Recherche – Detailansicht
Ausgabe: | Juli/August/2019 |
Spalte: | 799–801 |
Kategorie: | Philosophie, Religionsphilosophie |
Autor/Hrsg.: | Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph |
Titel/Untertitel: | Niethammer-Rezensionen (1808/09), Denkmal der Schrift von den göttlichen Dingen (1812). Hrsg. v. Ch. Arnold, Ch. Danz u. M. Hackl. |
Verlag: | Stuttgart-Bad Cannstatt: frommann-holzboog 2018. XII, 316 S. m. 1 Abb. = Historisch-kritische Ausgabe. Reihe I: Werke, 18. Lw. EUR 296,00. ISBN 978-3-7728-2648-1. |
Rezensent: | Georg Neugebauer |
Neben dem angegebenen Titel in dieser Rezension besprochen:
Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph: Frühe alttestamentliche Arbeiten (1789–1793). Hrsg. v. Ch. Arnold u. M. Hackl. Stuttgart-Bad Cannstatt: frommann-holzboog 2018. X, 530 S. m. 4 Abb. = Historisch-kritische Ausgabe. Reihe II: Nachlaß, 2. Lw. EUR 296,00. ISBN 978-3-7728-2397-8.
Der hier als Erster anzuzeigende Band umfasst zwei Publikationsprojekte Friedrich Wilhelm Joseph Schellings. Es handelt sich zum einen um eine in zwei Varianten erschienene Rezension zu Friedrich Immanuel Niethammers Schrift Der Streit des Philanthropismus und Humanismus in der Theorie des Erziehungs-Unterrichts unsrer Zeit (1808). Zum anderen ist S.s Denkmal der Schrift von den göttlichen Dingen (1812) in besagten Band aufgenommen worden.
Der berufliche Werdegang des Philosophen, Theologen und Pädagogen Friedrich Niethammer war – zumindest äußerlich betrachtet – mit demjenigen S.s eng verbunden. So lernten sie sich bereits während des Studiums in Tübingen kennen, beide lehrten in Jena, gingen – freilich aus unterschiedlichen beruflichen Gründen – nach Würzburg und von dort nach München, wo sie Mitglieder der Bayerischen Akademie der Wissenschaften wurden. Neben seiner akademischen Tätigkeit in Würzburg trat Niethammer 1805 das Amt eines »protestantischen Oberkommissars für Franken« (6) an, womit das Schulwesen zu einem festen Arbeitsbereich wurde. Niethammers der bayerischen Königin Caroline gewidmete Schrift zum Streit zwischen Philanthropismus und Humanismus entstand im Rahmen der bayerischen Bildungsreformen Anfang des 19. Jh.s. Mit den Ausdrücken Philanthropismus und Humanismus sind zwei zum damaligen Zeitpunkt konkurrierende Erziehungsideale bezeichnet. Im weitesten Sinne steht Ersterer für einen neueren reformpädagogischen Ansatz und Letzterer für ein älteres Erziehungsideal, in deren Mittelpunkt die Vermittlung der klas-sischen Antike und deren Sprachen stand. Niethammer bemühte sich mit seiner Abhandlung um einen Ausgleich der beiden An-sätze (vgl. 10).
S. rezensierte Niethammers Buch zwei Mal (1808/09 und 1809). Beide Rezensionen sind wohlwollend gehalten. Die zweite, wissenschaftlich ambitioniertere und deutlich umfangreichere Variante wurde 1860 auch in die Sämmtlichen Werke aufgenommen; die erste indes nicht. In dem hier anzuzeigenden Band sind beide Fassungen enthalten. Die Motive S.s, diese Schrift zu rezensieren, sind mit den genannten bayerischen Schulreformplänen jener Jahre verbunden gewesen, die seiner Philosophie alles andere als aufgeschlossen gegenüberstanden (vgl. 11). S. deutet gleich zu Beginn seiner ersten Rezension an, dass es keinen Wissenschaftsbereich gebe, der innerhalb der Gesellschaft auf eine so große Resonanz stoße wie die Pädagogik (21). Dass er diesen Bereich allem Anschein nach aufmerksam verfolgte und sich selbst auch dazu befugt sah, ein fundiertes Wort in dieser Sache sagen zu können, deutet er in der zweiten Rezension an. Er bemerkt dort, dass sich die Niethammersche Untersuchung gerade im Hinblick auf Wissenschaftsstandards »von gewöhnlichen pädagogischen Schriften« (31) unterscheide, was zumindest darauf hinweist, von diesen Kenntnis zu besitzen. S. kritisiert sodann den Philanthropismus mit teilweise harschen Worten und stimmt den auf die Aufklärung bezogenen Invektiven Niethammers ausdrücklich zu. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass manches Argument bzw. Motiv, das einem aus den bildungspolitischen Debatten unserer Tage bekannt vorkommt, hier bereits anklingt (freilich in die für die damalige Zeit typische Diktion eingekleidet). Im Hinblick auf die werkgeschichtliche Bedeutung dieser Arbeiten halten die Herausgeber fest, man könne diese »schwer unterschätzen« (XI). Diese Angabe wird jedoch nur indirekt durch den Verweis auf andere Schriften, in denen sich der Philosoph zum Thema Bildung äußert, untermauert (vgl. 13 f.). Hier wären genauere Angaben wünschenswert gewesen.
Im Falle von S.s Denkmal der Schrift von den göttlichen Dingen etc. des Herrn Friedrich Heinrich Jacobi und der ihm in derselben gemachten Beschuldigung eines absichtlich täuschenden, Lüge redenden Atheismus (1812) liegt die zentrale werkbiographische Bedeutung auf der Hand. Schon Henrik Steffens, ein Anhänger S.s, erkannte in ihr eines der herausragendsten Dokumente des Philosophen. Sie wird – und diese Sichtweise ist durch S. selbst angeregt worden – als eines der Entstehungsdokumente seiner positiven Philosophie angesehen. Bekanntlich stellt dieser ungemein polemische Text – S. selbst schreibt an seine spätere Frau Pauline Gotter, es sei ein »›kriegerisches Buch‹« (103) – eine Replik auf Jacobis Buch Von den göttlichen Dingen und ihrer Offenbarung (1811) dar, in dem dieser gegenüber jenem den Atheismusvorwurf erhoben hatte. Die im editorischen Bericht enthaltene Darstellung der »Entstehungsgeschichte des Textes« führt in die berühmte Fehde zwischen Jacobi und S. ein. Von den Herausgebern wird dieser Atheismusstreit in vor allem historischer Perspektive umfassend und vor allem aufschlussreich kontextualisiert, so dass man für die Lektüre von S.s Denkmal bestens gewappnet ist.
Die genannten Texte liegen nun mit dem Band I/18 der Akademieausgabe des Schellingschen Werks in einer nach allen Regeln der Kunst edierten Gestalt vor. Wie in den anderen Bänden dieser Ausgabe auch folgen auf die edierten Texte ein kommentierender Anmerkungsteil sowie Bibliographie, Namen-, Orts- und Sachregister.
Den Auftakt der von S.s Sohn herausgegebenen, 1856 begon-nenen Werkausgabe macht die 1792 entstandene philosophische Magisterdissertation zu Gen 3. Darauf folgen die Schriften Ueber Mythen (1793), Ueber die Möglichkeit einer Form der Philosophie überhaupt (1774), die theologische Examensdissertation über Markion (1795) und weitere Veröffentlichungen bis 1797. Diese Angaben zum ersten Band dieser Werkausgabe seien hier deshalb gemacht, weil vor diesem Hintergrund deutlich wird, in wie starkem Maße sich die Quellenlage zum frühen S. durch die historisch-kritische Akademieausgabe verbessert hat. In den letzten Jahren sind allein vier aus dem Nachlass S.s hervorgegangene Bände erschienen, die bis dahin zumeist noch nicht veröffentlichte Texte enthalten, die zwischen 1789–1795 entstanden sind. Lediglich der zweite Nachlassband, der einen Hiobkommentar (1790–93) zum Inhalt haben wird, steht noch aus und wird das Bild vom frühen S. vervollständigen. Diese Bände machen deutlich, dass sich S. – bevor er im Denken Kants und vor allem Fichtes sein intellektuelles Schlüs selerlebnis fand – schon seit etlichen Jahren intensiv auf dem Gebiet der Theologie eingearbeitet hatte. Ehe er zu einem der Meis-terdenker des deutschen Idealismus wurde, präsentiert er sich in den Schriften jener Jahre als ein Vertreter der späten Aufklärungstheologie und -hermeneutik.
Der hier anzuzeigende Band II/2 dokumentiert S.s intensive Auseinandersetzung mit alttestamentlichen Schriften, die 1789/90 und 1792/93 entstanden sind. In seiner Biographie handelt es sich dabei um die Jahre des Übergangs von der schulischen Ausbildung zur Universität (bekanntlich wurde S. bereits mit 15 Jahren in Tübingen an der Theologischen Fakultät immatrikuliert). Die bislang unbekannten Arbeiten führen eindrucksvoll die philologischen und historischen Kenntnisse des Teenagers vor Augen. Im Einzelnen handelt es sich um vier Beiträge: a) Notamina ex prælect. D. Schnverri in Psalm. (1789/90), b) Animadversiones in Jeremiam et Jesaijam (1790/91), c) Jeremias (1791–1793), d) Psalmen (1792/93). Sie sind dadurch miteinander verbunden, dass es sich um Stellenkommentare handelt. Auch wenn sich S. vielfach an Vorlesungsnachschriften des Tübinger Alttestamentlers Christian Friedrich Schnurrer orientiert, sprechen die Herausgeber von »eigenständigen Arbeiten des jungen Schelling« (VII). Die editorischen Berichte ordnen S.s exegetische Beiträge in die damaligen hochkomplexen Diskussionszusammenhänge der Psalmeninterpretation und der Prophetendeutung ein, in denen sich der junge S. souverän bewegt. Für eine erste Annäherung sowie für das Verständnis der editierten Texte sind diese Berichte ausgesprochen hilfreich.
Die Erschließung neuen Quellenmaterials innerhalb einer Werkausgabe hatte oft den Effekt, neue Impulse für die Erforschung des entsprechenden Autors zu geben. Inwiefern das für die in den letzten Jahren editierten Arbeiten des frühen S. gilt, wird sich zeigen. Erste Überlegungen zu deren werkbiographischer Reichweite wurden jedenfalls bereits angestellt (Christian Danz) und die Dissertation zu Schellings früher Paulus-Deutung aus der Feder Christopher Arnolds soll in diesem Jahr noch erscheinen. Ob die Schellingforschung jedoch auch auf breiterer Flur bereit sein wird, den – wenn man so will – voridealistischen S. ernst zu nehmen, ist noch nicht absehbar. Sollte das nicht der Fall sein, kann es nicht an der Qualität der vorliegenden Editionen liegen. Denn diese ist über alle Zweifel erhaben.