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Ausgabe:

Mai/2019

Spalte:

497–499

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Gabriel, Markus, u. Malte Dominik Krüger

Titel/Untertitel:

Was ist Wirklichkeit? Neuer Realismus und Hermeneutische Theologie.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2018. VIII, 124 S. Kart. EUR 9,00. ISBN 978-3-16-156598-4.

Rezensent:

Sabine Joy Ihben-Bahl

Der Band, der die 1. Internationale Bultmann-Lecture am 04.12.2017 des Rudolf-Bultmann-Instituts für Hermeneutik am Fachbereich Theologie der Philipps-Universität Marburg dokumentiert, widmet sich nichts weniger als der Wirklichkeit. Sie wird vom Marburger Professor für Systematische Theologie und Religionsphilosophie und Direktor des Rudolf-Bultmann-Instituts für Hermeneutik Malte Dominik Krüger und dem Bonner Philosophieprofessor Markus Gabriel in zwei Vorträgen bedacht. Grußworte von Krüger, F. Voigt, Dekan des Fachbereichs Evangelische Theologie, Ch. Landmesser, Vorsitzender der Rudolf-Bultmann-Gesellschaft für Hermeneutische Theologie, und H. Wöllenstein, Propst der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck, gehen dem voran.
Krüger erschließt in »Die Realismus-Debatte und die Hermeneutische Theologie« zunächst die Frage nach dem Zugang zur Wirklichkeit mit Rortys Zeitdiagnostik: Nach dem »ontologischen Paradigma«, der Vorstellung, man könne das »An-sich-Sein« der Dinge erkennen, und Kants Kritik daran, begann mit Wittgensteins Plädoyer für das Sprachprimat als Wirklichkeitszugang der »linguistic turn«. Wirklichkeit, so die Prämisse, wird durch Sprache vermittelt. Die Frage, ob nun alles »Produkt der Sprache« sei, zeigt das Ungenügen dieses turns, den Weltzugang zu beschreiben, was zu weiteren führt – bis hin zu dem von Gottfried Boehm betitelten »iconic turn« mit der Prämisse: »Alles ist bildlich.« Krüger plausibilisiert dessen Grundüberzeugung und beschreibt das menschliche Bildvermögen, das Sprachvermögen und Vernunftvermögen begründe. In ihrem wechselseitigen Bezug aufeinander eröffneten sie den Weltzugang durch den Menschen, der sich zu den wahrgenommenen Bildern verhalte.
Um dies im Kontext der Realismus-Debatte(n) einzuordnen, werden vier idealtypische Wirklichkeitsbilder betrachtet: Der Metaphysische Realismus stehe für die Behauptung des Vorhandenseins der Wirklichkeit, die auch unabhängig von einem sie verstehenden Subjekt bestehen könne, doch in seiner Absolutsetzung genauso fehlgehe wie der Antirealismus als dessen Gegenposition. Er stelle das Verstehen des Subjekts so sehr ins Zentrum, dass gar nicht deutlich werde, auf was sich das Verstehen überhaupt richten soll. Der Relativismus grenze sich gegen beide ab – dass die Behauptung, alles sei relativ, aber selbstwidersprüchlich werde, wenn der Ansatz prinzipiell wird, ist offensichtlich. Der Interne Realismus entgehe allen Aporien, da er voraussetzt, dass die Wirklichkeit nicht nur konstruiert sei, und den Menschen als Subjekt des Verstehens einbezieht. – Er bleibt nicht nur eine »Wunschposition« (32), wenn die »Selbstbegrenzung des Verstehens, die auf das Bildvermögen verweist«, miteinbezogen wird, wenn Verstehen von Wirklichkeit als eines aufgefasst werde, dessen »komplexe Binnenstruktur […] über ihren praktisch-performativen und reflexiv-relativen Charakter auf die sinnbildliche – sinnliche und sinnhafte – Bindung unseres Verstehens [verweist].« (34) Die Frage »Was hat das mit Hermeneutischer Theologie und Neuem Realismus zu tun?« wird überzeugend beantwortet: Werden die Wirklichkeitsbilder auf theologische angewendet, steht der theologische Interne Realismus nun für die Einsicht, dass Gott und Glaube unhintergehbar miteinander verbunden und dennoch voneinander zu unterscheiden sind. Sie wird erweitert durch die der Hermeneutischen Theologie, dass Glaube auch Verstehen und dieses sprachlich sei. Ein Weiterdenken, das die Wahrheit der Hermeneutischen Theologie aufnimmt, sie aber mit dem Verstehen des Menschen als eines Bildwesens zusammenführen kann, stellt Krügers eigener bereits ausgearbeiteter Ansatz der (Bild-)Hermeneutischen Theologie dar, der hier neu fruchtbar gemacht wird: Die Fähigkeit des Menschen, äußere Bilder, die »etwas […] zeigen, was sie selbst nicht sind« (42), zu erfassen, und die mit dem inneren Bildvermögen einhergeht, das als »negationstheoretische[] und auch kreative[] Einbildungskraft« (43) in Sprache und Vernunft münde, erfasst Religion als Reflexion dieses Vorgangs neu.
Dem Christentum komme in bildtheoretischer Hinsicht innerhalb der Religionen eine besondere Stellung zu, denn ihre Pointe liegt im Bild, das der Gekreuzigte als »Durchkreuzung des Gottesbildes« biete und das sich im Glauben an die Auferstehung als die »Bildwerdung Gottes« (50) vollziehe. Der spätmoderne Protestantismus zeichne sich wiederum dadurch aus, dass er sich aufgrund seiner Prämissen Rechtfertigungsglauben und Bibel als Aneignung und Weitergabe dieses Bildes innerer und äußerer Bildlichkeit, seines sinnlichen Zugangs bewusst und so notwendig kritisch ist. Dem Projektionsverdacht gegenüber kann so begründet werden, dass das Christentum tatsächlich »Einbildung«, doch damit wahr ist: »Einbildung des ungegenständlichen Fluchtpunktes unseres Lebens, dessen Wirklichkeit beziehungsweise Wirkmächtigkeit sich in der Aneignung durch den Menschen erweist.« (54) Gerade der Neue Realismus kann diese Wahrheit einholen, »Hardware« (58) der bildhermeneutischen Theologie sein, u. a. aufgrund seines Plädoyers für das »realistische und epistemische Moment unseres Wirklichkeitsverständnisses«, der »Offenheit« für Religion »als negativ-theologische[r] Realisierung von Endlichkeit« und des Werts, den er »fiktionale[n] Sachverhalte[n]«, ihrer »produktive[n] Negativität«, zugesteht (vgl. 57 f.).
Gabriel betrachtet in »Was ist (die) Wirklichkeit?« die ihm zufolge derzeit dominierende Weltauffassung der »Modalmetaphysik der möglichen Welten« (72), die mit Leibniz ihren Ausgang nahm, äußerst kritisch. Das größte Problem der Behauptung vieler Welten in einem logischen Raum bestehe darin, dass es – anders als sie es voraussetze – »keine einzige Welt und damit auch nicht die wirkliche Welt gibt« (88). Hier zeigen sich die Prämissen Gabriels eigener »Nicht-Welt-Anschauung«, der Theorie, dass es »keine vollständige, in sich abgeschlossene metaphysische Totalität« (95) gebe. Sie ist zentral in Gabriels Neuem Realismus – der Sinnfeldontologie. Es bestehe kein Grund, die Vielzahl von Sinnfeldern (»Sinn« = »Anordnungsregel von Gegenständen«, 97) in eines, als »Welt«, zusammenzufassen. Die Theorie führt Gabriel hier mit der eines »ontologischen Pluralismus« zusammen, um die Titelfrage zu beantworten: Die Wirklichkeit zeichne sich dadurch aus, dass sie »kein Sonderfall der Möglichkeit« (64) in einer Vielzahl möglicher Wel-ten sei, sondern eine »Modalkategorie, die eine Facette unserer Objektivität charakterisiert.« (105) Dies impliziert, dass der fallible Mensch gerade aufgrund dessen urteilt und objektive Aussagen treffen kann. Auch das Mögliche kann als »Variation des Wirk-lichen« plausibel eingeordnet werden. Zudem erklärt Gabriel, warum in der Objektivitätsfrage Geisteswissenschaften keinesfalls Natur- oder Technowissenschaften untergeordnet werden dürfen.
Der Band spiegelt ein höchst fruchtbares Nachdenken über die Wirklichkeit und ihr Verstehen wider, indem Debatten differenziert überblickt und mit Gabriels Sinnfeldontologie und Krügers Bildhermeneutischer Theologie Ansätze vorgestellt werden, die enormes Potential für den theologisch-interdisziplinären Diskurs bieten: In gegenseitiger Ergänzung bilden sie ein Fundament, auf dem (evangelische) Wahrheiten, ihre Gestaltung und Kommunikation im Horizont von Glauben und Verstehen neu durchdacht werden können. Theologie zu treiben, ohne die Wirklichkeit zu bedenken, wenn Glaubenswirklichkeit und sinnbestimmter Mensch verstanden werden sollen, erscheint nach der Lektüre eher unrealistisch.