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Ausgabe: | Juni/2019 |
Spalte: | 610–612 |
Kategorie: | Kirchengeschichte: Reformationszeit |
Autor/Hrsg.: | Kroon, Marijn de, and Willem van’t Spijker |
Titel/Untertitel: | Martin Bucer (1491–1551). Collected Studies on his Life, Work, Doctrine, and Influence. Ed. by Ch. Boerke and J. C. Klok. |
Verlag: | Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2018. 446 S. m. 1 Abb. u. 2 Tab. = Refo500 Academic Studies, 44. Geb. EUR 110,00. ISBN 978-3-525-55272-8. |
Rezensent: | Marc Lienhard |
Der in sieben Teile gegliederte Sammelband besteht aus 22 Einzelstudien, die zwischen 1976 und 2002 in Zeitschriften oder Kollektivbänden erschienen sind und hier teils in deutschen teils in englischer Fassung wiedergegeben sind. Zwölf wurden von Willem van’t Spijker verfasst, zehn von Marijn de Kroon. Beide sind ausgewiesene bekannte Bucer-Forscher.
Der erste Teil befasst sich mit Bucer und der Tradition. Bucer als Augustin-Interpret (de Kroon), zwei Studien von van’t Spijker über sein Verhältnis zur Scholastik und eine Studie über Prädestination bei Bucer und Calvin. Im zweiten Teil kommt das Verhältnis zwischen den beiden Reformatoren noch einmal in vier Beiträgen zur Sprache, mit Studien zur Lehre vom Heiligen Geist, zum Kirchenbegriff und zum Obrigkeitsverständnis. Der dritte Teil zeigt, wie Bucers Theologie in verschiedenen Disputationen des 16. Jh.s wahrgenommen wurde: in Marburg (1529) durch Luther, oder in Vorlesungen des Löwener Theologen Ruard Tapper und im Straßburger Prädestinations-Streit (1561–1563). Ein Beitrag von M. de Kroon über Bucers Streit mit Konrad Braun betrifft die Kirchengüter und die Position der Laien in den Religionsgesprächen. Im vierten Teil kommen Recht und Kirchenzucht zur Sprache und Bucers und Calvins Auffassungen vom Recht auf Widerstand und die Freiheit der Stände. Im fünften Teil befassen sich zwei Beiträge von van’t Spijker mit der Frage, ob Bucer als Pietist unter den Reformatoren gelten kann, was vom Vf. eher verneint wird. Die zweite interessante Studie stellt das theologische Erbe Bucers aufgrund seiner verschiedenen Testamente dar. Die beiden letzten Teile enthalten ausschließlich Studien von de Kroon. Er untersucht Bucers Rolle in der Kölner w ie in der Augsburger Reformation. Im letzten Teil (Bucer und ethische Fragen) ist die Rede von Freiheit und Bindung, unter anderem in der Sonntagsheiligung. Zur Sprache kommen auch Bucers Stellung zur Toleranz und zum Jus Reformationis, und schließlich zur ethischen Ausrichtung einiger Stellen im Psalmenkommentar über das Abendmahl.
Sehr zu begrüßen ist, dass die meisten dieser Studien sich auf Bucers Bibelkommentare gründen, die zum Besten seines literarischen und theologischen Schaffens gehören. Im 16. Jh. und darüber hinaus hatten sie eine relativ große Ausstrahlung. Leider ist nur der Kommentar zum Johannesevangelium in einer wissenschaftlichen Edition des 20. Jh.s zugänglich. Doch auch das andere Schrifttum, u. a. die Briefe Bucers, haben im vorliegenden Band Beachtung gefunden. Die Sekundärliteratur ist gebührend berücksichtigt.
Der Schwerpunkt liegt in den meisten Beiträgen auf Bucers Theologie. Aber auch von Bucer als Mensch ist immer wieder die Rede, u. a. von seiner Weitschweifigkeit im Schreiben. Diesbezüglich könnte auch Calvins Urteil (CO 10b, 404) zitiert werden. Zu Recht wird Bucers Bescheidenheit dargestellt und seine Bereitschaft, Fehler einzusehen (313). Es stimmt, dass Bucer »bittere Erfahrungen hat hinnehmen müssen« (425). Aber schuldlos war er dabei nicht, hatte er doch in die Übersetzung von Bugenhagens Psalmenkommentar sein eigenes, von Luther verschiedenes Abendmahls-Verständnis eingebracht. Das wird hier vom Vf. verschwiegen!
Die Theologie Bucers kommt in den meisten Beiträgen schön zur Sprache. Bedeutung hat die Pietas, die sowohl Glaube an Gott und Liebe zum Nächsten beinhaltet, wobei sichtbare Fortschritte der pietas im täglichen Leben des Christen möglich und notwen-dig sind und das lutherische simul justus et peccator verblasst. Im Unterschied zum Pietismus betont Bucer die Prädestination, gefolgt von Calvin: die Prädestination »a posteriori, das heißt Raum bietend für einen syllogismus practicus, obschon die Sicherheit des Glaubens niemals auf ihm beruht«. Wie wichtig für Bucer die Pneumatologie (»Schlüssel zu seiner Theologie«?) in soteriologischer und ekklesiologischer Perspektive war, kommt auch in diesem Band gut zum Ausdruck. Van’t Spijker betont aber die »ständige Bindung an den verherrlichten Mittler« (113) und Bucers Distanzierung vom Spiritualismus. Im Unterschied zu Luther findet sich bei Bucer eine Kombination von Gesetz und Geist, aber auch er habe sich gegen den Legalismus gewehrt. Etwas verwirrend sind die Aussagen über die Stellung des Kreuzes Christi bei Bucer. Einerseits sei »das Kreuz [nur] Durchgangsphase zur Erhöhung Christi, der nun vom Himmel her regiert und sein Priestertum effektuiert« (268.298). Andererseits betont derselbe Vf., dass »das Herz von Bucers Theologie das Kreuz Christi ist, das mehr ist als nur ein Symbol« (322). Interessant ist der Hinweis von de Kroon, dass man aufgrund von Bucers Psalmenkommentar eine Theologie Bucers entwerfen könnte. In der Tat ist bislang keine umfassende Darstellung dieser Thematik erschienen.
In seinen Beiträgen hat sich de Kroon besonders mit der Thematik des Jus reformandi, der Toleranz und des Widerstandsrechtes befasst, das er auch in anderen Publikationen behandelt hat, u. a. in den Studien zu Martin Bucers Obrigkeitsverständnis (1984). Er zeigt zu Recht, dass Bucer dem Magistrat das Recht und die Pflicht einräumt, über die beiden Tafeln des Dekalogs zu wachen, und auch, dass die unteren Obrigkeiten (Magistrate, kleine Herrschaften usw.) durchaus das Recht haben, auch im Gegensatz zum Kaiser, die wahre Religion bzw. die Reformation einzuführen. Der Kaiser hatte dies zu respektieren. Sinnvoll könnte man in diesem Zusammenhang auch auf Bucers Haltung während der Krise des Interims hinweisen, die zu großer Spannung mit Jakob Sturm führte.
Van’t Spijker bezeichnet die christlichen Gemeinschaften, die Bucer in den vierziger Jahren ins Leben gerufen hat, als »ein legitimes Experiment, das nicht ohnehin mit Bucers ursprünglicher These im Widerspruch stand, aber wohl die publica pax bedrohte« (276–277). An anderer Stelle aber ist derselbe Vf. der Meinung, dass sie »kein Experiment sind […], sie beabsichtigen auch keine Separation, sondern im Gegenteil Integration« (304). Die Behauptung, »die Einführung der Konfirmation [in Straßburg], so oft von ihm befürwortet, kam nicht zustande« (277) widerspricht den Ergebnissen von René Bornert, La Réforme protestante du culte à Strasbourg au XVIe siècle, Leiden, 1981, 360–370.
Die verschiedenen Beiträge betonen, wie sehr Calvins Theologie von Bucer geprägt wurde. Wenn Calvin auch eigene Wege ging und vor allem sich sehr viel besser sprachlich ausdrücken konnte, so ist immer wieder von der Übereinstimmung der beiden die Rede. »Tatsächlich gibt es in der doctrina verae summa [die Rechtfertigung betreffend] keinen einzigen Unterschied zwischen Bucer und Calvin« (138). Van’t Spijker zeigt überzeugend »die Einheit in Pneumatologie und Christologie« (148–151).
Es gibt aber doch einige Unterschiede. Zum Beispiel hat Calvin in der Ekklesiologie vier Ämter für die Kirche vorgeschlagen, während Bucer sich nicht auf eine Zahl festlegte (vgl. Hammann, Entre la secte et la cité. Le Projet d’Église de Martin Bucer, 1984, 276–282).
Zur Sprache kommt auch die Frage, inwiefern Wandlungen in der Theologie Bucers festzustellen sind. Bucer selbst betont, dass er denselben Glauben bewahrt habe, den er von Oekolampadius und Capito empfangen hatte und durch sein eigenes Gebet erworben habe (312). Andererseits gibt er in den Retractationes von 1536 den Mangel seiner früheren Ansichten zu (119). Es geht um das Verhältnis von Wort bzw. Sakrament und Glaube. Den Spiritualismus abwehrend betont er jetzt, dass »dem Glauben die Verkündigung des Glaubens als Medium vorausgeht«. Diese Entwicklung Bucers wird von van’t Spijker an mehreren Stellen unterstrichen (zum Beispiel: 298). So kann Bucer auch in den Retractationes zugeben, dass er Luther in der ersten Phase des Abendmahlsstreites, das heißt 1528, missverstanden habe (319). Aufgrund dieser Wende konnte es zur Wittenberger Konkordie kommen. In Bezug auf Bucers Auffassung des Abendmahls in der ersten Phase sollte vor allem die grundlegende Arbeit von Thomas Kaufmann berücksichtigt werden, Die Abendmahlstheologie der Straßburger Reformatoren bis 1528, Tübingen, 1992.
Es wäre hilfreich gewesen, dem vorliegenden, so reichen und anregenden Band ein Sachregister und ein Personenregister beizugeben.