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Ausgabe:

April/2020

Spalte:

319–321

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Becker, Michael

Titel/Untertitel:

Kriegsrecht im frühneuzeitlichen Protes-tantismus. Eine Untersuchung zum Beitrag lutherischer und reformierter Theologen, Juristen und anderer Gelehrter zur Kriegsrechtsliteratur im 16. und 17. Jahrhundert.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2017. XV, 455 S. = Spätmittelalter, Humanismus, Re­formation, 103. Lw. EUR 89,00. ISBN 978-3-16-155362-2.

Rezensent:

Marco Hofheinz

Bei der vorliegenden Untersuchung von Michael Becker handelt es sich um eine im Sommersemester 2016 in Heidelberg eingereichte und unter Betreuung von Christoph Strohm verfasste Dissertation, die inzwischen mit dem Wissenschaftspreis des Wissenschaftlichen Beirats »Reformationsjubiläum 2017« ausgezeichnet wurde.
Die Themenstellung der Untersuchung ist zweifellos groß-dimensioniert und schon deshalb hochambitioniert. Ihren Gegenstand bildet die Völkerrechtsgeschichte im konfessionellen Zeitalter, genauer: die Konfessionalisierung im Bereich des Kriegs- und Bündnisrechts. Es geht dabei auch um spezifische Problemstellungen wie offensive und defensive Religions- und Konfessionskriege, interreligiöse und interkonfessionelle Bündnisse. Die erkenntnisleitende Fragestellung lautet, »ob und, falls ja, in welcher Weise der Protestantismus einen spezifischen Beitrag zur Entstehung des frühmodernen Völkerrechts geleistet hat« (1). Die Studie ist komparatistisch angelegt und untersucht die drei großen christlichen Konfessionsfamilien Katholizismus, Luther- und Reformiertentum. Das besondere Augenmerk B.s gilt dabei den beiden protes-tantischen Konfessionen und der in ihren Reihen bei Theologen, Juristen und Politikwissenschaftlern bis 1625 erfolgten Reflexion des Kriegsrechts als Kerngebiet des Völkerrechts. Nach Beobacht ung B.s stand der Protestantismus im Blick auf das vorgrotia-nische Kriegs- und Völkerrecht bislang forschungsgeschichtlich weitestgehend im Schatten der spanischen Theologie bzw. des spätscholastischen Naturrechts, namentlich der »Schule von Salamanca« (Francisco de Vitoria, Francisco Suárez, Balthasar Ayala u. a.), und unter der Hypothek einer vor allem von Carl Schmitt geprägten enttheologisierenden und entkonfessionalisierenden Lesart von Alberico Gentili und Hugo Grotius (vgl. 5 ff.). Mit B.s Untersuchung auf einem »weitgehend unbestellte[n] Feld« (11) ändert sich dies.
Die Untersuchung gliedert sich übersichtlich in drei Teile: Der erste Teil (35–114) behandelt das Kriegsrecht in der lutherischen (Martin Luther, Philipp Melanchthon, Christoph Binder und Johann Gerhard) und reformierten Theologie (Huldrych Zwingli, Johannes Calvin, Petrus Martyr Vermigli, Wilhelm Zepper und Amandus Polanus von Polansdorf), der zweite Teil (115–280) den Kriegsrechtsdiskurs, wie er über die Theologie hinaus bei lutherischen (etwa Heinrich Bocer, Elias Reusner, Christoph Besold und Matthias Bernegger) und reformierten (namentlich Alberico Gentili, Eberhard Weyhe und Hugo Grotius) Juristen und anderen Gelehrten geführt wurde. Schließlich treten im dritten Teil (281–376) römisch-katholische Positionen in den Blick, so dass im Vergleich konfessionelle Eigenarten und Akzente identifiziert werden können. Eine finale Ergebnissicherung (377–392) präsentiert die Resultate in gebündelter Form. Eine stattliche Bibliographie (393–439) zu den berücksichtigten umfangreichen Quellen und der Forschungsliteratur sowie hilfreiche Registerwerke (441–455) schließen die Untersuchung ab.
Zu den zentralen Ergebnissen gehören die im Protestantismus im Vergleich zur zeitgenössischen römisch-katholischen Theologie stärkere Einbettung des Kriegsrechts in die Obrigkeitslehre, die stärkere Restriktion gegenüber defensiven wie offensiven Religionskriegen, die Zurückhaltung gegenüber der traditionellen Bellum-iustum-Lehre zugunsten eines intensiven Bibelbezugs (der etwa bei Gentili als Ausdrucksform einer Emanzipation der Jurisprudenz von der Theologie zu verstehen ist), die Frontstellung ge­gen pazifistische Strömungen in Täufertum und Sozinianismus bei gleichzeitiger Rezeption theologischer Irenik und schließlich ein sukzessives Zurückdrängen der Antichristpolemik. In den Ausführungen Gentilis in De iure belli (1589), die B. besonders hervorhebt (vgl. 189–205.337–353), werde in der Ablehnung offensiver Religionskriege ein Leitparadigma des Kriegsrechts erkennbar, das auf die Präsenz der Zwei-Regimenten-Lehre (etwa in der Unterscheidung von ius humanum und ius divinum) zurückgeführt wird. Innerkonfessionelle Unterschiede seien vor allem bei der Einschätzung des Söldnerwesens (militia mercenaria) und der interreligiösen Bündnisse ansichtig, wobei es auch im reformierten Protestantismus nicht nur Re-, sondern auch Entsakralisierungstendenzen im Kriegs- und Bündnisrecht gebe, die sich vor allem bei und mit Grotius durchsetzten.
Die eindrucksvolle Untersuchung zeigt auf der Grundlage eines breiten Quellenstudiums anhand des Völkerrechts- bzw. Kriegsrechtsdiskurses exemplarisch, dass lutherische und reformierte Ge­lehrte in ihrer konfessionellen Prägung einen wichtigen menschheitsgeschichtlichen Beitrag zur Rechts-, Kultur-und Zivilisationsformation leisteten. Auf die Genese des modernen Völkerrechts haben die christlichen Konfessionen insgesamt, also nicht nur der Katholizismus, sondern – wie B. zeigt – auch der Protestantismus in seiner konfessionellen Ausdifferenzierung einen erheblichen Einfluss gehabt: »[A]ngesichts bestehender Tendenzen in der Völkerrechts- und Theologiegeschichte [ist] zu konstatieren, dass auch lutherische und reformierte Gelehrte mit ihrer intellektuellen und konfessionellen Prägung an der Genese und Ausdifferenzierung des frühneuzeitlichen Kriegsrechts mitwirkten und ihm in spezifischer Weise Gestalt verliehen.« (392)
Um den bleibend wichtigen Charakter der damaligen Inno-vationen zu unterstreichen, wäre es aus der Perspektive des (Friedens-)Ethikers wünschenswert gewesen, wenn der Konnex zur friedensethischen Debatte um den gerechten Krieg zumindest in der Weise herausgearbeitet worden wäre, dass man die Frage nach der Kriteriologie (Systematisierung/Klassifikation und Applikation der Kriterien des ius ad bellum und des ius in bello) stärker berücksichtigt hätte. Mit der Ablehnung der traditionellen Bellum-iustum-Lehre dürfte keineswegs alles gesagt sein. Eine Zurückhaltung des Kirchen- und Rechtshistorikers ist hier gleichwohl verständlich. Auch wären eine stärkere Akzentuierung territorialer Gesichtspunkte und eine intensivere Berücksichtigung »realgeschichtlicher« Herausforderungen konkreter Kriege und gewalt-samer Konfliktformationen möglich gewesen. Diese hätten auch für die Be­gründung der Quellenauswahl genutzt werden können. Gerade bei einem so groß dimensionierten Thema ist Exemplarität wegweisend.
Doch vermutlich hätte dies kaum etwas an dem ansonsten methodisch gut und argumentativ stringent herausgearbeiteten Ergebnis der durchweg gelungenen Untersuchung geändert. Es sei B. gedankt für seinen äußerst wichtigen Beitrag zur Völkerrechtsgeschichte und zur Konfessionalisierungsdebatte.