Recherche – Detailansicht
Ausgabe: | Dezember/2019 |
Spalte: | 1318–1319 |
Kategorie: | Ökumenik, Konfessionskunde |
Autor/Hrsg.: | Elsner, Regina |
Titel/Untertitel: | Die Russische Orthodoxe Kirche vor der Herausforderung der Moderne. Historische Wegmarken und theologische Optionen im Spannungsfeld von Einheit und Vielfalt. |
Verlag: | Würzburg: Echter Verlag 2018. 407 S. = Das Östliche Christentum. Neue Folge, 63. Kart. EUR 42,00. ISBN 978-3-429-04207-3. |
Rezensent: | Reinhard Thöle |
Berührt man in Diskussionen auch nur sehr vorsichtig den Themenbereich Russische Orthodoxe Kirche (ROK) in der heutigen gesellschaftlichen Situation, löst dieses zumeist heftige von Ste-reotypen und Schnellschüssen gekennzeichnete, mit dem Gestus der Aufgebrachtheit vorgetragene Reaktionen aus, die sehr zielsicher als Feindbild den ewigen bösen Buben, die ROK, ausmachen. Die ROK erfülle die gern übernommene Aufgabe einer vom Geheimdienst geleiteten Propagandakongregation für den russischen Präsidenten und fröne ungeniert einem vormodernen Staats-kirchentum, das gegen die westlichen Errungenschaften von In-dividualisierung, Liberalisierung und Säkularisierung zu Felde ziehe und damit der russischen Gesellschaft einen Bärendienst er-weise.
Die vom Münsteraner Ostkirchenkundler Thomas Bremer betreute Dissertationsschrift von Regina Elsner leistet in einem solchen Diskurs einen wertvollen Dienst, da sie inmitten der aufgeladenen Diskussion erst einmal konsequent nach den theologischen Grundlagen der ROK fragt, die maßgeblich für ihre Äußerungen sind, und von dort aus die Argumentationslinien der öffentlichen kirchlichen Stellungnahmen nachzeichnet. E. erarbeitet den historischen Werdegang der theologischen Leitmotive der ROK und diskutiert, ob in den Stellungnahmen der ROK eine Engführung der eigenen theologischen Grundlagen vorliegt oder ob nicht vielmehr diese Grundlagen ebenso gut für eine konstruktivere Auseinandersetzung mit der modernen Welt dienen könnten.
Sie klärt zuerst den Begriff »Moderne« für sich und sieht in den Charakteristika des normativen Anspruchs, der strukturellen Ausdifferenzierung mit dem Ende einer Meta-Erzählung und des Erlebens von Diskontinuität zugleich ein passendes Erkenntnis leitendes System für ihre Untersuchungen. Um die Fülle des Stoffes zu bewältigen, verzichtet sie auf die theologischen Ansätze der russischen Emigration und klammert das Thema »Ökumene« in seiner Eigengesetzlichkeit ebenfalls aus.
Auf ihrer historischen Spurensuche betrachtet E. dann klassische Epochen der russischen Kirchen- und Theologiegeschichte und knüpft daran fundamentale Fragestellungen an. Liegt die Verantwortung des Christentums in der persönlichen geistlichen Vervollkommnung oder im Wirken in der Welt? (15. Jh.) Haben rituelle Fragen einen unberührbaren Status? (17. Jh.) Was trägt die Kirche zum gesellschaftlichen Zusammenhalt bei? Ist der Westen Vorbild oder Bedrohung? (Zeit Peters I.) Was macht Russlands eigene auch religiöse Identität aus? (19. Jh.) Soll Ekklesiologie demokratisch oder episkopal gedeutet werden? (Landeskonzil 1917/8) Wie kann die Kirche zwischen Anpassung und Widerstand überleben? Hat eine radikale Säkularisierung der Gesellschaft die Kirche in eine konservative Starre geführt? (Zeit des Kommunismus) Haben die neue Religionsfreiheit und die Missionsversuche von außen ein Zusammenrücken von Kirche und Staat bewirkt? Ist die ROK zur »geistlichen Führerin des Volkes und Wiege seiner nationalen Existenz« geworden? Verfolgt die ROK einen defensiven Ansatz, mit Erneuerungsbestrebungen umzugehen (Wende- und Nachwendezeit)?
In einer dogmatischen Orientierung wird sie auf drei Feldern fündig. Die Trinitätslehre der Orthodoxie beschreibt gemäß ihrem apophatischen Ansatz einerseits die Unmöglichkeit, die Beziehungen in der göttlichen Dreiheit zu erfassen, betont jedoch andererseits damit eng verbunden die Einheit und Harmonie der göttlichen Personen. Die theologische Fokussierung des Ausgleiches zwischen Einheit und Vielfalt enthält ein großes Potential für die Anthropologie. Diese bleibt zwar theozentrisch, welches aber nicht als Absage an das Eigene verstanden wird, sondern als positive Möglichkeit der Bereicherung und Ergänzung des Individuums. Auch in der Ekklesiologie wird dieser Spannungsbogen von Einheit und Vielfalt mit dem charakteristischen kaum übersetzbaren Begriff »Sobornost« wiedergegeben. In der eucharistischen Versammlung werden sowohl einheitliche und gleichwertige Strukturen der Kirche und ihrer leitenden Repräsentationen festgelegt wie auch das Verhältnis des einzelnen Gläubigen zur Gemeinschaft der Glaubenden beschrieben. Einer anti-institutionalistischen und demokratiefreundlichen Auslegung der Sobornost wird in der innerorthodoxen Diskussion selbst widersprochen durch eine hierarchiefreundliche Auslegung. E. hält den Ansatz der Balance von Einheit und Vielfalt als Grundprinzip der russischen Theologie grundsätzlich für geeignet, einen Anknüpfungsrahmen für die Fragen der Moderne darzustellen. Sie hat aber durch ihre Beschäftigung mit der Begriffsgeschichte erkannt, dass die historischen Umstände und die gesellschaftspolitischen Strategien der Kirchenleitungen letztlich bestimmen, wie man mit Abgrenzungen und Akzenten umgeht.
E. beschreibt dann die Entwicklung eines Einheits- und Zen-tralisierungsprozesses im Zusammenhang mit den Bischofsversammlungen von 2000 und 2008 als vermutlich theologische Antworten auf weltliche Herausforderungen. Auf die in den gleichen Jahren publizierte Sozialdoktrin geht sie überraschenderweise kaum ein. Sie sieht gestützt auf Äußerungen des Patriarchen Kyrill die ROK als multinationale Gemeinschaft, in der mit der Vision »eine Zivilisation, ein Volk, eine Moral« die Besonderheiten eines eigenen russischen Ansatzes bewahrt werden. Sie betrachtet diesen Ansatz aber als eigentlich nicht notwendige Vereinfachung der orthodoxen Tradition, die einer »vormodernen Sehnsucht nach einfachen Antworten« entspringt, nicht jedoch dem Potential der eigenen Möglichkeiten.
Den Unterschied zwischen ost- und westkirchlichem Ansatz sieht sie darin, dass die Orthodoxie die Menschwerdung Gottes vorrangig aus der Heilsperspektive für den Menschen betrachtet und weniger als Annahme des Menschlichen durch Gott. Dieses stehe Tendenzen entgegen, gemäß denen Christus stark humanisiert wird und dadurch für das moderne Kreisen um den einzelnen Menschen eher zugänglich wird. Die Orthodoxie lasse es damit aber auch zu, dass die Christen jenseits von politischen Verflechtun-gen eine unabhängige Haltung zur Gegenwart finden. Die Kirche wahrt damit gleichzeitig ihren Anspruch, »die Metaerzählung« der zu wahrenden Einheit zu bleiben.
Es ist das Verdienst E.s, die theologiegeschichtlichen und systematisch-theologischen Grundlagen der russischen Orthodoxie zu erarbeiten und darzustellen in Diskussionslagen, in denen diese zu leicht übersehen werden. Sie musste sich dabei vorrangig auf die offiziellen Äußerungen der ROK stützen. Diese für ihre Arbeit notwendige Beschränkung macht aber Mut, sich an Untersuchungen heranzuwagen, die das gleiche fundamentale Thema im Bereich anderer Lebensäußerungen der ROK bearbeiten. So z. B. anhand der in der modernen russischen Gesellschaft populären monastischen Literatur oder die Verehrung und Kanonisierungsprozesse von Heiligen in schwierigen politischen Phasen oder im historischen Rückblick.