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Ausgabe:

Mai/2019

Spalte:

435–437

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Chehadeh, Alexius

Titel/Untertitel:

Al-Turabi zwischen Nachahmung (taqlīd) und Erneuerung(tağdīd). Sein Verständnis von Islam, islamischem Staat, Menschenrechten und Dschihad.

Verlag:

Münster: Aschendorff Verlag; Baden-Baden: Nomos Verlagsgesellschaft 2018. 368 S. = Studien zur Friedensethik, 59. Geb. EUR 62,00. ISBN 978-3-402-11712-5 (Aschendorff); 978-3-8487-3027-8 (Nomos).

Rezensent:

Klaus Hock

Der 2016 verstorbene Hassan A. al-Turabi (* 1932) hatte nicht nur als Theoretiker des politischen Islam, sondern auch als politischer Aktivist agiert, der seine Vorstellungen spätestens seit Mitte der 1960er Jahre in die Praxis umzusetzen bemüht war. Seine diesbezügliche – bei genauerem Besehen jedoch alles andere als konfliktlose – Zusammenarbeit mit Sadiq al-Mahdi, Dschafar M. an-Nu-meiri und Omar al-Baschir brachten ihm den Ruf ein, als islamistischer Chefideologe hinter den jeweiligen sudanesischen Re­gimen, insbesondere dem Omar al-Baschirs, zu stehen bzw. deren Architektur ausgearbeitet zu haben – und in der Tat spielte er als Mitbe gründer des islamisch fundamentierten Staates im Sudan eine maßgebliche Rolle.
Ausgangspunkt der vorliegenden Studie von Alexius Chehadeh, die 2015 vom Fachbereich Philologie der westfälischen Wilhelms-Universität Münster als Dissertation angenommen wurde, »ist die Frage, ob es möglich ist, mit Islamisten in einen Dialog zu treten« (18). Wie C. überzeugend ausführt, eignet sich al-Turabi aus mehreren Gründen hervorragend für die Diskussion dieser Problemstellung, unter anderem deshalb, weil er sich wiederholt zum Dialog mit Andersdenkenden und Angehörigen anderer Religionen bekannt hatte.
Die Arbeit ist keine historische Untersuchung, was sich auch in ihrem Aufbau spiegelt: Der erste Teil behandelt die Entwicklung des Sudan von der Unabhängigkeit 1965 bis zum Putsch 1989, Teil zwei konzentriert sich auf den Putsch selbst und die Rolle der Islamisten sowie auf die umstrittene Frage des Umgangs mit dem Südsudan, über die es (neben anderem) zum Zerwürfnis zwischen al-Turabi und al-Baschir kam.
Der dritte Teil stellt das Kernstück der Studie dar, denn hier wird das Gedankengebäude al-Turabis systematisch rekonstruiert: Ausgehend von seinem Werdegang, seinem Œuvre, seinem Verständnis von Islam und islamischer Rechtswissenschaft (fiqh) so­wie seiner Staatstheorie führt die Darstellung nach einem kurzen Zwischenresümee bezüglich seines Verständnisses von islamischer Reform generell zur spezifischen Diskussion von Themen wie der Verfasstheit der Gesellschaft in einem islamischen Staat (»Islamismus«), Rechts- und Freiheitsfragen von Muslimen im Allgemeinen und der islamischen Frau im Besonderen, sowie der Frage nach Bedingungen, Möglichkeiten und Zielen des Dialogs.
Der vierte Teil ist auf die spezifische Thematik des Gewaltverständnisses bei al-Turabi fokussiert, während der abschließende fünfte Teil ein zusammenfassendes Fazit zieht. Hier gibt C. schnörkellose und klare Antworten auf die im Eingangsteil seiner Studie aufgeworfenen Fragen. Beispielsweise stellt er bezüglich al-Turabis Dialogverständnis fest, dass dieser sich »trotz seiner Dialogbereitschaft nicht auf die Vernunft als Grundlage des Dialogs beruft, sondern die Religion als Basis betrachtet. Seine Bemühungen beabsichtigen nicht, voneinander und miteinander zu lernen, sondern den Islam zu verbreiten« (334). An mehreren Stellen wird aufgedeckt, dass al-Turabi häufig im Vagen bleibt und viele Fragen of­fenlässt. Dies zeigt sich etwa bei der Entfaltung seines Dschihad-Verständnisses, das »Grauzonen für eigenmächtige Interpretationen« (335) eröffnet. Zugleich avanciert bei al-Turabi einerseits das Prinzip Landessicherheit zum Kriterium legitimer Gewaltanwendung seitens des Staates gegen das eigene Volk – »eines der Hauptmerkmale einer Diktatur« (ebd.), wie C. feststellt –, andererseits (und in Widerspruch dazu stehend) wird das Gewaltmonopol des Staates generell in Frage gestellt, wenn al-Turabi unterdrückten Gruppen explizit das Recht auf gewaltsamen Widerstand gegen den Staat zugesteht und dabei die Möglichkeit friedlichen Widerstandes und entsprechender Aushandlungsprozesse überhaupt nicht in den Blick nimmt. Trotz vieler Unzulänglichkeiten und Inkonsistenzen in al-Turabis Denken kommt der Autor mit Blick auf dessen Dschihad-Verständnis zu dem Ergebnis, es sei »eher als ein friedliches Konzept« (339) einzustufen.
Die Stärke der vorliegenden Arbeit liegt darin, dass sie al-Tura-bis Werke und Wirkung insgesamt in den Blick nimmt, auf der Grundlage reichhaltigen und vielfältigen, größtenteils nur auf Arabisch vorliegenden Quellenmaterials systematisch rekonstruiert und kritisch analysiert. Neben der Systematisierungs- ist die Elementarisierungsleistung besonders hervorzuheben; auch wer nicht mit al-Turabi und dem Sudan vertraut ist, wird strukturiert an die Materie herangeführt und erlangt so Einsicht in durchaus komplexe Gedankengebäude und ideologische Konstruktionen, die nicht nur auf die Umsetzung eines politischen Programms im Sudan zielten, sondern unter der Perspektive »Reform und Erneuerung« zugleich den universalen Gültigkeitsanspruch einer be-stimmten Islam-Deutung – nämlich der von al-Turabi vertretenen – anzeigen wollten.
Die Kehrseite dieser Elementarisierungsleistung ist die bisweilen erhebliche Komplexitätsreduktion bei der Diskussion vielschichtiger und umstrittener Begriffe, Konzepte oder Theorien. So bleibt die Behandlung des Begriffs »Islamismus« weit hinter dem zurück, was inzwischen als State of the Art gelten kann. Lapidar werden Sayyid Qutb als »Begründer der Idee des Islamismus« (204) und »die Muslimbrüder« als »Hauptströmung des sunnitischen Islamismus« vorgestellt, »auf deren Ideologie alle weiteren islamis-tischen Bewegungen im sunnitischen Islam aufbauen« (204). Dass C. für die Klärung des Islamismus-Begriffs lediglich auf eine Broschüre des nordrhein-westfälischen Innenministeriums verweist, geht eigentlich überhaupt nicht. Zu bemängeln wären zudem trotz des nachvollziehbaren Aufbaus der Studie einige Schieflagen in der Gliederung, die beispielsweise in Teil drei zum Tragen kommen, wo die Themen so aufbereitet sind, dass zwei Resümees nötig werden (Kapitel 11 und Kapitel 17). Auch greift das Fazit die bereits oben zitierte, sehr konkrete Fragestellung wieder auf, beantwortet sie aber nicht mehr in entsprechender Konkretion, da es eher summarisch die in der Studie insgesamt ausgearbeiteten Ergebnisse referiert.
Schließlich finden sich kleinere Tippfehler (beispielsweise S. 16 »Ausgangsput« oder S. 334 »gerechtfetigt«), die ein Verlagslektorat, das es heutzutage allerdings leider kaum noch gibt, ebenso hätte korrigieren können wie einige – wohl durch »copy & paste« entstandene – korrumpierte Textteile (beispielsweise 145, Fußnote 280). Auch gibt es einige Passagen, die durch eine weitergehende Erläuterung verständlicher geworden wären, so etwa, wenn C. feststellt: »Al-Turabi lässt vielmehr die unterdrückte Gruppe nach dem Motto ›Leben um Leben‹ handeln, was ein koranisches System darstellt, was im Gegensatz zum Verständnis eines Rechtsstaats steht« (336).
Diese Monita können jedoch der Tatsache keinen Abbruch tun, dass wir es bei dieser Studie mit einer systematischen und konzisen Aufbereitung des Denkens al-Turabis auf der Grundlage der Analysen von Primärquellen zu tun haben, wie sie in dieser Form auf deutscher Sprache noch nicht vorliegt. Ihre besondere Leis-tung ist darin zu sehen, dass sie dafür sensibilisiert, die Gedankenwelt al-Turabis und seine Konstruktion des politischen Islam als eine mögliche Option moderner Islaminterpretation wahrzunehmen.