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Ausgabe: | September/2019 |
Spalte: | 946–948 |
Kategorie: | Systematische Theologie: Ethik |
Autor/Hrsg.: | Gabriel, Karl, u. Hans-Richard Reuter [Hrsg.] |
Titel/Untertitel: | Religion und Wohlfahrtsstaatlichkeit in Deutschland. Konfessionen – Semantiken – Diskurse. |
Verlag: | Tübingen: Mohr Siebeck 2017. IX, 508 S. Lw. EUR 124,00. ISBN 978-3-16-151718-1. |
Rezensent: | Johannes Eurich |
Aus dem ehemaligen Münsteraner DFG-Projekt »Die religiöse Tiefengrammatik des Sozialen« ist ein weiterer Band hervorgegangen, dessen Beiträge von Karl Gabriel und Hans-Richard Reuter herausgegeben und ausgewertet worden sind. Nach dem 2013 erschienenen Band zu Religion und Wohlfahrtsstaatlichkeit in Europa, der instruktiv, aber begrenzt den Einfluss der Religionsgemeinschaften auf die wohlfahrtsstaatliche Entwicklung in Deutschland diskutierte, schließt der 2017 erschienene Band diese Lücke mit Analysen zu den institutionellen Semantiken und Wertsemantiken von Religion und Sozialpolitik im deutschen Kontext.
Der Band nimmt damit die kulturellen Voraussetzungen in den Blick, welche zum Aufbau eines eigenständigen wohlfahrtsstaatlichen Institutionengefüges geführt haben und welche weder selbstverständlich sind noch deckungsgleich zu solchen Voraussetzungen in anderen Ländern. Um diese »Tiefengrammatik« wohlfahrtsstaatlicher Entwicklungen in Deutschland angemessen erfassen zu können, sind die religiös geprägten Semantiken untersucht worden, welche den »Möglichkeitsraum« der Sozialpolitik bestimmen, ohne diese in der konkreten sozialpolitischen Ausgestaltung determinieren zu können.
Entsprechend der konfessionellen Lage in Deutschland erfolgt dies in evangelischer und katholischer Perspektive, was einen Reiz dieses Bandes ausmacht, weil so auch die unterschiedlichen konfessionellen Entwicklungen und Verständnisse bis hin zu gemeinsamen Erklärungen nebeneinander versammelt sind. Methodisch wird ein wissenssoziologischer Zugang gewählt, um den Einfluss religiös-konfessioneller Faktoren auf die Wohlfahrtsstaatlichkeit in Deutschland aufzuzeigen. Auf diese Weise rücken die sozialen Konstitutionsbedingungen gesellschaftlichen Wissens in den Fokus, die mittels Analyse der Debatten sozialer Akteure um Legitimation, Deutung und Gestaltung sozialer Entwicklungen untersucht werden.
Die Zweiteilung in institutionelle Semantiken und Wertsemantiken versucht zum einen kollektive Deutungsmuster mit überwiegend strukturierender Funktion, zum anderen Leitbegriffe mit primär legitimierender Funktion auszuwählen, welche zwei Bedingungen genügen müssen: Sie müssen erstens neben ihrer säkular gefüllten semantischen Ebene auch einen signifikanten Bezug zu religiösen Deutungsperspektiven und Symbolwelten aufweisen und zweitens hinsichtlich der von ihnen adressierten s ozialpolitischen Problemkontexte möglichst umfassend und relevant sein. Untersucht werden im Blick auf institutionelle Semantiken die Leitbegriffe Staat, Wirtschaft, Arbeit, Armut und Familie; bei den Wertsemantiken sind es Gerechtigkeit, Sicherheit, Solidarität, Subsidiarität und Verantwortung. Diese siebzehn thematischen Beiträge können hier nicht im Einzelnen besprochen werden – sie bieten eine Materialfülle zur historischen Genese und innerkonfessionellen Diskursbreite der einzelnen Semantiken, die lohnenswert zu lesen und detailreich ausgearbeitet sind.
Der Befund, der sich aus den einzelnen Analysen ergibt, wird von den Herausgebern in zweifacher Hinsicht verdichtet: (1.) Der Beitrag lutherischer Traditionsbildung besteht in der Betonung fürsorglicher Obrigkeit, welche Vorstellungen staatlicher Zuständigkeit für das Wohl der Bürgerinnen und Bürger, aber auch für die gesellschaftliche Ordnung insgesamt entscheidend geprägt hat. So steht der Staat in der Pflicht, die besonders infolge der wirtschaftlichen Umbrüche bedrohten Lebensverhältnisse durch ordnenden staatlichen Eingriff zu schützen. Darin liegt die Legitimation staatlicher Intervention in die Welt des ausufernden Kapitalismus im 19. Jh. begründet. Auch wenn die Produktionsmittel in privater Hand blieben, wurden staatliche Regulierungen zum Schutz der Arbeiter eingeführt. In dieser Hinsicht kommen Armut, Arbeit ebenso wie auch Ehe und Familie überwiegend als Ordnungsfaktoren in den Blick. Die Staatszentrierung hat dann auch auf spezifische Verständnisse von Gemeinwohl, sozialer Sicherheit und Loyalität ausgestrahlt, wurde aber durch Impulse aus dem Raum lutherisch-erwecklicher Kreise (vgl. die Entstehung der vereinsförmigen Wohltätigkeit) und noch stärker aus dem Sozialkatholizismus heraus begrenzt. (2.) Letzterer knüpfte an französische Traditionen an und steuerte über die Solidaritätssemantik den Gedanken der Interdependenzen und des komplexen Geflechts aller Gesellschaftsmitglieder und die daraus folgende Gemeinhaftung bei. Dadurch kommt neben der staatlichen Gemeinschaft eine weitere Ebene von Solidaritätsverhältnissen in den Blick, welche sich in vielen Solidarität übenden Gemeinschaften gesellschaftlich abbildet und als gelebte Solidarität das Soziale schlechthin darstellt. Aufgabe des Staates ist es, diese Solidarität gesellschaftlich zu ermöglichen und zu bewahren. Über das Subsidiaritätsprinzip wird ein bottom-up-Aufbau von Hilfe (unter Einbezug der Familie als grundlegendes gesellschaftliches Ordnungsprinzip) verankert und durch korporatistische Strukturen institutionell fixiert – sowohl beim Interes senausgleich zwischen Kapital und Arbeit (Arbeitsrecht, Mit-bestimmung) über den Aufbau der Zweige des Sozialversicherungssystems (eigenständige Solidargemeinschaften) bis hin zur Trägerpluralität im Wohlfahrtsbereich (freie Wohlfahrtspflege).
Gabriel und Reuter halten resümierend fest: »Die Zuschreibung der Wohlfahrtsaufgabe an den Staat und die Wertsemantik von Solidarität und Subsidiarität bilden die beiden Gravitationszentren der religiösen Tiefengrammatik des deutschen Wohlfahrtsstaates.« (482) Diese beiden Schlüsselelemente verdeutlichen dessen konfessionellen Kompromisscharakter in seiner Tiefenstruktur. Dass sowohl die institutionellen Semantiken wie auch die Wertsemantiken Veränderungsdynamiken aufgrund gesellschaftlicher Entwicklungen unterliegen und sich in ihrem Verständnis wie im Zusammenspiel ihrer Elemente wandeln, zeigte sich bereits in den einzelnen Beiträgen. Spannend bleibt die Frage, inwieweit die re- ligiös-konfessionellen Semantiken auch in den gegenwärtigen Umbrüchen noch prägend wirken können. Dies wird am Ende des Bandes unter Bezug auf den Relevanzverlust der Kirchen angesprochen, sodass im Blick auf jüngste Veränderungen im Wohlfahrtsstaat zentrale Elemente konfessioneller Semantiken (fürsorgliche Obrigkeit, Solidaritätssemantik) nicht mehr einfach weitergeführt werden können, sondern Anschlüsse an Legitimations-Diskurse zum demokratisch-partizipativen Wohlfahrtsstaat oder an menschenrechtliche Begründungen vorgenommen werden.
Dieser letzte Befund weist zugleich auf einige Rückfragen hin, die an das Buch zu stellen sind: Auch wenn die einzelnen Beiträge in der Analyse der konfessionellen Semantiken größtenteils hervorragend ausgearbeitet sind, so bringt diese Fokussierung doch die Einschränkung mit sich, andere ideengeschichtliche Diskursstränge (Sozialismus, Liberalismus) nur am Rande wahrzunehmen, was z. B. durch die Ausblendung des Solidaritätsdiskurses der Arbeiterbewegung zu dem merkwürdigen Eindruck führt, dass die Solidaritätssemantiken im deutschen Wohlfahrtsstaat hauptsächlich mit dem Sozialkatholizismus verbunden seien. Eine zweite Rückfrage betrifft den Zusammenhang von Semantiken und politischem Handeln. In welchem Maße semantische Rahmungen von Diskursfeldern die politische Gestaltung geprägt haben, lässt sich nicht eindeutig sagen. Hier müssten neben den in den einzelnen Beiträgen oftmals erwähnten politischen Akteuren (die im politischen Prozess vor allem funktional agieren mussten und bei denen religiöse Einstellungen auch nur vermittelt mit anderen Einflüssen die politischen Intentionen bestimmte) vor allem die politischen Parteien untersucht werden, welche in ihren Programmen unterschiedliche Interessen im Spektrum der von ihnen vertretenen Traditionen vermitteln. Punktuell kommt dies bisweilen zur Sprache, müsste jedoch stärker herausgearbeitet werden, um zeigen zu können, inwiefern ausgearbeitete Seman-tiken tatsächlich politische Wirksamkeit entfaltet haben. Das Verdienst dieses überaus lesenswerten Bandes bleibt, den Pfad herausgearbeitet zu haben, den die deutsche Wohlfahrtsstaatsentwicklung innerhalb der Grenzen ihrer religiösen Tiefengrammatik genommen hat – und damit zugleich einen pointierten Beitrag zur Wohlfahrtsstaatsforschung geleistet zu haben, die bisweilen den ideengeschichtlichen Beitrag des Christentums gänzlich abblendet.