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Ausgabe:

Dezember/2019

Spalte:

1257–1258

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Nicklas, Tobias

Titel/Untertitel:

Der zweite Thessalonicherbrief.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2019. 199 S. = Meyers Kritisch-exegetischer Kommentar über das Neue Testament, 10/2. Lw. EUR 50,00. ISBN 978-3-525-51639-3.

Rezensent:

Paul Metzger

Über 100 Jahre nach den bis heute lesenswerten Kommentaren von Ernst von Dobschütz und Wilhelm Bornemann legt Tobias Nicklas eine aktuelle Kommentierung des 2Thess vor. Er trifft folgende Grundentscheidungen seiner Auslegung:
1. Der Brief ist »in sich geschlossen […] und in all seinen Teilen pragmatisch sinnvoll und zusammenhängend auf eine problematische Situation« (24) hin entworfen. Inklusionen und semantische Verbindungen, aber auch Kontrapunkte und Gegenüberstellungen zeigen dies deutlich.
2. »2Thess ist von 1Thess literarisch abhängig« (26). Diese These belegt N. mit einem guten Überblick über die einzelnen Stellen, die diese Abhängigkeit zwingend belegen. Dabei sieht er richtig, dass sie lediglich Indizien sind, die für sich allein kaum aussagekräftig, aber in ihrer Summe eindeutig sind: »Der Text von 2Thess ist geradezu getränkt von Material, das sich auch in 1Thess – in vielen Teilen bis in den Wortlaut hinein identisch – findet« (28). Deshalb muss der 1Thess als literarische Vorlage des 2Thess angesehen werden.
3. Zur Verfasserfrage stellt N. fest: »Insgesamt macht die Summe der formalen Überlegungen zur literarischen Abhängigkeit des 2Thess von 1Thess und das Zueinander sprachlicher Beobachtungen« (46) im Verbund mit signifikanten theologischen Unterschieden im Bereich der Eschatologie und der Ethik es sehr wahrscheinlich, dass »2Thess nicht von Paulus selbst stammt, also pseudepigraphisch ist« (47).
4. Der 2Thess weicht hinsichtlich seiner eschatologischen Aussagen stark von Paulus ab, er kennt weder Rechtfertigungslehre noch Pneumatologie, und auch die Gotteslehre zeigt eine Weiterentwicklung. Gott »ist es, der zwar nicht selbst mit dem Katechon/ Katechōn (2Thess 2,6-7) zu identifizieren ist, der aber mit dessen Hilfe die Zeit und ihren Ablauf in der Hand behält, der den Abfall von Gott zulässt (2Thess 2,3), ja selbst dem, der sich gegen ihn stellt, seine Zeit einräumt und dabei sogar erlaubt, dass er ›seinen Wohnort‹ einnimmt« (30). Damit erkennt N. den zentralen Gedanken der Theologie des 2Thess und macht die Beobachtung, dass Gott und Christus in einer Weise miteinander verwoben werden, die über die zweifelsfrei authentischen Paulusbriefe hinausgeht.
Gleichzeitig legt er eine Lösung des zentralen Rätsels des 2Thess vor: die Interpretation des Katechon. Diesem Faktor kommt zwar die Funktion zu, »Gottes absolute Souveränität über das Geschehen in Zeit und Endzeit zu betonen« (150), dies bedeutet aber nicht, dass Gott selbst der oder das Katechon sein muss. N. vermutet, dass es sich hier »durchaus um das von 2Thess sicherlich eher negativ als positiv gesehene Römische Reich und seine(n) Vertreter handeln« (150) dürfte, was in meinen Augen sehr wahrscheinlich ist.
5. N. erkennt auch den Konflikt, in dem der Brief steht: »Im 2Thess ringen offenbar verschiedene Gruppen um das Erbe des Paulus, und zwar um die angemessene Interpretation seiner Aussagen zur Zukunft« (37). Die Gemeinde, die in ihrer Gegenwart bedroht wird, sucht Antworten auf die Frage nach ihrer Zukunft. Sie entwickelt eine Form der – für apokalyptische Texte typischen – Leidenstheologie (39). »Paulinische Eschatologie wird so in apokalyptische Schemata weiter- und umentwickelt« (39). Zu fragen ist nun aber: Was lässt sich über den Verfasser des 2Thess sagen?
6. »Positiv ergibt sich damit folgendes Autorenprofil: Wir haben es ganz offensichtlich mit einer Figur zu tun, die als direkter Schüler bzw. zeitweiliger Begleiter oder aber indirekt als Mitglied einer paulinisch geprägten Gemeinde zu bezeichnen ist.« Zu überlegen ist hier allerdings, warum so wenig »Paulus« in dem Brief steckt und so viel »Apokalyptik«, wenn der Brief aus dem Umfeld des Paulus stammt.
Weitere Angaben über Entstehungszeit und -ort sind mit Vorsicht zu treffen. Richtig und wohltuend bescheiden bemerkt N., dass man »über den Status gelehrter Spekulation« (63) kaum hinauskommt.
7. Ein wesentliches Problem, das der Brief aufnimmt, ist die Spannung zwischen der bereits erfolgten Erwählung der Gemeinde und ihrer in der Gegenwart stattfindenden Bewährung. Das »Mysterium der Gottlosigkeit« (2Thess 2,7) ist in der Gegenwart am Werk und es gehört »zum Wesen der Ekklesia in einer Zeit […], in der die Herrschaft Gottes noch nicht offenbar ist« (35). Damit geht das Problem der unordentlich lebenden Brüder einher, die für die Ge­meinde zur Belastung werden.
8. Dass N. sich am Ende der Einleitung Gedanken darüber macht, welche Bedeutung der 2Thess gegenwärtig für Theologie und Kirche hat, halte ich für sehr wichtig, damit die Exegese nicht in einer fernen Vergangenheit verharrt, sondern ihre Bedeutung für die Gegenwart herausstellt. »So kann dieser Text der Kirche deutlich machen, dass sie in dieser Welt das Geheimnis der Beziehung zu Gott […] lebt, welches jetzt verborgen ist, aus dem heraus sich aber all ihr Sein und Tun bestimmt« (65).
Fazit: Der Kommentar von N. ist allen empfohlen, die eine um­sichtige und differenzierte Auslegung des 2Thess suchen. Er ist eine rundum gelungene und lesenswerte Auslegung.