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Ausgabe:

Dezember/2019

Spalte:

1312–1314

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Arnold, Jochen, Gidion, Anne, Oxen, Kathrin, u. Helmut Schwier [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Mit Bach predigen, beten und feiern. Kantatengottesdienste durch das Kirchenjahr.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2018. 448 S. = gemeinsam gottesdienst gestalten, 29. Geb. EUR 30,00. ISBN 978-3-374-05337-7.

Rezensent:

Konrad Klek

Gottesdienste mit Aufführung einer Kantate von J. S. Bach sind vielerorts üblich und meist gut besucht, ob in einer eigenen Reihe als liturgisches »Nebenprogramm«, ob integriert in den sonntäglichen Hauptgottesdienst oder als spezieller Festakzent. Selbst das im Konzertleben als Staffage zum Weihnachtsmarkt meistmissbrauchte Werk Bachs, die sechs Kantaten des Weihnachtsoratoriums, ist im Sinne der ursprünglichen Bestimmung als Musik zu sechs Gottesdiensten der Weihnachtsfestzeit inzwischen an diversen Orten komplett realisiert worden, allen damit verbundenen finanziellen Problemen (Künstlerhonorare) zum Trotz.
Die liturgischen wie homiletischen Herausforderungen bei der Integration von Bachkantaten in einen Gottesdienst sind enorm. Sehr weit auseinander liegen die kirchlichen Welten damals und heute, nicht nur hinsichtlich der zeitlichen Proportionen – damals waren es 20 Minuten »Musik« in einem Drei-Stunden-Gottesdienst. Die dreiste Negation dieses Hiatus ist leider auch Realität: Liturgisch »korrekt« wird nach der Evangelienlesung die Kantate aufgeführt. Es folgt die Predigt, gerne etwas kürzer als üblich, zum (ggf. abweichenden) Text der Perikopenordnung, als ob es die Kantate nicht gegeben hätte. Auch sonst ist der Gottesdienst »business as usual«.
Dem stellt sich diese Publikation entgegen durch Präsentation von nicht weniger als 46 Beispielen aus der Praxis (laut Vorwort nur »über 30«). Überwiegend ist zur Predigt hinzu auch der Gottesdienstablauf wiedergegeben, teilweise inklusive der Gebete, jedoch meist ohne die Kantatenlibretti. In der Einleitung thematisieren vier »Reflexionen« wesentliche Aspekte der Gestaltungsaufgabe.
Reihenherausgeber Jochen Arnold (der wohl auch das nicht sig­nierte Vorwort verfasst hat) öffnet mit »Bachs Kantaten als gottesdienstliche Quellen« den Horizont für eine vielseitigere liturgische Wahrnehmung der Kantaten, nicht nur als Predigt sui generis, sondern in ihren »gottesdienstlichen Strukturen von Wort und Antwort, Gebet und Segen« (31), was Perspektiven bietet für die Platzierung von Kantatensätzen im liturgischen Ablauf, also zur »gottesdienstlichen Inszenierung« (29 f.) der Kantate. Ebenso sind diverse liturgische Orte – Abendmahls-/Predigtgottesdienst, musikalische Vesper, sogar Kasualie – denkbar mit jeweils spezifischer Einordnung der Musik. Der zu Bachs Zeit konstitutive Bezug zum Proprium des Sonntags bleibt für Arnold auch heute zentral, was bei der Wahl der Kantate nach der Revision der Leseordnung jetzt zu Problemen führen kann.
Bandherausgeber Helmut Schwier referiert umsichtig die homiletische Problematik. Unter dem motivierenden Vorzeichen »Glück der Kantatenpredigt« (32) zeigt er die verschiedenen Optionen auf, wie Prediger mit den Vorgaben der Musik umgehen können. Dabei bezieht er sich auf die abgedruckten Beispiele, welche ein enormes Spektrum der Beziehungsmöglichkeiten wiedergeben: vom detailliert Libretto, Liedvorlagen und Vertonung »erklärenden« Text von Schwier selbst (Universitätsgottesdienst zu BWV 61 »Nun komm, der Heiden Heiland«) über die eher assoziativ Impulse aus den biblischen Grundlagen der Kantate aufgreifenden Worte von Mitherausgeberin Kathrin Oxen (zu BWV 140 »Wachet auf, ruft uns die Stimme«) bis hin zum geradezu poetischen Gesamtkunstwerk von Michael Gressler, künstlerisch sozusagen auf Augenhöhe (zu BWV 110 »Unser Mund sei voll Lachens«). Für Schwier ist jeder Kantatengottesdienst eine Kasualie mit den damit gegebenen »Herausforderungen und Chancen« (35). Diese Akzentuierung steht durchaus polar zu Arnolds Propriumsorientierung, was die Lektüre anregend macht.
Alexander Deeg lässt in »Unterwegs zu einer dramaturgischen Kantatenpredigt« seine Begeisterung über diesen Predigtkasus spüren am Beispiel von BWV 23 »Du wahrer Gott und Davids Sohn«. Die aufgezeigte Dramaturgie »vom Straßenrand zum Abendmahl« hat nur den Schönheitsfehler, dass der Cantus »Christe, du Lamm Gottes« bei Bach nicht spezifisch das »Agnus dei« repräsentiert, sondern als »Kyrie« schlechthin fungiert: »Erbarm dich mein/unser«. So drängt sich die allgemeine hermeneutische Frage auf, inwieweit die Kantatenpredigt sich an Bachs mutmaßliche Intention binden sollte.
Aus der Sicht der für die Musik Verantwortlichen beschreiben Dorothea Haverkamp und Kai Koch die zahlreichen praktisch relevanten Aspekte »Zur Inszenierung von Kantatengottesdiensten«. Auch hier herrscht ein erfrischend ermunternder Tonfall vor. Gemeinde und Ausführende (Chor, Solisten, Orchester) sind über die Kantatenpräsentation hinaus vielfältig miteinander ins Spiel zu bringen. Und mit Cleverness lässt sich auch unter dem Diktat des »Low Budget« kreativ agieren.
Die Vielfalt der abgedruckten Predigten kann sicher vielfältig Anregungen geben für alle, denen das »Glück« einer Kantatenpredigt widerfährt. Wie bei allen Predigtsammlungen wird niemand etwas genau so übernehmen wollen, aber Anstöße, auch einmal einen anderen Weg zu versuchen, werden reichlich zu finden sein, gerade hinsichtlich der liturgischen »Inszenierung« der Kantate. Hervorgehoben sei die »dramaturgische Predigt« in, mit und unter der Kantate BWV 81 »Jesus schläft, was darf ich hoffen« von Herausgeber J. Arnold. Hier ist überzeugend vorgestellt, wie die Kantate nicht nur als »Predigt vor der Predigt« (Arnold, 18) ernst zu nehmen ist, sondern am besten wie in einer Dialogpredigt ins direkte Wechselgespräch kommt.
Dass die Predigenden als »Prediger nach der Kantate« auch leicht unter die Räder der Musik kommen können, weil diese »gewaltiger« predigt, verschleiert Schwiers Formel von der Kantate als »starker Partnerin«, deren Verkündigungskraft die Predigt entlaste (39). Im Buch gibt es auch (wenige) Beispiele, wo die Predigt sehr weit unter der Kraft der Musik bleibt oder mit nur einer Rosine aus dem Libretto meint hausieren gehen zu können. Das Fehlen vieler Libretto-Texte schützt bei der Lektüre davor zu realisieren, wie weit die Predigt von deren Impulsen weg ist. Als Problem ernst zu nehmen ist schließlich auch die inhaltliche Widerständigkeit von bestimmten Zügen in Bachs Kantaten für die heutige Rezeption. Reinhard Mawick hat das virtuos gelöst beim vollmundigen Lobpreis der Obrigkeit in der Ratswahlkantate BWV 119 am Tag der deutschen Einheit.
Schade, dass im Buch keines der Projekte »das ganze Weihnachtsoratorium im Gottesdienst« dokumentiert oder referiert ist, um gerade dies zur Nachahmung zu empfehlen. Allerdings sind Gottesdienste zu allen sechs Kantaten aufgenommen. Schade auch, dass der Aspekt »High Budget«-Event mit Kantatengottesdienst nicht berücksichtigt ist. Es gibt ja durchaus Musikfestivals, Bachtage etc., wo das hochrangige Equipment auch für eine Kantate im Gottesdienst verpflichtet wird, dazu in der Regel ein(e) »namhafte(r)« Prediger(in). Auch hier gibt es spezifische »Herausforderungen und Chancen«. Schließlich fehlt leider eine Erörterung über die Perspektiven des Musizierens mit »historischen Instrumenten« und stilistisch einschlägigen Gesangssolisten. Die (von Schwier unterstrichene) Affekthaftigkeit der Musik und ihre (von Arnold betonte) rhetorische Qualität kommen gerade so zur Geltung. Und Bachs Symbolik der Alt-Stimme als Stimme des Glaubens funktioniert nun mal nur mit Altus-Sänger.