gemeinsamer Leitfaden ist dabei das Verhältnis von Ethik und Theologie. Die theologische Perspektive in den Blick nehmend bestimmt H. bereits in der Einleitung (9–21) den »Glaube[n] an Gottes Rechtfertigung [als] Probierstein [lapis lydius] einer evangelischen Ethik« (21). H. sieht den Christen aufgrund der Rechtfertigung zum profanen Vernunftgebrauch ermächtigt und befreit. Vor der inhaltlichen Darlegung von H.s Weg durch das Labyrinth sei in formaler Hinsicht der Hinweis gestattet, dass dieser inhaltlich wichtige Band so nicht in den Druck hätte gehen dürfen. Insbesondere die Fußnoten weisen nicht nur eine große Uneinheitlichkeit, sondern auch Unvollständigkeit auf, die durch ein Lektorat hätte vermieden werden können. Register fehlen leider auch.
Die erste Abhandlung »Grundfragen theologischer Ethik« (23–72) beschreibt mit dem Dilemma theologischer Ethik Wesen und Charakter des Labyrinths. H. identifiziert ein doppeltes Dilemma, das einerseits zwischen ethischem Universalitätsanspruch und der notwendigen partikularen Suche nach dem Proprium christlicher bzw. theologischer Ethik und andererseits zwischen der kritischen Reflexion wissenschaftlicher Ethik und der Realität üblicher (Alltags-)Moral, die beide indispensabel sind. Als »die Brücke im Di­lemma« (68) bestimmt H. die Verantwortung, einen Schlüsselbegriff seines Ethik-Ansatzes. Darüber hinaus wird die These des jungen H., wonach der Gegenstand der Ethik das rein Menschliche sei und auf der Ebene der Motivation gesucht werden müsse, jetzt dahingegen präzisiert, dass er eine reine Vernunftorientierung im Zuge der etwa Affekt und Erfahrung einbeziehenden »anthropologischen Voraussetzungen« (37–46) relativiert und »Vernunft und Motivation in ihrer Irritation durch die Macht des Bösen« (43) be­schreibt. Anthropologie bzw. ein Grundverständnis des Menschen sei die Voraussetzung jeder Ethik und hier, auf der Ebene der anthropologischen Grundlagen, sieht H. auch eine positive Bedeutung der Theologie für die Ethik gegeben.
Die zweite Abhandlung »Was ist evangelische Sozialethik?« (73–113) widmet sich mit der Geschichte des Dilemmas gleichsam der Historie des Labyrinths. H. zeichnet die Anfänge evangelischer Sozialethik im 19. Jh. und ihre Verwurzelung in der sozialen Fragen nach, entfaltet als wichtige Stationen der Disziplingeschichte Ernst Troeltschs Soziallehren und benennt die im Nachkriegsprotestantismus dominierende Alternative von Ordnungstheologie und christologischer Begründung sowie die Ansätze ihrer Überwindung (etwa in Heinz-Dietrich Wendlands »Theologie der Gesellschaft«). Der Rückblick wird komplettiert durch einen Blick auf die Beiträge einer ökumenischen Sozialethik und ihr Leitbild einer »verantwortlichen Gesellschaft«, die katholische Soziallehre und die evangelisch kirchlichen Äußerungen zu öffentlichen Themen (sogenannte »Denkschriften«) sowie die abschließende Forderung nach einer Rückkoppelung theologischer Ethik an die Fragestellungen der Fundamentaltheologie (bes. 113).
Die dritte Abhandlung »Evangelische Ethik zwischen Kirche und Welt« (115–132) schreitet den bereits benannten und als Dilemma zwischen Universalität und Partikularität identifizierten Labyrinth-gang weiter ab. Sie nimmt dabei im Bemühen um eine Ortsbestimmung evangelischer Ethik im heutigen gesellschaftlichen und politischen Kontext die Koordinaten von Kirche und Welt in den Blick. Als Testfall behandelt sie die Programmatik einer öffentlichen Theologie, deren Risiken H. benennt: »[D]ie Orientierung kirch-licher und theologischer Äußerungen an politischer Kommunikabilität und an öffentlicher Effektivität [wird] zum Maßstab« (15). H. stellt eine Reihe wichtiger Anfragen, u. a. folgende: »Kann man aber religiöse Sprache ohne Substanzverlust in ein säkulares Idiom übertragen? Für den theologischen Beitrag bleibt dann lediglich die Rechenschaft über die zugrundeliegende Gesinnung übrig« (130).
Die vierte Abhandlung benennt »Chancen und Risiken von Pluralismus und Toleranz« (133–148), schreitet aber weitaus weniger intensiv einen Labyrinthgang aus, als die übrigen Beiträge dies tun, sondern verharrt eher in beobachtender Distanz. Insbesondere der Ausblick »Benötigt man eine Migrationsethik?« (147 f.) ist sehr knapp geraten und wirft die Frage auf, ob es angesichts des Flüchtlingsdramas theologisch zureichend ist, der vermeintlichen Logik der Zweireiche-Lehre folgend, mit der Alternative von Verantwortungs- oder Gesinnungsethik die Grenzen der Zuwanderung zu beschwören. Bereits Max Weber hat ja den Gegensatz nicht absolut gesehen und betont, dass es sich um zwei Ethosformen handelt, »die zusammen erst den echten Menschen ausmachen«. Im Licht des kommenden Reiches Gottes ist Flüchtlingspolitik theologisch sicherlich anders zu perspektivieren.
Die fünfte Abhandlung ist einem der großen »Guides« durch das Labyrinth gewidmet: Dietrich Bonhoeffer und seiner Ethik (149–170). H. nimmt diesem gegenüber freilich eine eher reservierte Haltung ein und benennt Schwierigkeiten im Umgang mit ihm. Nicht nur hier schlagen bei H. alte Vorbehalte gegen ein christologisches Wirklichkeitsverständnis und die Betonung der zentralen Bedeutung von Christologie und Wort Gottes für Theologie und Ethik durch (vgl. 155 f.159.167). Die sechste Abhandlung beschließt als ein dem Verhältnis von »Ethik und Predigt« (171–184) gewidmeter letzter Gang durch das Labyrinth die Ausführungen. Wichtig dürfte hier der Verweis auf die neutestamentlichen Paränesen sein, die »Anleitung und Beispiel für den Umgang mit Themen in der Predigt« (17; vgl. 182 f.) geben.
Die Stärke von H.s Orientierungsversuch »im Labyrinth der Ethik« besteht in jenen Umständen und Faktoren, für die auch H.s vorausgehende Lehrbücher zu Recht wertgeschätzt werden: Sie liefern eher konservative, aber sehr solide Einführungen in die behandelten Problemfelder, versehen mit vielen sehr verständlichen und gut nachvollziehbaren Grundinformationen, begrifflichen Klärungen und sachlichen Differenzierungen. Insbesondere die erste Abhandlung gibt anschaulich einen guten Überblick über das Arsenal der in der ethischen Argumentation verwendeten Begriffe und Überzeugungen.
Für die Erschließung des Labyrinths sind diese Instrumentarien sehr nützlich. Im geteilten Interesse, den richtigen Weg aus dem Labyrinth zu finden, wird man freilich konzeptionell nicht H.s theologische und insbesondere christologische wie eschatologische Skepsis teilen müssen. Der Ausgang aus dem Labyrinth kann ja in theologischer Hinsicht weder einfach kosmokratorchristologisch noch einfach futurisch-eschatologisch im Sinne der Escape-Teleo-logie humaner Trial-and-Error-Bemühung bestimmt werden. Vielmehr wird er adventlich-messianisch im Sinne des Kommens Gottes in unser Labyrinth in den Blick zu nehmen sein. Das Reich Gottes liefert dabei gewiss nicht den Ariadnefaden »frei Haus«. Je­doch geht die Orientierung im verzweigten Gangsystem vom Handeln Gottes aus, das die Christuswirklichkeit manifest werden lässt. Im Hinweis darauf dürfte Bonhoeffers, aber auch Barths christologischer Ansatz wegweisender sein, als H. zu konzedieren bereit ist.