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Ausgabe: | Oktober/2019 |
Spalte: | 1005–1007 |
Kategorie: | Neues Testament |
Autor/Hrsg.: | Klumbies, Paul-Gerhard |
Titel/Untertitel: | Das Markusevangelium als Erzählung. |
Verlag: | Tübingen: Mohr Siebeck 2018. VI, 252 S. = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament, 408. Lw. EUR 109,00. ISBN 978-3-16-154857-4. |
Rezensent: | Martin Meiser |
Dieser Aufsatzband des in Kassel wirkenden Neutestamentlers Paul-Gerhard Klumbies versammelt 13 Markusstudien, die teilweise an Orten jenseits des Blickfeldes der Fachexegese veröffentlicht wurden und hier unverändert neu vorgelegt werden.
Einer Hinführung mit geistesgeschichtlicher Selbstverortung jenseits klassischer Form- und Redaktionskritik (1–6) folgen drei Beiträge, die in nuce als Epitome weiter Teile der Markusinterpretation von K. gelten können. »Die Jesuserzählung nach Markus als Werk des achten Jahrzehnts« (7–41) bietet eine literargeschichtliche Verortung des Markusevangeliums als ein identitätsstiftender Gründungsmythos in Entsprechung zur Literaturproduktion der römischen Kaiserzeit, die literarisch die Kolonisierung und Hellenisierung vor allem der östlichen Provinzen durch die Abfassung solcher Erzählungen unterstützte (konkrete Belege jenseits der auf S. 48, Anm. 26, genannten Lexikonartikel wären hilfreich). »Die äl-teste Evangelienschrift als ätiologische Erzählung« (42–54) erfasst als Thema der markinischen Jesuserzählung den »Ursprung des gegenwärtig geglaubten mündlichen Evangeliums« (48). »Das Konzept des ›mythischen Raums‹ im Markusevangelium« (55–73) ermöglicht vor allem durch die Beachtung der Ost-West- und der West-Ost-Perspektive ab Mk 11 einerseits, in Mk 15,33–39 andererseits tiefgründige Interpretationen.
Die folgenden Beiträge sind Textkomplexen wie Einzeltexten gewidmet. Der Aufsatz »Die ätiologisch-narrative Begründung geltender Normen in Mk 2,1–3,6« (74–92) versteht den genannten Textabschnitt weniger im Sinne einer halachischen Diskussion als vielmehr als Legitimierung der Ethik einer Gemeinschaft, in der Res-titution einer Gottesbeziehung und Integration Ausgegrenzter sowie die Frage nach der Angemessenheit bestimmter Normen der Klärung bedürfen. Der Beitrag »Narrative Kreuzestheologie bei Markus und Lukas« (93–110) zeigt, wie bei beiden Evangelisten durch verschiedene Raum- und Lichtkonzeptionen bei der Sterbeszene unterschiedliche theologische Aussagen zutage treten. »Die Grenze form- und redaktionsgeschichtlicher Wunderexegese« (111–134), in der Verhaftung an die Mythoskritik der Aufklärung liegend, wird an Mk 8,22–26, zuvor aber an Mk 2,1–12 expliziert, einem Text, dem auch der folgende Aufsatz »Die Heilung eines Gelähmten und vieler Erstarrter« (135–150) gilt. Hier werden Motive der Habilitationsschrift »Der Mythos bei Markus« (BZNW 108, Berlin/New York 2001; dort 161–165.222–229.238–242) aufgegriffen und weitergeführt: Jesus führt den einen Gelähmten und die vielen Erstarrten (scil. die Schriftgelehrten nach Mk 2,6) in eine heilvolle Gottesbeziehung zurück, ähnlich wie in Mk 8,22–26(.27–33), wo eine körperlich Blinde und vielen spirituell Blinde geheilt werden (so auch der kurze Beitrag, 165–169). In dem Aufsatz »Die Sabbatheilungen Jesu nach Markus und Lukas« (151–164) interpretiert K. Mk 3,1–6 und Lk 6,6–11 als Entfaltung der jeweiligen Christologie; Lk 13,10–17 und Lk 14,1–6 seien lukanische Kreationen (162 f.). Der Beitrag »Die Dämonisierung der Epilepsie in Mk 9,14–29 parr.« (170–174) zeigt, wie die in Mk 9 vorliegende dämonologische Interpretation der Epilepsie bei Origenes als »der christliche« Standpunkt (174) zustande kam.
Es folgen zwei bisher unveröffentlichte forschungsgeschichtliche Studien zu Marksteinen der Markusforschung. In der Arbeit »William Wredes kaiserzeitliche Messiasgeheimnistheorie« (175–190) verweist K. u. a. auf das zeitgenössische Bild des »bescheidenen, zurückgenommenen Herrschers« (185), dessen Verkörperung in Jesus Wrede in seiner bekannten Theorie ein literarisches Denkmal gesetzt habe. »Die Markusinterpretation Willi Marxsens und ihre Konsequenzen für die Christologie« (191–212) zeichnet ein Bild dieses zweiten Pioniers der Markusforschung zwischen liberaler und dialektischer Theologie, dessen auf Jesu Handeln in Wort und Tat fokussierte Konzeption eine Brücke »zwischen der klassischen historischen Jesusforschung und der am verkündigten Christus orientierten kerygmatischen Theologie« (210) darstellen könne. Im Beitrag »Das Markusevangelium im Religionsunterricht« (213–220) nennt K. Themen und Textkomplexe, an denen sich die Verbindung zwischen persönlichen Erfahrungen der Schülerinnen und Schüler und der erzählten Lebensgeschichte Jesu herstellen ließen.
Den Beiträgen sind stets englische Summarien vorangestellt. Der Band wird durch Bibliographie, Stellen, Sach- und Namenre-gister erschlossen.
Die tragenden Pfeiler der Markusdeutung K.s sind moderne Narratologie, die ihre Leistungskraft für eine Lektüre des Endtextes erweist, aber vor allem der Rekurs auf das Mythische, der in mehrfacher Weise von Bedeutung ist:
Die markinische Jesuserzählung thematisiert als ἀρχή, als ätiologische Erzählung, den »Ursprung des gegenwärtig geglaubten mündlichen Evangeliums« (48). Der Betonung des ätiologischen Moments wird man zustimmen. Neben den Analogien zur Literaturproduktion der römischen Kaiserzeit sind auch Phänomene innerhalb der Jesusgruppen namhaft zu machen, die das Entstehen solcher Erzählungen motivieren: der Abstand von 40 Jahren, der Tod wichtiger Hauptzeugen, die Integration von Nichtjuden in eine ursprünglich nur aus Juden bestehende Gruppe.
In der Logik des Mythos durchdringen sich Diesseitiges und Jenseitiges sowie natürliche Vorgänge und numinose Ereignisse wechselseitig. Das eröffnet Interpretationen, die bei Texten wie Mk 2,1–12 oder Mk 8,22–26 Körperliches und Seelisches zusammendenken lassen (wer hier den Vorwurf des Allegorisierens laut werden lässt, müsste sich nach seiner eigenen Praxis der Applikation dieser Texte fragen lassen). M. E. könnte solche Exegese auch historisch einen Beitrag zu der Frage leisten, wie es überhaupt zu einer (beschränkten), auch auf nicht-theologischen Faktoren beruhenden Attraktivität früher christlicher Gruppen gekommen ist.
Mythische Raumkonzeption mit ihrer unterschiedlichen Wertung der Ost- und der Westseite wirft manches neue Licht auf das Markusevangelium. Die Konzeption ist nicht schon durch den Einwand erledigt, dass man damals keine modernen Landkarten zur Verfügung hatte; eher stellt sich die Frage nach intersubjektiver Kontrollierbarkeit solcher Exegese. Dass in der mythischen Raumordnung des Markus »die römische Limitation« nachwirkt, die ihrerseits »die Grundlagen der etruskischen sakralen Raumordnung« (49; ähnlich 71 f.) aufgreift, ist naturgemäß schwer zu beweisen. Wohl aber gelingt eine dichte Lektüre von Mk 15,39, wonach der Hauptmann, dem richtungslosen unbeteiligten Dabeistehen entnommen, zum ersten Zeugen der durch Jesus initiierten Ausbreitung des Gottesgeistes unter den Menschen wird (50).
Eine generelle Rückfrage meinerseits betrifft die Beschreibung des historischen Entstehungskontextes dieser ätiologischen Erzählung. Ist es ohne Relevanz, dass Vertreter aus der griechisch-römischen Umwelt des Markusevangeliums (trotz Ansage der Bedrängnisse auch von deren Seite in Mk 13,9) innerhalb von Mk 2,1–3,6 und anderen Texten nicht erscheinen, umgekehrt an semantisch spezifizierten Räumen nur jüdische Räume wie Synagoge und Tempel? Hat nicht die in Mk 3,4 pauschalierende, dem damaligen jüdischen halachischen Diskurs nicht gerecht werdende Alternativsetzung zu dem späteren christlichen Antijudaismus beigetragen, ebenso das Bild der jüdischen Führungseliten, deren Widerstand gegen Jesus m. E. als willentliche Selbstverweigerung und weniger unter dem Begriff der »Dämonie« (51) zu fassen ist? Ist diese Schuldzuweisung nicht auch im Sinne einer Sachkritik zu thematisieren? Anknüpfungspunkte zu solcher Sachkritik im Werk von K. gäbe es durchaus, etwa in dem Beitrag zu Mk 9,14–29.