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Ausgabe:

Dezember/2019

Spalte:

1247–1250

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Ruiz-Ortiz, Francisco-Javier

Titel/Untertitel:

The Dynamics of Violence and Revenge in the Hebrew Book of Esther.

Verlag:

Leiden u. a.: Brill 2017. XIII, 275 S. = Vetus Testamentum. Supplements, 175. Geb. EUR 110,00. ISBN 978-90-04-33701-5.

Rezensent:

Beate Ego

In seiner Studie The Dynamics of Violence and Revenge in the Hebrew Book of Esther (2017) hat der Vf. sich zum Ziel gesetzt, die Thematik »Gewalt und Rache« in ihrer Bedeutung für die Estererzählung herauszuarbeiten. Basis soll der masoretische Text der Überlieferung sein, neben der Semantik sollen auch strukturelle Elemente der Erzählung untersucht werden (1–12). Am Anfang des ersten Hauptteils (13–134) steht eine allgemeine Einführung zum Esterbuch, in der der Vf. gängige Forschungsergebnisse referiert (Theorien zum Ursprung des Purimfestes, Textgeschichte, literarische Struktur, Motive und Themen und verschiedene Interpretationszugänge wie das »Carnavalique Reading«, politische und feministische Rezeption) sowie einen weiten und oberflächlichen Ausblick auf die Rezeptionsgeschichte des Buches gibt (13–51). Diese bisherigen umfangreichen Studien und dahinterliegenden Fragestellungen, so sein Fazit, zeigten die Komplexität des Esterbuches, dessen Funktion darin bestehe, »to create a story which will answer the challenge of the Diaspora« (51), und die durch die regelmäßige Erinnerung im Purimfest das jüdische Volk in neuen Bedrohungen stärken soll.
Ausführlichen Wortstudien, bei denen der Vf. neben der lexikalischen Bestimmung nach dem Gebrauch des Wortes in der Schrift und dann speziell im Esterbuch fragt, schließen sich an. Dabei baut er sein Kapitel entlang einer von ihm identifizierten Reaktions-kette der Gewalt auf, die (1.) mit der gewalt-assoziierten Person (dem »Feind«) beginnt, der (2.) »feindliche« Gefühle hegt, die dann (3.) in Gewalthandlungen bzw. gewalttätigem Verhalten enden. So un­tersucht er zunächst drei verschiedene Begriffe für »Feind« (ררע, אנשׂ, ביוא), betrachtet dann zwei Begriffe für »Wut« (ףצק, המח) und be­fasst sich abschließend mit den wichtigsten »Gewalt-Verben« des Bu­ches (u. a. הלת, די חלשׁ; רמשׁ; רבא, גרה; םקנ). Abschließend kann er festhalten, dass die Feind-Begriffe und feindlichen Emotionen im Esterbuch nicht für die jüdischen Protagonisten oder das jüdische Volk allgemein benutzt werden und bei den Verben zunächst die Perser (als »aufgestachelte« Angreifer) und dann erst in der Folge die Juden (in rächender Reaktion) die Handlungsträger sind.
Nach diesen Wortstudien folgen narratologische Studien. So un­tersucht der Vf. den Aufbau und Plot, die Blickwinkel, Erzähleffekte und die Rahmenbedingungen der Erzählung und analysiert die Darstellung der einzelnen Figuren. Aufgrund dieser Analysen kann festgestellt werden, dass die Erzählung zwar »beautiful images of contrast« enthält, gleichzeitig aber Gewalt durchgehend eine Rolle spielt (133). Dabei wird die Meinung des Lesers derart gelenkt, dass er mit dem jüdischen Anliegen sympathisieren kann, was eine Bestätigung und Erweiterung der Ergebnisse aus den Wortstudien darstellt. Gleichzeitig lässt der Erzähler die Geschichte, die eine Gewaltkette von Gefühlen, über Pläne und erste Handlungen bis zur Rache beschreibt, nicht hier enden, sondern »the final situation describes the outcome of violence and revenge as peace and prosperity« (133).
Im zweiten Teil seines Buches (137–227) liefert der Vf. drei ausführlichere Exegesen von zentralen Passagen der Erzählung, nämlich Est 2,21–23; 7,1–10; 9,1–19. Der hermeneutische Leitfaden der Exegesen dieser repräsentativen Einzelszenen ist die Verwendung und die Bedeutung von Gewalt sowohl in der Passage selbst als auch im Gesamtkontext des Werkes. In allen drei Perikopen kann die (geplante) »private« Gewalt einer (angeordneten) offiziellen Gewalt gegenübergestellt werden. Dabei wird das persische Rechtssystem als vom König abhängig, gerecht (im Sinne von »die Strafe entspricht der [geplanten] Tat«) und effizient (es handelt sich durchgehend um prompt vollstreckte Todesurteile) dargestellt. Doch auch wenn der König die Urteile fällt, ist er keine pro-aktiv handelnde Person, sondern reagiert lediglich als Richter, im Zorn oder auf Bitten anderer hin. Durch das Buch hindurch wird die »Macht« des Königs infrage gestellt, und er erscheint teilweise als gänzlich manipuliert, dann wieder als lenkbar, was sich Perser und Juden zunutze machen. »By using official means, the Jews take control of history and show how collaboration with the established power will save their lives.« (227)
In seiner abschließenden Auswertung seiner Einzeluntersuchungen (»General Conclusions«; 228–237) gruppiert der Vf. die wichtigsten Ergebnisse seiner Studie in fünf Themenbereiche. Wenn auch die Erinnerung an die vergangenen Ereignisse das wichtigste Anliegen der Estererzählung ist, so kommt dennoch auch der Gewaltthematik eine wichtige Bedeutung zu. Im Hinblick auf die »literarischen Dimensionen« der Thematik zeigt sich, dass der Vf. ganz unterschiedliche Stilmittel oder Motive (wie Doppelungen oder Verschriftlichungen im Kontext von Gewalt) zur Betonung der Motivik einsetzt und Gewalt zudem stets im Kontext von Gefühlen oder Reglementierungen beschrieben wird. Hinsichtlich der Hauptcharaktere lässt sich zeigen, dass sie sowohl Subjekt als auch Objekt von Gewaltplänen und/oder -handlungen sein können. So soll Ahasverosh das Opfer eines Mordanschlages werden (Est 2,21–23), aber er ordnet auch die Ausführung von gewalttätigen Aktionen an (sowohl gegen das jüdische Volk als auch gegen Ha­man und seine Söhne). Insgesamt erscheint der König als eine positive Gestalt: »His defence of the Jews (8:7) makes him not a menace to their property but on the contrary he should be considered an ally and someone to work with« (231). Mordekhai soll Objekt der Gewalt Hamans werden und erscheint dann später als Figur, die das Gegenedikt gibt. Außerdem wird Mordekhai mit den großen Führern Israels, Mose und Saul, auf eine Stufe gestellt, wobei er, anders als diese, sich in Persien an die Gesetze des Landes hält und mit der politischen Führung zusammenarbeitet. Ester wiederum kann zwar als »the intellectual author of violence« fungieren, aber niemals als »its material executor« (232). Dabei ist die ganze Erzählung davon geprägt, dass Informationen nicht nur Macht bedeuten, sondern auch zu Gewalt führen (so z. B. Mordekhais Zuge-hörigkeit zum jüdischen Volk, Est 3,4). Das Zurückhalten einer Information, als eine Art Täuschung, bildet ebenfalls ein wichtiges Mo­tiv (vgl. Esters Zugehörigkeit zum jüdischen Volk, von der der König erst im Lauf der Erzählung erfährt). Dem Leser wird zwar durch den Erzähler suggeriert, dass er allwissend ist, aber letztlich wird er doch durch Ahasveroshs Unterstützung der Juden überrascht. »Therefore the most powerful person in this story is the narrator« (232). Die wichtigsten Passagen, die das Thema der Gewalt behandeln, sind keine Gewaltszenen im konkreten Sinne, sondern vielmehr durch Reden geprägt. Die Spannung innerhalb der Erzählung wird zudem nicht allein durch die Gewalt (geplante wie ausgeführte), sondern durch Verzögerung, d. h. die Pausen zwischen einzelnen Passagen, aufrechterhalten. In diesem Sinne scheint die Zeit hier durchweg für die Juden zu arbeiten. Diese in der Erzählung vermittelten Erfahrungen bilden für den Vf. die eigentliche »Waffe« (233): »When the Jews are under oppression their only de­fence is laughter and the ridicule of the established power.« Somit geht es der Erzählung nicht um eine Verherrlichung der Gewalt.
Die Erzählung soll den Juden vielmehr zeigen, dass auch ohne König, Land und Tempel Gott bei seinem Volk ist, das treu zu ihm und zueinander steht. Gott steht verborgen hinter den Ereignissen und hinter dem Wandel des Geschicks, das im Purimfest erinnert wird. Entscheidend ist dabei das Zusammenspiel zwischen Gottes Intervention und menschlichen Aktivitäten. Dabei beantwortet das Buch die Frage nach einer Gerechtigkeit in der Welt auf doppelte Weise: Es beschreibt einerseits ein Strafrecht (in Form der Rechtsprechung) und ein Vergeltungsrecht (in Form von Rache). So kann der Vf. zum Schluss auch noch einmal betonen, dass die Beziehung zwischen den Juden und ihrer Umwelt eben nicht von Ag­gression, sondern von der Einflussnahme auf dieselbe geprägt ist. »We could say that the Meghillah becomes a handbook of how to manipulate power for one’s own purposes« (236). Dies dient jedoch nicht einer Machtübernahme, sondern lediglich dem Ziel der Rettung und Erhaltung des jüdischen Volkes, so dass auf die Gewalt die Verwirklichung von universeller Ruhe, Frieden und Wohlstand folgen. Es ist eine Aufforderung, durch die Kombina-tion von Integration ins Perserreich und Identifikation mit dem Judentum zu überleben. Nach einer umfassenden Bibliographie schließen ein Autoren- und Bibelstellen-Index das Buch ab.
Es handelt sich um eine interessante Studie, die vor allem durch ihre semantischen Analysen und ihre narratologischen Ausführungen (z. B. Erzählzeit; Raumfunktion) besticht. Ein methodologisches Problem der Arbeit besteht allerdings darin, dass der Vf. das Thema der Gewalt zu isoliert betrachtet. Indem er nach der Bedeutung dieser Thematik für das Esterbuch fragt, ohne das Motiv mit anderen Motiven zu kontextualisieren, begibt er sich in eine Art »Zirkelschluss«, insofern er am Ende seiner Arbeit die herausragende Bedeutung dieses Motivs feststellt. Die Ausführungen im Hinblick auf das Gottesbild des Buches mögen richtig sein, allerdings wird die hermeneutische Frage an dieser Stelle nicht ausreichend reflektiert, insofern die Estererzählung ja bekanntermaßen Gott an keiner Stelle explizit nennt. Die Studie bildet einen wichtigen Ausgangspunkt, um die Thematik »Gewalt« auch in diachroner Hinsicht näher zu beleuchten und in den Kontext der frühjüdischen Literatur generell zu stellen.