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Ausgabe:

September/2019

Spalte:

934–936

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Böttigheimer, Christoph, u. René Dausner [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Unendlichkeit. Transdisziplinäre Annäherungen.

Verlag:

Würzburg: Königshausen & Neumann 2018. 382 S. = Konzeptionen des Unendlichen – eine europäische Kulturkonstante?, 1. Kart. EUR 48,00. ISBN 978-3-8260-6452-4.

Rezensent:

Dirk Evers

Der zu besprechende Band ist der erste Teil einer auf drei Bände angelegten Publikation unter dem Obertitel »Konzeptionen des Unendlichen – eine europäische Kulturkonstante?«, in der die Er­gebnisse eines seit 2014 laufenden interdisziplinären Forschungsprojekts an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt präsentiert werden. Der erste Band dokumentiert die Beiträge einer Vortragsreihe und zweier Symposien von 2015/16. Der Titel des Projekts macht deutlich, dass es weniger um philosophische, mathematische oder theologische Perspektiven geht, sondern um die abendländische Kulturgeschichte und deren Bezüge zu Vorstellungen eines – wie auch immer gearteten – Unendlichen. Der nun vorliegende erste Band unterteilt sich in drei Teile, deren erster mit »Historische Perspektiven« überschrieben ist.
Hier findet sich zunächst ein Aufsatz des bekannten Ägyptologen Jan Assmann, der der Etymologie des ägyptischen Wortes für unendlich nachgeht. Es verweist durch seine semantische Einbettung auf Transzendenzverhältnisse, die der Schöpfung vorausliegen, in die diese aber auch am Ende der Zeit zurückkehren wird. In der zweiten Hälfte des 2. Jt.s v. Chr. entsteht dann die Vorstellung einer durch die Unendlichkeit Gottes vermittelten immanenten Unendlichkeit, deren Nachwirkungen Assmann bis zur Hen kai pan-Formel des neuzeitlichen europäischen Hermetismus verfolgt. Es schließt sich ein Beitrag von Gerhard Zimmer zur römischen Erinnerungskultur an, in dem Denkmäler von Freigelassenen daraufhin untersucht werden, wie in ihnen die ›Unabsehbarkeit‹ von über den Tod hinausreichender Zeit zum Ausdruck kommt. Der Alttestamentler Joachim Eck untersucht die Ambivalenz von Unermesslichkeit und Unendlichkeit in den Exodus- und Wüstentraditionen des Alten Testaments, die darin auf Gottes Transzendenz verweisen. Der Altphilologe Bardo Maria Gauly wendet sich dann Lucans Epos über Caesars Bürgerkrieg zu und macht daran deutlich, wie antike Unendlichkeitskonstruktionen, die durch Aufhebung von räumlichen und zeitlichen Grenzen Sinn und Trost be­reitstellen wollen, in dieser Erzählung zerbrechen und in einen Raum mit offenen Grenzen und ständiger Bedrohung führen.
Der zweite Teil des Bandes schließt »Systematische Reflexionen« an und setzt ein mit einem Beitrag zum Unendlichen in der Ma-thematik der Antike. Günther Wirsching führt kurz ein in die Ent-deckung der Inkommensurabilität von Seite und Diagonale eines gleichseitigen Fünfecks, die Differenzierung zwischen potentiell und aktual Unendlich in der Antike und die Weiterentwicklung hin zu transfiniten Kardinalzahlen bei Georg Cantor. Ein Beitrag aus der Wissenssoziologie von Joost van Loon nähert sich der Kategorie des Unendlichen von der Ungewissheit her, die in Gestalt von Risiko und Kontingenz immer auch ein wesentliches Moment des Unendlichen ausmacht. Eine postmoderne, ebenfalls wissenssoziologisch grundierte Perspektive auf Geschichte im Anschluss an Nietzsche entwickelt Karl-Siegbert Rehberg. Hier besteht der Bezug zur Un­endlichkeitsthematik in der Unaufhörlichkeit als Grundgefühl der Gegenwart. In einer gelungenen Skizze schlägt dann Markus Rothhaar eine Brücke von Kant zu Hegel. Er führt vor, wie die Beweise von These und Antithese im Rahmen von Kants erster Antinomie in der Kritik der reinen Vernunft im Grunde die aristotelische Ablehnung aktualer Unendlichkeit voraussetzen und wie dies zum An­stoß für die Entwicklung des Hegelschen Verständnisses von Un­endlichkeit wird. Es schließt sich eine fundamentaltheologische Skizze von Christoph Böttigheimer an, in der dieser ein bestimmtes, alle Begrifflichkeit übersteigendes Verständnis von Unendlichkeit als ein Gottesattribut entfaltet, das zur rechten Bestimmung des Verhältnisses von negativer Theologie und analoger Gottesrede an­leitet. René Dausner möchte der Frage nachgehen, ob die Unendlichkeit im Schweigen negativer Theologie endet oder möglicherweise auf eine neue Positivität verweist. Er bezieht sich dazu auf Emmanuel Levinas und dessen Hinweis, dass mit dem Unendlichen nicht bloße Negation ins Endliche einfällt, sondern sich Unendlichkeit als »Hyperphänomen« (Waldenfels) mit Endlichem zu verbinden vermag und dies sich, in christlicher Perspektive, in der Inkarnation konkretisiert. Den Abschluss dieses Teils bildet dann Angelika Neuwirths Analyse koranischer Paradiesschilderungen, die einen hermeneutisch interessanten Ansatz verfolgt, aber mit der Frage nach der Unendlichkeit schon begrifflich kaum Berührungspunkte hat.
Der dritte Teil des Bandes wechselt zu »Ästhetischen Narrativen«. Der Literaturwissenschaftler Michael Neumann zeigt anhand deutscher und französischer Literatur von der Sturm- und Drang-Zeit bis zur Gegenwart, wie die Ästhetik der Moderne das Unend-liche durch unendliche Radikalität thematisiert. Yvonne Nilges, ebenfalls Literaturwissenschaftlerin, untersucht den künstlerischen Willen zur Werkheiligkeit im Frühwerk von Thomas Mann, der von Wagner, Nietzsche und Schopenhauer inspiriert ist und den sie als einen scheitern müssenden Versuch versteht, sich selbst zum Gott zu erheben – ein Zusammenhang mit der Unendlichkeitsthematik ist allerdings auch hier kaum erkennbar. Um säkularisierte Heilsvorstellungen geht es in dem Beitrag von Richard Nate, der anhand von Textbeispielen vornehmlich aus der englischen Literatur von Francis Bacon bis Herbert G. Wells zeigt, wie traditionelle Transzendenzvorstellungen auf innerweltliche Zu­sammenhänge übertragen werden und dadurch endliche weltliche Phänomene eine religiöse Aura erhalten. Die beiden letzten Beiträge des Bandes vollziehen dann den Übergang von der Literatur zur darstellenden Kunst. Winfried Wehle beschäftigt sich mit der Transformation der mythischen Paradiesvorstellung in die fiktive pastorale Welt Arkadiens am Beispiel von Sannazaros Dichtung Arcadia und Giorgione/Tizians Gemälde Ländliches Konzert. Auch hier wird im Grunde keine Arbeit an Unendlichkeitsvorstellungen geleistet. Der Bezug zum Thema zeigt sich in der am Schluss des Beitrags formulierten These, dass mit der Neuzeit das Unendliche sich aus den transhistorischen Mythen der Vorzeit »in die leidenschaftlich belebten Dunkelkammern des Unbewussten zurückgezogen« (299) habe, aus denen es nur durch kulturelle Bearbeitung noch in den Bereich des Erfahrbaren erhoben werden kann. In ähnliche Richtung argumentiert auch der letzte Beitrag von Michael F. Zimmermann, der anhand von Caspar David Friedrichs Gemälde Mönch am Meer der Frage nachgeht, wie das Unbegrenzte und Unermessliche als das eigentlich Unanschauliche mit den Mitteln der Malerei überhaupt zur Darstellung kommen kann. Dies wird entwickelt anhand der These, dass bei Friedrich mit der Einführung der romantischen Rückenfigur das Subjekt als Schnittpunkt der inneren mit der äußeren Unermesslichkeit und Unergründlichkeit so ins Spiel gebracht wird, dass seine prekäre Identität als prinzipiell unabschließbare Subjektivierung vorgeführt wird. Den beiden letzten Aufsätzen ist einiges Bildmaterial zur Illustrierung beigegeben. Insgesamt versammelt der Band einige interessante Beiträge. Fachüberschreitende, transdisziplinäre Annäherungen an die Unendlichkeit stellen sich nur bedingt ein – zu heterogen, zu wenig auf das gemeinsame Oberthema bezogen und zu hermetisch gegenüber den Zugängen anderer Disziplinen sind die meisten Arbeiten, so dass sie vor allem Beiträge zu facheigenen Diskursen darstellen unter eher lockerer Bezugnahme auf so etwas wie Unermesslichkeit.