Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Dezember/2019

Spalte:

1295–1297

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Law, Esteban

Titel/Untertitel:

Das ›Corpus Hermeticum‹ – Wirkungsgeschichte: Transzendenz, Immanenz, Ethik. Das ›Corpus Hermentikum‹ im Rahmen der abendländischen Tradition. 5 Teilbde. Teil 1: Charakteristik des ›Corpus Hermetikum‹.

Verlag:

Stuttgart-Bad Cannstatt: frommann-holzboog 2018. 472 S. = Clavis Pansophiae, 7,3.1. Lw. EUR 198,00. ISBN 978-3-7728-2721-1.

Rezensent:

Jens Holzhausen

Esteban Law hat den ersten Band seines auf fünf Bände angelegten »opus maximus« zur antiken Hermetik und ihrer Nachwirkung vorgelegt. Insofern steht die vorgelegte Erarbeitung einer »hermetischen Topik«, wie L. dies nennt (126 u. ö.), auch im Dienste der nachfolgenden Studien, die sich sowohl den antiken philosophischen Parallelen (Philo, Mittelplatonismus, Plotin etc.) (Clavis Pansophiae 7,3.2) als auch der Rezeption in spätantiken (7,3.3), mittelalterlichen (7,3.4) und frühneuzeitlichen Überlieferungen (7,3.5) widmen sollen. Die in 7,3.1 nun erarbeiteten Haupt- und Untertopoi des Corpus Hermeticum (= CH) »bilden hierbei die Leitbegriffe bei der Erforschung der Rezeptionsgeschichte. Sie sind sozusagen die Überschriften, an denen sich die einzelnen Argumentationen der Hermetismus-Traditionen anlagern« (126). Man wird zugeben können, dass eine sinnvolle Geschichte der Hermetik-Rezeption methodisch nur den von L. eingeschlagenen Weg gehen kann und dass sein Versuch einer Rekonstruktion der »Elemente hermetischer Theologie« (125) insofern mehr als berechtigt ist. Leider sperrt sich das hermetische Textcorpus hartnäckig einer solchen Systematisierung. L. hat sich also keine leichte Aufgabe vorgenommen, hofft damit aber die schon von H. Dörrie im Jahre 1955 geforderte »Charakteristik des Hermetismus« vorlegen zu können (89 f.).
L. gibt nach drei einleitenden Kapiteln zur Gestalt des Hermes Trismegistos eine instruktive Übersicht über die bisherigen Versuche (75–94), wobei besonders Josef Kroll zu nennen ist, der auch erstmals auf die für L. entscheidende Triade »Gott, Kosmos, Mensch« eingegangen ist. Hinderlich für alle diese Versuche waren nicht nur die zahlreichen Widersprüche im gesamten Corpus zu den verschiedensten Einzelfragen (L. nennt einige: 124, Anm. 4), sondern vor allem die seit Festugière etablierte Unterscheidung in eine optimistisch-monistische und eine pessimistisch-dualistische Grundströmung (Letztere darf dabei nicht als »gnostisch« missverstanden werden, da an keiner Stelle im CH eine defizitäre, unwissende, gar böse Schöpfergestalt zu finden ist). L. drückt sein Anliegen in einer Frage aus: »Wäre es daher nicht ebenso denkbar, dass Monismus und Dualismus nicht zwei geistigen Parallelwelten zuzuordnen und deshalb kaum in pointierter Form als einander widersprechend zu begreifen sind?« (84) L. versucht diese Synthese, indem er anstelle von Monismus/Dualismus die Begriffe Transzendenz und Immanenz stellt. Daraus folgt für ihn ein dreigliedriges Schema: Gott – Welt – Mensch oder besser: Allgeist ( Νοῦς) oder Gottes Logos – Geist des Kosmos – Geist des Menschen, woraus sich dann die drei großen Themen seiner Darstellung ergeben: I. Theologia hermetica generalis (Gottes Transzendenz) (129–160), II. Theologia hermetica specialis – das hermetische Derivationssystem (Immanenz) (161–266), III. Anthropologia hermetica (einschließlich Ethik) (267–395) – sehr übersichtlich und leserfreundlich zusammengefasst in dem Schlusskapitel (IV.): »Grundriss der Lehre des Corpus Hermeticum« (396–419).
Zuerst ist zu betonen, dass es L. durch seine Strukturierung in erstaunlich guter Weise gelingt, verschiedenste, auch disparate hermetische Theoreme einem sinnvollen Platz zuzuordnen und dabei bisher übersehene Zusammenhänge oder gar gegenseitige Bezugnahmen herauszuarbeiten, so dass ein Gesamtbild entsteht, das auf einer profunden Textkenntnis und oft behutsamen Interpretationen beruht. Besonders gelungen scheint dabei die Herausarbeitung und Kommentierung des Derivationsschemas von CH XI (mit guter Übersicht: 165) und seinen Bezügen zu Ascl. 31 f. und anderen hermetischen Texten. Zu nennen sind hier auch die Ausführungen zur hermetischen Gotteserkenntnis (328–395) u. a. mit den Unterthemen: »Selbsterkenntnis, Wahrheit, Verachtung des Körpers, Schweigen, Ekstase, Wiedergeburt, Aufstieg zum Guten.« Hier gewinnt dann auch der koptisch überlieferte Traktat NHC VI.6 eine sinnvolle Platzierung innerhalb des hermetischen Schrifttums.
Auf der anderen Seite bleiben Zweifel. Zuerst ist das Schema »Gott – Kosmos – Mensch« so allgemein und unspezifisch, dass es für viele, wenn nicht alle spätantiken Geistesströmungen gelten mag. Schwerer wiegt Folgendes: »Die offensichtliche Dominanz des triadischen Topos im Grundcorpus führt […] zur Auffassung, dass in den Ausnahmefällen CH II, IV, VII, XIII, XIV, XVI, XVII und XVIII […] offenbar nur Einzelaspekte oder Teilbereiche der Triade thematisiert werden sollen« (98, Hervorhebung von mir). Mit anderen Worten: Die Triade findet sich nur in einigen Texten – und, schwieriger noch, in dem für L. entscheidenden Beleg für das hermetische Derivationssystem CH XI »reicht die Abwärtsbewegung des All-geistes (Logos) bis zum menschlichen Geist nicht hinunter« (96, Hervorhebung von mir). So hilfreich und instruktiv das Gesamtbild denn auch ist, so beruht es doch nicht selten auf einer schmalen Textbasis, wobei jeweils andere hermetische Texte angeführt werden könnten, die zumindest anderes, wenn nicht das Gegenteil be­haupten.
Neben CH XI gehört natürlich vor allem CH I (mit CH III allerdings hier ohne den Anthropos!) zum Grundcorpus und wichtigs-ten Beleg der Triade. Sehr gewagt scheint mir allerdings die These, CH I sei als Mythologisierung des ontologischen Systems von CH XI zu verstehen (261 f.). Denn die Reihe Gott – Aion – Kosmos – Zeit – Werden in CH XI kann doch den entscheidenden Punkt in CH I kaum erklären, dass demiurgischer und anthropogonischer Nous »Brüder« sind, d. h. auf gleicher ontologischer Stufe stehen und der Mensch qua Geist ( νοῦς) sich über den Kosmos und seine Kräfte (Schicksal, Körperlichkeit etc.) erheben kann (anders auch CH X 18: »Der Geist des Alls ist Schöpfer aller Dinge, der menschliche Geist ist nur Schöpfer der Dinge auf Erden« und X 12 = Exc. XI 2,6: »Der Mensch ist das zweite Lebewesen nach dem Kosmos […]«). Damit hängt auch die m. E. nicht zutreffende Wertung des Handelns des Anthropos als »Fehler« (285) oder gar »Untat« (393) zusammen (leider hat L. meine diesbezügliche Studie »Der Mythos vom Menschen im hellenistischen Ägypten«, 1995, nicht rezipiert). Die Wendung nach unten, zum Irdischen scheint vielmehr die notwendige Voraussetzung für das hermetische Hauptanliegen, Gott in seiner un­endlichen Gestaltungskraft – auch gerade im materiellen Bereich – zu erkennen: Nicht ein Fehler, sondern die dem Menschen zukommende Gotteserkenntnis ist das Movens seiner Entstehung! Folgt man dieser Sichtweise, wird auch die behauptete Parallelität der Mythen von CH I und Kore Kosmu noch fragwürdiger, die L. bei allen zugestandenen unübersehbaren Differenzen jeweils als Antwort auf die Theodizee-Frage verstehen möchte.
So scheint mir L.s Abhandlung eine wichtige und hochwillkommene Zusammenstellung hermetischer »Topik« zu sein – vor allem im Hinblick auf die zu schreibende Rezeptionsgeschichte –, im Hinblick auf eine Erklärung der über einen langen Zeitraum zu denkenden Genese hermetischer Texte unterschiedlichster Autoren und ihrer jeweils differenten theologisch-philosophischen Theorien werden wir wohl nach wie vor zugestehen müssen, dass das Material disparater, unschärfer und auch widersprüchlicher ist– eben ein »Ding ohne Kanten«, wie schon Dörrie formulierte (69, Anm. 80).