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Ausgabe: | Mai/2019 |
Spalte: | 419–435 |
Kategorie: | Systematische Theologie: Ethik |
Autor/Hrsg.: | Nils Ole Oermann |
Titel/Untertitel: | Wirtschaftskriege im digitalen Zeitalter1. Ethische Perspektiven |
I Einleitung
Schon in der Antike wurde darüber nachgedacht, ob und unter welchen Bedingungen Kriege »gerecht« sein könnten. Die christliche Theologie von Augustinus bis zu den Scholastikern entwickelte bereits früh und in Anknüpfung an jene antiken Konzepte bei Plato und Cicero theologisch fundierte Theorien zu der Frage, wann ein ius ad bellum gegeben sei und welches ius in bello beachtet werden müsse, damit ein gerecht begonnener Krieg auch aus christlicher Perspektive »gerecht« genannt und geführt werde dürfe.
In der Neuzeit trat die Frage des ius ad bellum jedoch immer weiter zurück. Das ius belli wurde – u. a. in Anknüpfung an und Auseinandersetzung mit Grotius – als souveränes Recht eines jeden Staates betrachtet, der zugleich das Gewaltmonopol nach innen besaß. Das ius belli war zugleich Konsequenz der Staatengleichheit – über den Staaten gab es (spätestens seit der Glaubensspaltung) keine höhere Instanz, die über ihr jeweiliges Recht zum Kriege hätte entscheiden können. Für den gehörigen Kriegsbeginn verlangte man nur noch eine Kriegserklärung vor den Kampfhandlungen – ihr Fehlen hatte aber keine Rechtsfolgen. Theologie, Philosophie und Recht konzentrierten sich immer stärker auf das ius in bello, auf die Regeln für eine legale wie legitime Kriegführung.2
Nach den Weltkriegen gab zumindest der deutsche Protestantismus diese Tradition und die Arbeit am ius in bello mehr oder minder auf. Mit Ende des Zweiten Weltkrieges bis zum Kosovokrieg Mitte der 1990er Jahre schien man sich von Helmut Gollwitzer bis Hans-Richard Reuter weitgehend einig, dass Krieg nie »gerecht« sein könne. Statt einer Lehre vom gerechten Krieg sei eine Theorie des »gerechten Friedens« vorzuziehen, eingebettet in eine »Friedensethik« als zeitgemäße Antwort auf die Herausforderungen atomarer Bedrohung.3
Diese Absage an die Tradition wurde umso problematischer, je absoluter sie ausgesprochen wurde: Sie wurde der Tradition nicht gerecht, weil Augustinus oder Thomas von Aquin den Krieg nicht in einem emphatischen Sinne als gerecht, als Gottesurteil, als Stahlbad bejubelt hatten, sondern als Verhängnis, dessen Wüten es möglichst zu mildern gelte. Die Absage wurde auch der Lebenswirklichkeit nicht gerecht, denn Kriege und bewaffnete Konflikte blieben an der Tagesordnung und wurden regellos nur schlimmer. Und die Absage wurde dem Stand des Völkerrechts nicht gerecht, denn das Postulat des »gerechten Friedens« in seiner Fülle wirkte wie eine moderne Übersetzung von Shalom und Eirene im biblischen Sinn – in dem Heil, Frieden, Gerechtigkeit zusammenfließen und der vor allem ein utopisches und verheißungstheologisches Potential hat.4
Im Vergleich dazu aber erschien die UN-Charta wie eine schlechte Wirklichkeit, denn sie begnügt sich weitestgehend mit dem Gebot, wenigstens einen »negativen« Frieden im Sinne der Abwesenheit von bewaffneter Gewalt zu wahren (Art. 2 Abs. 4).
Damit gibt das Konzept des »gerechten Friedens« für diesen Aufsatz keinen Maßstab an die Hand, um das aktuelle Phänomen des Handels- und Wirtschaftskrieges zu bewerten und ihm ethische und rechtliche Grenzen zu ziehen. Denn welche detaillierten Kategorien könnten dann noch in Anschlag gebracht werden? Und von welchem Frieden kann überhaupt sinnvoll die Rede sein, wo doch schon die Grundsituation von Wirtschaft Wettbewerb und Konkurrenz sind? Ein Denken vor allem vom »gerechten Frieden« im Sinne einer positiven »Friedensethik« muss in diesem Zusammenhang schnell an Grenzen stoßen.
Die ethisch virulente Frage der Gegenwart scheint eher die nach dem »Wie«, d. h. wie man ethisch auf reale Herausforderungen in bello antworten kann und sollte – von Ruanda und Kosovo über Syrien und Jemen bis womöglich Venezuela oder die Ukraine. Die ethische Diskussion um solche konventionellen, militärischen Konflikte ist dabei aufgrund ihrer Asymmetrie aktueller denn je, aber nicht Gegenstand dieses Textes. Dieser beschäftigt sich – und zwar durchaus im theologisch-ethischen Rekurs auf die alte Lehre vom gerechten Krieg von Augustinus über Aquin bis Grotius – mit dem ethischen Umgang mit einer Kriegsart, die aktuell zwischen China und den Vereinigten Staaten eine Renaissance zu erleben scheint, aber derzeit zumindest ethisch kaum Gegenstand akademischer Reflexion zu sein scheint: mit dem Wirtschaftskrieg.
Neu an dieser Diskussion ist, dass sich die Schlachtfelder von Ypern, der Somme oder Stalingrad zunehmend auf den digitalen Bereich globaler Wirtschaft verlagern. In einer aktuellen Publika-tion (Nils Ole Oermann; Hans-Jürgen Wolff, Wirtschaftskriege. Geschichte und Gegenwart, Freiburg i. Br. 2019) wurde darum u. a. vom Verfasser der Versuch unternommen, eine einigermaßen trennscharfe Definition und ethische Analyse des Begriffs »Wirtschaftskrieg« angesichts all seiner Komplexität vorzulegen. Diese definitorische Seite wird im folgenden Papier zunächst dargestellt, bevor es zur Analyse von Wirtschaftskriegen aus ethischer Perspektive kommt.
Eine solche ethische Analyse wird hier im Sinne des Münchner Theologen Trutz Rendtorff verstanden als »Begleitwissenschaft« und nicht als »Bescheidwissenschaft«: Ethik hat nicht die Aufgabe, Verteidigungspolitikern, Militärs und Ökonomen beim Thema »Wirtschaftskrieg« die Welt zu erklären oder gar zu predigen, was in Afghanistan oder andernorts »gut« ist oder auch nicht. Während die bei Aristoteles bis hinein in die neuzeitliche Ethik geschilder-ten ethischen Themen vom Zinsnehmen über das Leben in der Familie bis hin zum Krieg noch Teil der Alltagserfahrung der meisten Menschen waren, erfordern aktuell Wirtschafts-, Rechts- oder Bioethik einschlägige Kenntnis der Bezugswissenschaften von Ökonomie über Rechtswissenschaft bis Medizin.
Ethik im 21. Jh. scheint ebenso überfordert mit der immer stärker an sie herangetragenen Aufgabe, die digitale, bioethische oder ökonomisch-politische Zukunft zu prognostizieren. Ethik hat vielmehr die fachlichen Diskussionen ihrer jeweiligen Bezugsdisziplinen nachzuvollziehen, um erst auf dieser Basis zu einer eigenständigen, theologisch-ethischen Urteilsfähigkeit sui generis zu kommen. Wer auf dieser Basis über das »Wie« eines Wirtschaftskrieges reflektiert, sollte darum zunächst dessen Ursachen und Strategien von innen heraus zu verstehen suchen. Voraussetzung dafür ist eine möglichst klare Definition des Untersuchungsgegenstands: Was also sind Wirtschaftskriege, und wie grenzt man diese definitorisch ein?
Alan Milward schreibt in seiner Geschichte der Weltwirtschaft im Zweiten Weltkrieg, der Ausdruck Wirtschaftskrieg (economic warfare) impliziere »kurioserweise […], daß es auch eine Art von Krieg gebe, die mit Wirtschaft nichts zu tun habe«5. Tatsächlich hat jeder bewaffnete Konflikt eine wirtschaftliche Dimension. Es braucht Vorinvestitionen, um ihn zu beginnen. Es braucht Nachschub und Bezahlung, um ihn zu unterhalten, und er hat so vielfältige wie unabsehbare, ökonomische Nebenfolgen und Opportunitätskos-ten. Kriege sind immer neben dem militärischen Kräftemessen auch ein Abgleich der wirtschaftlichen und finanziellen Macht.6 Selbst die »Neuen Kriege« (Herfried Münkler) unserer Tage haben eine klare »Ökonomie der Gewalt«.7 »Neu« sind sie aufgrund folgender Charakteristika:
1. Entstaatlichung und Privatisierung dank relativ geringer Kosten.
2. Ungleichartigkeit der Gegner (Milizen/Partisanen/Terroris-ten gegen staatliches Militär und/oder gegen die Zivilbevölkerung).
3. Autonomisierung der Akteure und ein Verschwimmen von Politik und organisierter Kriminalität.
»Alt« an ihnen ist, dass auch sie sich rechnen müssen und sich leider für ihre Urheber tatsächlich lohnen. Für private Kriegsun-ternehmer (war lords) ist all das ein lukratives Geschäft, für die Weltwirtschaft peripher lästig, für Schutzgelder und Wachmannschaften bezahlende transnationale Rohstoffunternehmen ein Ausgabenposten unter »Nützliche Aufwendungen«, und humanitär ist all das eine Katastrophe. Kurz: Krieg ohne Wirtschaft gibt es nicht. Dennoch lässt sich das Wort »Wirtschaftskrieg« mit mindes-tens drei unterschiedlichen Bedeutungen sinnvoll verwenden:8
1. Erstens dient das Wort zur Bezeichnung von bewaffneten Konflikten, die mit primär wirtschaftlichem Ziel geführt werden. Mit dieser Bedeutung wurde und wird »Wirtschaftskrieg« vor allem als politischer Kampfbegriff und als Vorwurf gebraucht. Beispielsweise waren bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs viele deutsche Beobachter überzeugt, dessen Ursache sei hauptsächlich der bri-tische Handelsneid, der das Deutsche Reich als unliebsamen Konkurrenten von den Märkten verdrängen wolle.9 Viele Deutsche sahen sich in dieser Annahme durch den Versailler Vertrag bestätigt. Deutsche Autoren der Zwischenkriegszeit folgerten, künftig werde wohl jeder Militärkrieg nur noch Mittel sein, »um die Ansprüche der Volkswirtschaft durchzusetzen.«10 Auf Seiten der Sieger hingegen meinten viele Beobachter, nun werde Deutschland eben dafür zahlen, was es angerichtet habe.
Beide Annahmen waren damals wirtschaftswissenschaftlich längst widerlegt. Schon vor dem Ersten Weltkrieg hatte Norman Angell vorgerechnet, man könne die wirtschaftliche Prosperität einer Nation weder gewaltsam erbeuten noch zerstören noch durch Unterwerfung allmählich abziehen.11 Nach dem Krieg rechnete John Maynard Keynes vor: Die Prosperität Europas bis 1914 sei einem System der wirtschaftlichen Zusammenarbeit zu verdanken gewesen, in dem Deutschland das Zentrum gebildet habe. Der Versailler Vertrag repariere dieses empfindliche Netz (The delicate organisation) nicht, sondern vollende seine Zerstörung. Er überfordere die Zahlungsfähigkeit der deutschen Volkswirtschaft und nehme den Deutschen jeden Anreiz, die Vertragsbedingungen zu erfüllen.
Die Forderungen seien gegen den Willen der Deutschen gar nicht einzutreiben, es sei denn durch eine militärische Besetzung des gesamten Landes. Keynes empfahl, die Summe der geforderten deutschen Schadenersatzzahlungen drastisch zu senken, sich im Kreis der Sieger alle Kriegsschulden zu erlassen, eine europäische Freihandelszone einzurichten, die unter Aufsicht des Völkerbundes protektionistische Zölle abbauen solle, den kriegsgeschwächten Ländern international organisierte Finanzhilfen zu geben und Deutschland zu gestatten, seine traditionelle, konstruktive wirtschaftliche Rolle in Mittel- und Osteuropa zu spielen.12 Erst nach dem Zweiten Weltkrieg wurden viele dieser Empfehlungen verwirklicht – übrigens nicht zuletzt dank Keynes’ eigener Mitarbeit auf der Konferenz von Bretton Woods.
Die zweite gängige Bedeutung von »Wirtschaftskrieg« lautet »Kampf gegen die feindliche Kriegswirtschaftskraft«13. Hier soll vorrangig nicht (wie bei 1.) ein ökonomischer Vorteil in der Nachkriegszeit erreicht werden, sondern ein militärischer Vorteil im laufenden bewaffneten Konflikt. Diesem Zweck dient der Angriff auf alles, was die feindliche Kriegswirtschaftskraft ausmacht: Handelsverbindungen, Auslandsvermögen, Rohstoffzufuhr, Industrie- anlagen, Verkehrsnetz und so fort.
Die Angriffsmittel sind dabei militärischer und ziviler Art. Militärisch geschah das im Ersten Weltkrieg vielfach über die Marine, im Zweiten Weltkrieg kam zur Seemacht die wachsende Wucht der Luftmacht. Das britische Ministry of Economic Warfare (das im Ersten Weltkrieg noch Ministry of Blockade geheißen hatte) gab 1943 und 1944 zwei Auflagen von The Bomber’s Baedeker heraus. Er beschrieb alphabetisch geordnet (Aachen-Küstrin/Lahr-Zwickau) für über 520 Orte die geographische Lage von Zielen aus 14 Indus-triezweigen.14 Die USA bemühten sich, vermutete Schlüsselbranchen der feindlichen Rüstungsindustrie wie zum Beispiel die deutsche Kugellagerproduktion und die Werke zur synthetischen Herstellung von Treibstoff auszuschalten und das Verkehrsnetz des Feindes zu zerstören. Sie haben ab 1944 unter Leitung eines Versicherungsfachmanns die Wirkung ihrer Bombenangriffe akribisch ausgewertet.15
Auch die gewaltlosen Schädigungsmaßnahmen waren vielfältig. Um bei den Weltkriegen als den intensivsten jüngeren Konflikten zu bleiben: Feindliches Staatsvermögen (außer den Botschaftsgebäuden) im eigenen Hoheitsbereich wurde entschädigungslos verbraucht oder genutzt. Das Privatvermögen von Feindpersonen und Feindfirmen wurde wie oben dargestellt beschlagnahmt, zwangsverwaltet und enteignet. Das wichtigste zivile Mittel des Kampfes gegen die feindliche Kriegswirtschaftskraft nach angelsächsischer Manier war das Verbot des »Handels mit dem Feinde«, des Trading with the Enemy. Es wurde im Lauf der Zeit immer weniger als völkerrechtliche Frage und immer mehr als autonomer Akt souveräner nationalstaatlicher Gesetzgebung aufgefasst.16
Auch Drittstaatsangehörige, die Handelsbeziehungen mit dem Feind aufrechterhielten, landeten auf schwarzen Listen und wurden ihrerseits boykottiert. Wie sehr die gegen das Trading with the Enemy gerichtete Mechanik vor allem den Vereinigten Staaten im institutionellen und im Muskel-Gedächtnis steckt, zeigt sich bis heute. So erklärte der amerikanische Finanzminister Steven Mnuchin Anfang November 2018, im Zuge der gegen den Iran gerichteten Sanktionen habe man 700 Personen, Schiffe und Einrichtungen auf eine schwarze Liste gesetzt, und Firmen aus aller Welt, die mit den Gelisteten Geschäfte machten, drohe der Ausschluss vom amerikanischen Markt und von der Weltleitwährung US-Dollar.17
Die dritte Bedeutung von »Wirtschaftskrieg« klingt ein wenig wie »Hölzernes Eisen«, nach einem Widerspruch in sich. Sie ist aber die Definition, die in diesem Aufsatz vertreten wird: Das Wort »Wirtschaftskrieg« bezeichnet auch den staatlichen Kampf ohne physische Gewaltanwendung gegen die Wirtschafts- und Finanzkraft und bzw. oder gegen die Willensfreiheit eines Gegners, mit dem man sich nicht im bewaffneten Konflikt befindet. Ein sol-cher Wirtschaftskrieg bedient sich ausschließlich wirtschaftlicher, währungspolitischer und finanzieller Mittel. Sie können den Gegner ähnlich wirksam schwächen wie der Einsatz physischer Gewalt. Darum ist es zu der Wortverbindung gekommen (ähnlich wie etwa beim Wort »Scheidungskrieg«).
Beispielsweise haben die Vereinigten Staaten 1956 durch massiven ökonomischen Druck vor allem Großbritannien, aber auch Frankreich und Israel sehr schnell dazu bewegt, ihre Invasionstruppen vom Suez-Kanal zurückzuziehen – sie hatten ihn angeblich schützen müssen, nachdem Ägypten ihn verstaatlicht hatte. Die amerikanische Regierung stellte ihre Entwicklungshilfe für Israel ein und drohte, durch den Verkauf eigener Pfund-Sterling-Reserven den sinkenden Wert der britischen Währung noch weiter auf Talfahrt zu schicken; sie blockierte einen von London hände ringend erstrebten Hilfskredit des Internationalen Währungsfonds; sie lehnte bis auf Weiteres die Gewährung von Export-Im-port-Darlehen ab; und sie weigerte sich, mit eigenen Öllieferungen einzuspringen, um die durch die Schließung des Kanals beeinträchtigte Versorgung der Briten und Franzosen sicherzustellen. In Einklang damit verweigerten den beiden auch Saudi-Arabien und einige NATO-Staaten Ölkäufe.18 Unter diesem geballten Druck entschieden die drei Invasoren binnen Kurzem, ihre Truppen aus der Kanalzone abzuziehen. So wurde die militärische Suez-Invasion durch einen unmilitärischen wirtschaftlichen Blitzkrieg erfolgreich beendet.
Es gibt auch gewaltlose Wirtschaftskriege, die Jahrzehnte dauern. Ein Beispiel dafür sind die westlichen Embargomaßnahmen gegen kommunistisch beherrschte Länder in der Zeit des Kalten Krieges (wir sprechen von Embargo bei staatlichen Export- und von Boykott bei Importverboten). Gelegentlich wird wirtschaftlicher Druck auch von Privaten organisiert. So arbeiteten ab 1950 17 Nationen in einem Koordinationsausschuss für Exportkontrollen (englisch: Coordinating Committee, kurz CoCom) zusammen, dessen Empfehlungen auch einige weitere Staaten umsetzten. Ziel des CoCom-Systems war es, den Ostblockstaaten und der Volksrepu-blik China die jeweils modernsten westlichen Technologien vorzu-enthalten, vor allem in den Bereichen Kriegswaffen, Kernenergie, Luftfahrt, Industrieanlagen und Mikroelektronik. Der Effekt von CoCom war, im Nachhinein betrachtet, durchaus beträchtlich.
Weil es weiterhin sinnvoll scheint, sensible Technologien nicht in falsche Hände geraten zu lassen, wie die aktuelle Diskussion um den chinesischen Telekomanbieter Huawei thematisiert, wurde 1996 in den Niederlanden die unverbindliche so genannte Wassenaar-Vereinbarung geschlossen, an der mittlerweile mehr als 40 Staaten teilnehmen, auch die Russländische Föderation (Russland). Wassenaar zielt auf die Nichtverbreitung von Waffen und Dual-use-Gütern und erarbeitet für die Mitgliedstaaten entsprechende Listen und Sach- und Verfahrensempfehlungen.19 Im Vergleich mit CoCom fehlt Wassenaar die gegen einen bestimmten Gegner gerichtete wirtschaftskriegerische Färbung. Es handelt sich eher um eine Institution der Global Governance im Sinne einer kooperativen, multilateralen Gestaltung der Weltpolitik. Das leitet zurück zu der Frage, wann sinnvollerweise von »Wirtschaftskrieg« die Rede sein sollte und wann nicht.
In der hier vertretenen dritten Bedeutung – Wirtschaftskampf ohne bewaffneten Konflikt – ist das Wort »Wirtschaftskrieg« in Gefahr, inflationär verwendet und dadurch für das Erfassen der Wirklichkeit unbrauchbar zu werden. So wurde bereits auf die kämpferischen und zerstörerischen Züge aller wirtschaftlichen Konkurrenz hingewiesen. In den internationalen Wirtschaftsbeziehungen herrscht immer ein gewisses Maß an Kampf und Konflikt.20 All das verführt offenbar leicht zu einer entsprechenden Metaphorik.21
Oft ist dann schnell von »Übernahmeschlachten« und »Handelskriegen« bellizistisch die Rede. Aber bei einer solchen Verwendung des Wortes geht das dem gewaltlosen Wirtschaftskrieg Eigentümliche verloren: seine zwischenstaatliche, politische und polemische Qualität. Von »Wirtschaftskrieg« sollte dann und nur dann die Rede sein, wenn er erstens von einem Staat oder in seinem Auftrag oder mit seiner Billigung oder Duldung geführt wird und zweitens strategische politische Ziele verfolgt werden, die sich feindselig gegen mindestens einen anderen Staat richten.
Erstens, die Begrenzung auf zwischenstaatliche Beziehungen (Staatenbündnisse inbegriffen) trägt der Tatsache Rechnung, dass die maßgeblichen Akteure der Weltpolitik und der Weltwirtschaft Staaten sind und bleiben.22 Natürliche und juristische Personen des Privatrechts können Auslöser und Akteure von Wirtschaftskrieg sein, aber nur dann, wenn ein Staat sich ihr Handeln oder Erleiden zurechnen lassen muss oder zu eigen macht.
Zweitens, das Erfordernis strategischer Ziele soll zum einen Fälle ausschließen, in denen es vor dem Hintergrund breiten Einvernehmens und eines stabilen guten Miteinanders zu punktuellen Konfrontationen kommt: Die Europäische Union und die USA zum Beispiel haben sich langjährige Hühner- und Bananenkriege geliefert,23 aber verglichen mit dem Unwetter eines Wirtschaftskrieges waren das Schäfchenwolken an einem blauen Himmel.
Das Erfordernis strategischer Ziele soll zum anderen punktuelle wirtschaftskriegerische Akte ausschließen, denn ein Kriegsakt macht noch keinen Krieg: Strategische Ziele verfolgt, wer wirtschaftlich und politisch strukturell und systematisch die Ober-hand behalten oder gewinnen will oder wer den Willen eines anderen in einer Angelegenheit zu brechen versucht, die dieser als zentral für sein Selbstbild und seine Selbstbestimmung versteht. Eine solche strategische Qualität haben etwa die 2018 von den USA gegen den Iran gerichteten Sanktionen mit dem Ziel, ihn zu einer Neuverhandlung des sogenannten Iran-Atomabkommens zu zwingen, weil sie aus Sicht des Iran das Innerste seiner Selbstwahrnehmung und Selbstbestimmung beeinträchtigen sollen.24
Drittens, das Erfordernis der Feindseligkeit des Verhaltens zielt auf die polemischen Unterströmungen von Wirtschaftskriegen. In den zwischenstaatlichen Beziehungen wird tagtäglich versucht, durch wirtschaftlichen Druck oder wirtschaftliche Vergünstigungen das Verhalten anderer zu beeinflussen – das ist nicht mehr als angewandte Staatskunst, genau wie das begleitende Unschuldigtun und Vonsichweisen entsprechender Vorwürfe. Wirtschaftskriege haben abgründigere Motive:
Oft schwingen Unwerturteile über die politische Verfassung des anderen und seine Taten mit; oft bei mindestens einem der Beteiligten das Gefühl, selber friedfertig und gutwillig zu sein und doch auf aggressive, unfaire Weise angegangen zu werden. Strukturell die Oberhand behalten oder gewinnen im eben genannten, polemischen Sinn will auch, wer um die eigene Unabhängigkeit und Selbstbestimmung fürchtet oder wer im Gegenteil der Überzeugung ist, es stehe ihm zu, über die Entwicklung anderer zu bestimmen (chinesisch: sie »anzuleiten«, US-amerikanisch: ihnen Freiheit und Demokratie zu bringen).
Mitunter klingt eine Bereitschaft zur Eskalation des Konflikts mit, sogar über die Sphäre des Wirtschaftlichen hinaus; und nicht selten wird implizit die Humpty-Dumpty-Frage gestellt which is to be master – wer das Sagen hat.25 Im Kriegsrecht wird vom animus belligerendi gesprochen, vom Willen eines Staates, Krieg zu führen. Eine ähnliche Gestimmtheit sollte man auch für die Be-jahung eines kampflosen Wirtschaftskrieges zur Voraussetzung machen.
So wie der Krieg auf Propaganda sind auch wirtschaftskriegerische Maßnahmen auf ein gewisses Maß an effektiver Außenkommunikation fast immer angewiesen: »Bestrafungen« wie Embargos und Zollerhöhungen, die Zurücknahme von Meistbegünstigungsversprechen im Handel, die Aufstellung schwarzer Listen oder die Einführung von Einfuhrquoten müssen zumindest den betroffenen Unternehmen bekannt gemacht werden. Und soll die Willensbildung eines anderen Staates beeinflusst werden, dann sollte auch er von den ergriffenen Maßnahmen erfahren. Darum werden wirtschaftliche Sanktionen, die gegen das angebliche Fehlverhalten eines Adressaten verhängt werden, oft geradezu mit Fanfarenschall verkündet, auch um potentielle Nachahmer abzuschrecken.
Das ist erst recht der Fall, wenn nicht mit einer Verhaltensänderung des Adressaten gerechnet wird, denn dann gilt es, seinen Verstoß und die eigene Entschlossenheit, derlei nicht passiv hinzunehmen und sich das sogar etwas kosten zu lassen, desto nachhaltiger zu markieren. Diskreter geht es bei den Belohnungen für Wohlverhalten zu, also bei »positiven« Kampfmaßnahmen wie (dem Versprechen von) Zollsenkungen und Handelssubventionen, Krediten, Auslandsinvestitionen und Entwicklungshilfe: Bei ihnen wird nämlich gern die Fiktion aufrechterhalten, der Adressat habe seine Haltung aus freien Stücken verändert und nicht um materieller Vorteile willen. Manchmal allerdings werden Wirtschaftskriege auch heimlich begonnen und geführt. Wer das tut, verschafft sich Überraschungs- und Stellungsvorteile und kann lange unschuldig tun. Doch auch hier lohnt der Rekurs auf die Bergpredigt: »An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen« (Mt 7,16).
Die wirtschaftskriegerische Absicht, klassisch der animus belligerendi, lässt sich aus dem Gesamtbild erschließen: aus den ergriffenen Maßnahmen und ihren Wirkungen und aus den Spuren, die eine systematische Vorbereitung und Durchführung hinterlässt – in politischen Reden, in beschlossenen Programmen und im Gesetz- und Verordnungsblatt. Dabei sind Wahrnehmungen Tatsachen: Wenn ein Staat sich den Gesamteindruck bildet, er werde von einem anderen mit Wirtschaftskrieg überzogen, dann haben von Stund’ an beide ein Problem. Daraus folgen drei Gebote der politischen Klugheit:
1. Wer keinen Wirtschaftskrieg beabsichtigt, sollte peinlichst vermeiden, dass der gegenteilige Eindruck entsteht.
2. Wer Anzeichen für einen verdeckten Wirtschaftskrieg zu erkennen glaubt, sollte das dem anderen frühestmöglich mitteilen und ihn auffordern, seine Haltung zu korrigieren.
3. Es empfehlen sich feste Regeln, Institutionen und Verfahren, um Verdachtsfälle unverzüglich anzuzeigen und zu überprüfen, Streitanlässe zu isolieren und einzukapseln, damit sie nicht zum Flächenbrand werden, und bei Fehlverhalten die angemessene Gegenwehr und Entschädigung festzulegen. Genau das sind Grundgedanken des Allgemeinen Zoll- und Handelsabkommens (GATT) und der Welthandelsorganisa-tion (WTO). So weit die Definitions- und Rechtslage.
Was aber bedeutet die Abgrenzung zwischen »militärisch geführtem Krieg« und »Wirtschaftskrieg« ethisch, gerade auch im Licht der nach dem Kosovokrieg neu diskutierten just war tradition, wenn sich in unserer Gegenwart eine mit ökonomischen Mitteln geführte, globale Kriegsart herausbildet, deren Folgen über Sanktionen, Embargos und Handelsschranken genauso gravierend sein können wie bei konventionellen Kriegen? Wie sind Wirtschaftskriege diesseits und jenseits der Lehre vom gerechten Krieg ethisch zu reflektieren? Sind sie etwa legitimer oder verwerflicher? Sind sie ähnlich oder ganz anders als konventionelle Kriege zu beurteilen? Können solche Wirtschaftskriege nicht nur ethisch legitimierbar sein, sondern sogar geboten?
Wer derlei Fragen diskutiert, wird auf folgende, historisch oft wiederholte Argumentationsstränge treffen: Die einen werden deontologisch auf Prinzipien wie »Freiheit«, »globaler Freihandel« und »nationale Souveränität« verweisen, die notfalls bis ins Südchinesische Meer hinein verteidigt werden sollten und für die man Kriege führen und Opfer bringen sollte. Die anderen werden teleologisch ihr Vorgehen vom Ende her rechtfertigen, d. h. sie wer-den auf den künftigen Wert oder utilitaristisch auf den künftigen »Nutzen« solcher Auseinandersetzungen verweisen. Der potentielle Kriegsschaden wird dabei in Proportion gesetzt zum Gewinn an Wohlstand, Freiheit, Macht.
Gemeinsam wird all diesen Argumenten sein, dass ein Krieg die ihn Führenden wie die von ihm aktiv wie passiv Betroffenen immer wieder in ethische Dilemmata führt statt in positiv lösbare Probleme. Denn eine weniger schadenintensive Maßnahme als ein Krieg, der gerade auf Schadensverursachung angelegt ist, wäre vorzuziehen – was aber aus Sicht der nun kriegführenden Akteure offenbar keine Option mehr war, Stichwort ultima ratio.
Im politisch-ethischen Diskurs folgt ebenfalls häufig das sogenannte »Sachzwangargument«, man habe nicht anders handeln können und sich darum einem »Sachzwang« gebeugt. Auf solche Denkfiguren stößt man oftmals auch bei Wirtschaftskriegen (»China hat sich die Strafzölle selbst zuzuschreiben aufgrund seines unfairen Verhaltens seit Jahrzehnten.«). Doch ist bei Wirtschaftskriegen aus ethischer Sicht einiges anders als bei militärischen Auseinandersetzungen:
Zum einen werden die Auswirkungen von Wirtschaftskriegen vielfach unterschätzt, wie hunderttausende Tote durch das von den Amerikanern durchgesetzte Irak-Embargo in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre zeigten. Zum anderen ist der Übergang von aggressiver Handelspraxis über die ökonomische Ausübung nationaler Interessen hin zu Maßnahmen, die Millionen Menschen ihren Arbeitsplatz/ihre Exis-tenz kosten und deren Versorgung gefährden, fließend. Ist etwa die von China forcierte Überschuldung von Afrika zur Sicherung eigener Rohstoffzugänge oder Flottenstützpunkte bis hin zum Kauf von strategischer Verkehrsinfrastruktur legitime bilaterale Wirtschaftshilfe oder bereits eine Vorbereitungshandlung einer »kriegerischen Maßnahme« zur ökonomischen Sicherung globaler Dominanz?
Die klassische juristische Antwort: Es kommt darauf an, nämlich auf Intensität, Ziel und Art der Umsetzung der jeweiligen Maßnahmen und Aktionen. So werden die einen geltend machen, dass der Kauf eines deutschen Weltmarktführers für Betonpumpen durch eine staatlich kontrollierte, chinesische Firma ein gänzliches aliud sei zu einem chinesischen Flottenstützpunkt in Djibouti oder auch zur jüngsten Übernahme einer der größten Uranminen der Welt (Rössinguranmine in Namibia in 2018) durch ein chinesisches Konsortium.
Die anderen werden geltend machen, dass solche Akquisen Teile derselben nationalen Strategie zum Erreichen einer globalen ökonomischen Vormachtstellung seien: Letztlich brauche man auch in der Atomindustrie jenen Beton, den ein in Deutschland von einem staatlich kontrollierten chinesischen Konsortium eingekaufter, ziviler Weltmarktführer von Betonpumpen zu liefern vermag. Und wer afrikanische Potentaten durch die Bereitstellung von Infrastruktur und Krediten gefügig zu machen versuche, um so den Zugang zu militärisch wie zivil wichtigen Rohstoffen zu ermöglichen, der spart am Ende Militärausgaben und erwirbt gleichzeitig einen plausiblen Grund, später seine Investitionen und Rechte im Ausland auch militärisch zu schützen.
Wer angesichts dieses ethisch unübersichtlichen Befundes das Material raffen muss, hat schon einiges erreicht, wenn es gelingt, die von beiden Seiten geltend gemachten Argumentationsmuster zu strukturieren unter der Frage, was einen modernen »Wirtschaftskrieg« in seiner ethischen Beurteilung von einem konventionellen Krieg unterscheidet und an welchen Punkten sich die Beurteilung beider gleicht oder wenigstens ähnelt und warum das so ist. Ansetzend beim Kriegsbegriff wird Ethik dabei schnell auf antike wie scholastisch-naturrechtliche Denkfiguren der Lehre vom gerechten Krieg stoßen:
Während das Recht nach Legalität fragt, fragt Ethik nach Legitimität.26 Das lateinische Wort legitimus beschreibt dabei gegenüber legalis ein Mehr: Ethik hat nicht nur zu beurteilen, ob eine kriegerische Handlung legal, also rechtmäßig ist. Auf der Legitimitätsebene zu beurteilen ist, ob eine kriegerische Handlung im Sinne des Wortes legitimus auch »gemäß/angemessen/in Ordnung/verhältnismäßig« ist oder zumindest sein kann.
Für all jene, für die die Anwendung von Gewalt niemals angemessen sein kann, ist die Sache einfach: Aus radikalpazifistischer Sicht wäre selbst bei guten Gründen für die Anwendung von Gewalt keine Art von Krieg jemals legitimierbar, da Krieg den absoluten Wert eines jeden Lebens gefährde. Sie ist vielmehr Ausdruck aggressiver Gesinnung und ein Offenbarungseid, weil zivilisier-tere Maßnahmen wie Verhandlungen und Diplomatie offenbar keinen Erfolg zu zeitigen vermochten. Nun ist aber der Radikalpazifismus eine Minderheitsposition, und Ethik hat die Chance wie die Herausforderung anzunehmen, nicht etwa Utopien, sondern Realitäten zu reflektieren, zumindest dann, wenn sie Kants Grundfrage der Ethik »Was soll ich tun?« hinreichend ernst nimmt. Und zu dieser Realität menschlichen Lebens gehören zu fast allen Epochen eben auch Kriege.
Diese Tatsache hat in der antiken Philosophie schon früh dazu geführt, dass man Kriegsgründe, Kriegsziele und Kriegsführung immer auch ethisch reflektiert hat – prominent in Platons Politeia oder Ciceros De re publica und De officiis, dann bei Augustinus, rezipiert im kanonischen Recht bis hinein in die Debatten um Massenvernichtungswaffen im 20. Jh. jeweils unter der Denkfigur/der Lehre des »gerechten Krieges«.27
Ausgehend von Ciceros Überlegungen, wann ein Krieg zur Wiederherstellung eines Zustandes der Rechtmäßigkeit und zur Abwehr von Unrecht durch eine legitime, staatliche Gewalt »gerecht« genannt werden könne, wurde vor allem durch christliche Denker im Rekurs auf Augustinus sowie in der Scholastik u. a. durch Thomas von Aquin in engen, klar gesteckten Grenzen die Legitimität der Kriegsgründe (ius ad bellum) getrennt von der Frage einer legitimen Art der Kriegsführung (ius in bello). Denn auch die aus we-nig legitimen Gründen begonnenen Kriege sollten in der Art der Kriegsführung nicht humanitär eskalieren.
Diese Differenzierung wurde durch die Reformation über die Aufklärung bis ins moderne Völkerrecht immer wieder neu aufgegriffen, weiterentwickelt und auf die militärischen Auseinandersetzungen der jeweiligen Zeit angewandt. Die klassischen Kriterien beim ius ad bellum sind dabei, dass der Krieg
1. von einer legitimen Gewalt (auctoritas), also keiner Privatarmee, sondern in aller Regel von einem Staat geführt wird,
2. mit der rechten Gesinnung bzw. Intention (recta intentio) geführt wird und
3. mit einem klaren Kriegsziel (iustus finis), nämlich Recht und Frieden wiederherzustellen und zwar
4. als letzte Möglichkeit (ultima ratio), nachdem alle anderen Möglichkeiten wie Diplomatie und Verhandlung ausgeschöpft worden sind.
Einer der zentralen Aspekte beim ius ad bellum ist also, dass ein als »gerecht« qualifizierter Krieg (bellum iustum) lediglich auf Unrecht/Aggression reagiert, um einen verletzten Rechtszustand wiederherzustellen, und Gewalt dabei nur als ultima ratio und nur in Form von staatlicher Gewalt legitim sein kann mit dem Ziel der Wiederherstellung des Friedens.28 Entscheidend bei der Bewertung eines möglichen Rechtes zum Kriegführen ist dabei für Cicero, dass ein solcher Konflikt kein Angriffskrieg ist, sondern der Abwehr von Unrecht dient, staatlich geführt wird mit klarem Ziel und durchaus erreichbarem Erfolg.
Bei der Frage nach der angemessenen Art der Kriegsführung, dem ius in bello, kommen folgende Kriterien zur Geltung:
1. die Verhältnismäßigkeit der Mittel (proportionalitas), d. h. die angewandten Mittel sollten bezogen auf die Gefahrenabwehr verhältnismäßig sein.
2. Die Unterscheidung von Soldaten und Zivilisten ist entscheidend mit dem Ziel, die Immunität der Zivilisten so gut wie möglich zu schützen (Immunitas).
Vor allem bei Augustinus wichtig ist letzterer Punkt in bello, der auch später bei Martin Luther in dessen Unterscheidung von Person und Amt und dem von ihm etablierten weltlichen Berufsbegriff eine Rolle spielen sollte, etwa in dessen Schrift »Ob Kriegs-leute auch in seligem Stande sein können« (1526).29 Denn gerade in einer christlich-scholastischen Ethik wird die Unterscheidung von Soldaten und Zivilisten bei der Art der Kriegsführung als bester Garant für die Minimierung unnötiger Opfer gesehen.
Gerade dieser letzte Punkt wurde von pazifistischer wie realpolitischer Seite als Schwäche der Lehre vom gerechten Krieg vielfach kritisiert, weil Immunität der Zivilbevölkerung bei sich auf freiem Feld gegenüberstehenden Heeren realistisch erschien, nicht aber in den meisten anderen Arten symmetrischer wie asymmetrischer Kriegsführung der Moderne – schon gar nicht im Zeitalter der Massenvernichtungswaffen und in einer digital vernetzten Weltwirtschaft, in der Strafzölle etwa gegen deutsche Unternehmen ame-rikanische Arbeitnehmer den Arbeitsplatz kosten können und umgekehrt. Dennoch ist die Minimierung ziviler Opfer ein militärisch zentrales Kriterium geblieben zur Beantwortung der Frage, unter welchen ethischen Bedingungen Konflikte legitimierbar seien.
Das ius in bello ist darum rechtlich wie humanitär so zentral geblieben, weil auch ungerechtfertigt begonnene Kriege in der Art der Kriegsführung der rechtlichen Einhegung bedürfen. Im Wirtschaftskrieg besonders problematisch scheint das Immunitätsprinzip des ius in bello: Vor allem beim Kriterium der Immunität von Zivilisten unterscheiden sich Wirtschaftskriege am deutlichs-ten von der klassischen Theorie des gerechten Krieges. Denn wer ist im Wirtschaftskrieg wie lange »Zivilist«, wer »Soldat«? Economic warfare zielt in vielen Fällen gerade darauf, die Auseinandersetzung nicht militärisch führen zu müssen, gleichzeitig aber möglichst viele Zivilisten im Machtbereich des Gegners zu treffen und über die Verschlechterung von deren Lage Druck auf deren Staatsführung auszuüben.
Dabei können die Folgen der dafür notwendigen Maßnahmen wie etwa Sanktionen mindestens so gravierend sein wie die casualties militärischer Aktionen. So wurde die US-Außenministerin Madeleine Albright in einem CBS-Interview 1996 gefragt, ob die geschätzten 500.000 toten Kinder durch die Sanktionen gegen das Regime von Saddam Hussein, welche den body count von Hiroshima überstiegen, diesen hohen Preis wert gewesen seien. Ohne überhaupt die genannten Zahlen in Frage zu stellen, war Albrights unzweideutige Antwort: »I think this is a very hard choice. But we think the prize is worth it.«30
In der Lehre vom gerechten Krieg wäre eine derartige Maßnahme mit einem solchen Ergebnis der Tötung von hunderttausenden Zivilisten als zumindest billigend in Kauf genommenes Ergebnis der Sanktion in keinem Fall eine legitime bzw. legitimierbare kriegerische Maßnahme gewesen, da eines der zentralen Ziele des umfänglichen Embargos gegen den Irak zumindest im Wege der billigenden Inkaufnahme und damit vorsätzlich genau dieses war: irakische Zivilisten vom Zugang zu Waren und überlebenswichtigen Gütern abzuschneiden, und zwar selbst um den Preis des Todes von unterversorgten Zivilisten.
Wirtschaftliche Sanktionen, wenn sie nicht auf möglichst eng und klar definierte Bereiche wie den Import von waffenfähigem Material o. Ä. beschränkt werden, zeichnen sich wie gezeigt da-durch aus, dass sie schnell und nur schwer kontrollierbar die Versorgung der Zivilbevölkerung gefährden. Ebendies scheint in Wirtschaftskriegen fast notwendig stets problematisch: Mit einer aggressiven Maßnahme vor allem gegen Zivilisten setzt der Kriegführende im von Clausewitzschen Sinne Politik mit anderen Mitteln nahtlos fort, nämlich mit ökonomischen Mitteln. Sanktionen und Strafzölle als Mittel der Wahl in vielen Handelskriegen verteuern oder verknappen Waren wie Lebensmittel oder Medikamente. Sie zerstören damit je nach Umfang massiv die Wertschöpfung, vernichten potentiell Millionen von Arbeitsplätzen und gefährden im schlimmsten Fall die Existenz von Menschen. Und das ist kein Nebenprodukt, sondern eines ihrer Ziele: die Volkswirtschaft des Gegners zu destabilisieren in der Hoffnung, damit ents prechenden Druck auf die Handelspartner bzw. Konkurrenten auszuüben – und zwar ohne Rücksicht auf humanitäre Konsequenzen.
Gleicht man dieses Vorgehen mit den genannten Kriterien eines »gerechten« Krieges ab, wäre eine Sanktion oder ein Strafzoll dann eine illegitime »gewaltsame Handlung«, wenn sie sich billigend und damit wenigstens mit bedingtem Vorsatz (dolus eventualis) gegen Zivilisten richtet und die Gefährdung von deren Immunität billigend in Kauf nimmt. In der aktuellen Rhetorik im Handelsstreit mit China macht Präsident Trump jedoch zur Rechtfertigung seiner Maßnahmen deutlich, warum er die verhängten Strafzölle als angemessen und damit legitim erachtet: China gefährde durch seine Handelspraxis die ökonomischen wie politischen Interessen der Vereinigten Staaten.31 Nicht China, sondern die Ver-einigten Staaten handelten darum mit recta intentio durch Strafzölle u. a. auf Stahl und Autoimporte als gewählter, proportiona-ler Gegenmaßnahme. Im Sinne der Kriterien des ius ad bellum liefert er damit eine causa iusta für sein Vorgehen oder versucht dies zumindest: Er verteidige die Vereinigten Staaten gegen eine ökonomische Aggression Chinas, das durch gefälschte Wirtschaftsdaten, eine künstlich abgewertete Währung, exzessive Exporte und den Diebstahl geistigen Eigentums als eigentlicher Aggressor auftrete.
Aber selbst wenn man diese Begründung teilte, so ist zumindest in einer restriktiven Auslegung der Lehre vom gerechten Krieg – in Abgrenzung zu einer permissiven Auslegung – entscheidend und zentral, dass das Vorhandensein von einem Rechtfertigungsgrund nicht gegen die Abwesenheit bzw. Verletzung der anderen Kriterien quasi aufgerechnet werden kann. So wäre in der restriktiven Auslegung für die Qualifikation eines Krieges als »gerecht« das Vorliegen jedes einzelnen Kriteriums notwendig, aber für sich selbst genommen eben nicht hinreichend. Von den Anhängern einer permissiven Auslegung kommt dann regelmäßig die Kritik, dass es praktisch keinen Krieg gebe, bei dem es nicht zu unnötigen zivilen Opfern komme. Dazu ist im Falle des Wirtschaftskrieges erneut festzustellen, dass dessen Ziel gerade ist, Zivilisten zu treffen, so dass er im Sinne der klassischen Lehre nie als »gerecht« gelten könne.
Weiterhin wäre aus ethischer Sicht zu hinterfragen, ob die Handelskriegsoption, die vergleichsweise früh in Trumps Legislatur gewählt wurde, tatsächlich im Vergleich zu weiteren Verhandlungen die ultima ratio-Bedingung erfüllen würde und ob es beim ius in bello keine Maßnahme gegeben hätte, die Zivilisten, also vor allem Arbeitnehmer, eher geschont hätte. Erneut: Wer Handelssanktionen in mehrstelliger Milliardenhöhe verhängt, der will keine Zivilisten schonen – im Gegenteil.
Die ethische Rechtfertigung seitens des amerikanischen Präsidenten läuft dabei über ein teleologisches Argument, wenn er auf den künftigen Nutzen und ökonomisch-politischen Erfolg solcher Maßnahmen verweist. Ja, beide Handelspartner werden verlieren, aber die einen eben stärker als die anderen, so dass es am Ende sehr wohl einen Gewinner geben werde.
Ein zentrales Problem all dieser Argumente für einen Wirtschaftskrieg im Bereich des ius ad bellum scheint jedoch eine kaum mögliche Risikoabschätzung in Zeiten einer immer stärker digital verwobenen, interdependenten Weltwirtschaft, in der niemand die Folgen der eigenen Handlungen sicher abschätzen kann. In der Denkfigur des gerechten Krieges bedeutet dies aber, dass beim ius ad bellum Kriegsziele deutlich schwerer eingrenzbar sind als bei konventionellen Kriegen. Während bei Letzteren eine militärische Lage zwar durchaus eskalieren kann, aber doch militärisch beurteilbar bleibt, sind bei einem global geführten Handelskrieg die Zahl der Akteure und der Grad ihrer Schädigung umso komplexer durch den Grad ihrer Interdependenz.
Diese zeigt sich etwa am Beispiel ausländischer Firmen in Amerika selbst, wo beispielsweise der Autohersteller BMW in Spartanburg, South Carolina – und nicht in Deutschland – seinen größten Fertigungsstandort hat. Und wenn etwa Sanktionsmaßnahmen gegen europäische, im Irangeschäft engagierte Banken getroffen werden, so betrifft das am Ende auch den Wohlstand in China oder Katar, die an diesen europäischen Banken beteiligt sind. Und wenn ein norwegischer Pensionsfonds an über 8.000 Firmen in 82 Ländern beteiligt ist, dann wird jede ökonomische Sanktion gegen solche Länder und Firmen immer auch zu einer mittelbar wirkenden Sanktion gegen das dort investierte Norwegen.
In einer philosophischen Denkkategorie wie dem least privi-leged-Prinzip bei John Rawls, das den von einer Maßnahme am härtesten Betroffenen schützen will, wäre bereits fraglich, wer überhaupt wie betroffen und wer der least privileged in einem Handelskrieg wäre, wenn amerikanische wie chinesische Automobilarbeiter nicht mehr in Lohn und Brot stünden. Geht dabei das Wohl eines amerikanischen Arbeitnehmers dem Wohl anderer Arbeitnehmer vor? Und warum sollte es das ethisch – jenseits eines America first? Ist die Verlagerung einer Produktion im Rawlsschen Sinne damit »unfair«? Und gerade bei cyberwarfare: Ist überhaupt beweisbar, dass der »Akteur« staatlich gelenkt ist?
Zumindest im Sinne des Prinzip Verantwortung von Hans Jonas gilt jedoch stets, dass derjenige, der eine besondere Gefahr setzt – etwa das Betreiben einer Atomanlage oder das Anzetteln eines Wirtschaftskrieges –, in besonderem Maße für die Risiken verantwortlich ist.32 Bei den Wirtschaftskriegen des 21. Jh.s wird darum die Verantwortungsübernahme für die Risiken eskalierender ökonomischer Maßnahmen weitestgehend verunmöglicht, weil die 1648er Regeln des sogenannten Westphalian Model global nicht mehr durchgreifen.33 Die Regelungen des Westfälischen Friedens implizierten nämlich, dass sich staatliche Souveränität u. a. durch klare, zu verteidigende Territorialgrenzen konstituiert.
Gewinne wie Schäden werden heutzutage globalisiert und rein nationale ethische Verantwortlichkeiten für ökonomische Entwicklungen damit immer verschwommener wie komplexer. Bei Schießkriegen ist der Gegner und das zu erreichende Ziel meist klar, bei Wirtschaftskriegen ist hingegen friendly fire eher die Regel als die Ausnahme und das Kriegsziel immer schwerer kalkulierbar. Statt eines Nullsummenspiels stellt sich dann ökonomisch nur noch die Frage, wer in einem Wirtschaftskrieg mehr verliert, und ethisch, was dies für die Gewinnbarkeit, Asymmetrie und Anste-ckungsfähigkeit solcher Konflikte bedeutet.
Die Kategorie »gerecht« scheint darum zumindest für sich allein genommen kein hinreichendes Kriterium zur Beurteilung eines Wirtschaftskrieges zu sein, solange man bei der Bewertung der Einzelmaßnahmen aus einer kindlichen »Wer hat angefangen«-Logik sowie einer zweifelhaften, da stets in der Zukunft liegenden Nutzenanalyse sowie bei den Gegenmaßnahmen aus einer »Auge um Auge«-Logik nicht herauskommt – zudem anfangs gar nicht absehbar scheint, wie viel Blinde man auf allen Seiten bis wann produziert.
Weiterhin scheitert man noch an einem weiteren Kriterium des ius ad bellum, das Thomas von Aquin besonders betonte.34 Es müsse eine berechtigte Aussicht bestehen, durch die gewählte, begrenzbare kriegerische Maßnahme ein positives Ergebnis, d. h. eine stabile Rückkehr zu Recht und zum Frieden zu erreichen, was für den Scholastiker implizierte, dass man die gerechte Ordnung wiederherstellen wollte und auch konnte. Dieses Ziel zu erreichen, scheint aber im aktuellen USA-China-Handelskonflikt bestenfalls unsicher.
Am Ende führen dies sowie die notwendige Verletzung der Immunität von Zivilisten als systematische Methode des Wirtschaftskrieges in bello sowie die unabsehbaren Risiken, die leicht in einen Schießkrieg eskalieren, sowie die Interdependenzen globaler Märkte dazu, dass die ethische Beurteilung von Wirtschaftskriegen deutlich komplexer ist als bei klassischen konventionellen Konflikten im Westphalian Model. Im Wirtschaftskrieg gilt meistens die Bürgerkriegserfahrung: Someone’s terrorist is almost always some-one else’s freedom fighter.
Dazu folgendes Beispiel: Wenn man etwa Südafrika staatlicherseits wie zivilgesellschaftlich vor allem in den 1970er und 1980er Jahren mit Embargos und Boykotten belegte – von Waffen über Früchte bis hin zum Verbot der Teilnahme südafrikanischer Sportler an Olympischen Spielen –, dann waren selbst bei Befürwortern dieser Embargopolitik jene Maßnahmen kontrovers, die auch die Opfer des Apartheidregimes trafen.
So nahm etwa der gerade von Kirchen unterstützte Boykott südafrikanischer Früchte (»Kauft keine Früchte aus Südafrika«)35 zur allgemeinen ökonomischen Schwächung der südafrikanischen Wirtschaft billigend in Kauf, dass es vor allem schwarze Farmhelfer waren, denen der Boykott die Grundlage ihrer Existenz nahm – sie wurden entlassen. Ethisch wurde dann auf den finalen Nutzen solcher Aktionen – nämlich den des Endes der Apartheid in Südaf-rika – verwiesen, was neben der Frage der politischen Erreichbarkeit dieses Zieles durch einen Konsumboykott von Obst die Lage der schwarzen Arbeiter aber unbestreitbar verschärfte. Man trifft hier auf das klassisch utilitaristische Argumentationsmuster mit seinem bekannten Schwachpunkt:
The ends should justify the means – das hehre Ziel und ein zukünftiger Nutzen sollen eine in der Gegenwart nicht unumstrittene Maßnahme rechtfertigen. Und wie geht man zudem mit nicht intendierten Nebeneffekten um, die man sich als Akteur zurechnen lassen muss? Effektiver, kreativer und im Mittel sicherlich milder schien da der zielschärfere Waffenboykott gegen Südafrika auf der einen Seite oder auf der anderen der Tourboykott des südafrikanischen Springbok-Rugbyteams durch andere Rugbynationen wie Australien und Neuseeland, da ein Teilziel – die sichtbare Verurteilung des Apartheidregimes – erreicht wurde, ohne damit parallel breite Teile der schwarzen Arbeiterschaft in ihrer ökono-mischen Existenz zu gefährden.36 Die Maßnahme ist also ethisch angemessener, weil sie schlicht klüger und zielgenauerscheint als ein pauschaler Wirtschaftsboykott. Wer also staatlicherseits auf Embargos setzt, sollte sich sehr genau und vor allem vor ihrer Implementation mit deren intendierten Zielen und Folgen beschäftigen.
Kurz: Auch in der Ethik ist der Weg zur Hölle zuweilen mit guten Absichten, gerechtem Zorn und iustae causae gepflastert. Wer aber selbst mit besten Absichten die Geister, die er ruft, wieder loswerden will, sollte gerade bei ökonomischen Sanktionen darauf achten, dass er nicht nur politisch, sondern auch ökonomisch die Konsequenzen seiner Handlung zu analysieren vermag, und die Mittel zur Erreichung seiner Ziele klug und zielgenau wählen. Denn an dieser Auswahl bemisst sich die ethische Legitimität der getroffenen Entscheidungen. Keine Früchte von einem Apartheidsregime zu kaufen, kann zu gravierenden Konsequenzen auch für die Opfer dieses Regimes führen. Den eigenen ökonomischen Nutzen hintanzustellen und Waffenexporte in Krisenregionen zu unterlassen, scheint nicht nur die ethisch weniger problematischere Variante. Und wer Handelssanktionen, Embargos, Strafzölle oder CoCom-Systeme meint installieren zu müssen, sollte nach den Maximen aller Denkschulen des gerechten Krieges genau überlegen, wie er damit den Schaden für Unbeteiligte wie für die Zivilbevölkerung minimiert.
So schwer Wirtschaftskriege und vor allem ihre Vorbereitungshandlungen zu definieren sind, so hilfreich scheint die alte Lehre vom gerechten Krieg, um besonders die ihnen innewohnenden ethischen Dilemmata zielgenau zu identifizieren. Gleichzeitig bleiben sie Dilemmata und damit nicht auflösbar. Denn oft sind ihre Akteure wie die Opfer Zivilisten. Oft sind die Kriegsziele und die Kriegsfolgen zu Beginn der Auseinandersetzungen kaum prognostizierbar. Und analog der konventionellen Kriegsführung sind die Art der Kriegführung und die gewählten Waffen zunehmend digitaler Art, was solche Konflikte beschleunigt und damit meis-tens intensiviert und den Begriff »Akteur« immer komplexer macht.
Stichwort cyberwarfare: Kriege wurden traditionell zwischen Staaten geführt. Aber wie genau ist bei einem Cyberangriff der staatliche Angreifer, der »Akteur« bzw. Agent einzugrenzen, wenn ein Angriff etwa auf die Energieversorgung eines Landes mit digitalen Mitteln faktisch stattgefunden hat, ohne dass man zeitnah die Akteure rechtssicher benennen könnte? Dies ist kein theore-tisches Problem, sondern bei jüngsten Cyberangriffen aus Nord-korea oder Iran, die man nicht eindeutig den jeweiligen Akteuren zuordnen konnte, eher die Regel.
Aus ethischer Sicht scheinen zunehmend digital geführte Wirtschaftskriege in globalen Zusammenhängen darum ethisch mindestens so komplex wie konventionelle Kriege – schon wegen der Unmöglichkeit einer genauen ökonomischen wie in der Folge politischen Risikofolgenabschätzung. Und bei den Risiken finden sich dann auch Wirtschaftskriege in einer unheiligen Allianz mit Schießkriegen wieder, da die eine Konfliktart häufig in die andere übergeht.
Durch die intendierte Verletzung von Proportionalitäts- und Immunitätsprinzip, durch unklare Kriegsgründe, durch unabsehbare Risiken und eine bestenfalls nebulöse Aussicht auf einen »gerechten Frieden« sind solche Konflikte humanitär oftmals lang und fatal. Und doch gibt es sie, und zwar im Falle der Wirtschaftskriege zunehmend. Radikalpazifistisch darum das »Ob« solcher Konflikte zu brandmarken, beendet sie nicht, so dass es ethisch vor allem geboten scheint, sich auf das »Wie« zu konzentrieren.
Will heißen: Wenn man sich für Sanktionen, Embargos oder andere ökonomische Maßnahmen entscheidet, dann sollte man genau abwägen, ob und wie man damit womöglich echte iustae causae tatsächlich erreicht, statt wahllos fremde oder womöglich eigene Zivilisten zu treffen. Und wer identifiziert in Zeiten von Digitalisierung und Welthandel zielsicher die »Akteure« bzw. »Aggressoren«?
Wer sich in einer solch digital dominierten Welt immer stärker mit dem »Wie« als mit dem »Ob« problematischen Handelns auseinanderzusetzen hat, sollte sich als ethischer Begleiter mit und in seinen Bezugswissenschaften so gut wie möglich auskennen. So offensichtlich manchem all diese Fragen vor Beginn solcher Konflikte erscheinen mögen, so wenig werden sie doch in der Praxis gestellt. Sich dann als Christopher Clarks Sleepwalkers37 wie 1914 plötzlich mitten in diesen Konflikten wiederzufinden, ohne zuvor solche Abwägungen strukturiert vollzogen zu haben oder dies fachlich auch nur zu vermögen, ist dann wahrlich die schlechteste aller Welten – gerade in einer Zeit, in der sich Geschichte zwar nicht wiederholt, aber doch ab und zu reimt.
After demonstrating the grave consequences of economic warfare, this paper proceeds to define and delineate the meaning of the term before exploring the ethical differences and similarities between armed conflict and economic warfare. The central question of the paper is less whether, but under what conditions economic war-fare can be considered a »just war». To answer this question, the author draws on classical theories of just war »and applies« them to modern economic warfare. As helpful as these theories are in understanding whether economic warfare can be just, the ethical dilemma remains. If anything it is exacerbated by the digital and global nature of economic warfare today.
Fussnoten:
1) Der Aufsatz wurde in leicht veränderter Form als Vortrag am 20.02.2019 an der Universität Oxford vom Autor gehalten (sämtliche im Folgenden zitierte Webseiten wurden abgerufen am 11. Februar 2019).
2) Als eine der pointiertesten Zusammenfassungen der aktuellen theologischen Debatten vgl.: Nigel Biggar, In defence of war, Oxford 2013.
3) Helmut Gollwitzer, Die Christen und die Atomwaffen, München 1957; Wolfgang Huber/Hans Richard Reuter, Friedensethik, Stuttgart 1990.
4) Wolfgang Huber, Rückkehr zur Lehre vom gerechten Krieg? Aktuelle Entwicklungen in der evangelischen Friedensethik, (1) 2004, in: www.ekd.de/vortraege/040428_huber_friedensethik.html.
5) Alan S. Milward, Geschichte der Weltwirtschaft im 20. Jahrhundert, Bd. 5: Der Zweite Weltkrieg, München 1977, 309.
6) Als Extrembeispiel: Die USA haben in den Jahren 1940 bis 1945 rund 297.000 Militärflugzeuge, 86.000 Panzer, 17,4 Millionen Handfeuerwaffen, 64.500 Landungsboote und 5.200 größere Schiffe mit insgesamt fast 53 Millionen Bruttoregistertonnen gebaut. Wer gegen ein Produktionspotential mit solchem Output in den Krieg ziehen wollte, ging ein sehr hohes Risiko ein, und entsprechend gedrückt war vor Pearl Harbor die Stimmung im japanischen Kriegsrat. Vgl. dazu: Dale C. Copeland, Economic interdependence and war, Princeton 2015, 184–246.
7) Herfried Münkler, Die neuen Kriege, Reinbek 2002.
8) Fast jeder Autor entwirft eine eigene Definition. Ähnliche Einteilung wie hier bei John A. C. Conybeare, Trade Wars. The theory and practice of International Commercial Rivalry, New York 1987, 5. Und bei Vaughan Lowe/Antonios Tzanakopoulos, Stichwort Economic Warfare, in: Max Planck Encyclopedia of Public International Law, Oxford 2012.
9) Paul Kennedy, The rise and fall of British naval mastery, 2. Aufl., London 2017, 291 ff.410 ff.464 ff.
10) Hans Jürgen Schlochauer et. al. (Hrsg.), Wörterbuch des Völkerrechts, Bd. 3, 2. Aufl., Berlin 1960–62, Stichwort: Wirtschaftskrieg; Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen, 1932, Nachdruck Berlin 1979, 89.
11) Norman Angell, The great illusion, London 1910.
12) John Maynard Keynes, The economic consequences of the peace, Cambridge 1919, vgl. bes. Kapitel 2 und 7. Zitat: 15.
13) Vgl. Friedrich Berger, Völkerrecht, Bd. 2, 2. Aufl., München 1962, 197; Ferdinand von Willisen, Begriff und Wesen des Wirtschaftskrieges, Jena 1919, 5; Georg Brodnitz, Das System des Wirtschaftskrieges, Tübingen 1920, 1.
14) Uta Hohn, The Bomber’s Baedeker – Target Book for Strategic Bombing in the Economic Warfare against German Towns 1943–45, in: GeoJournal, September 1994, 213–230. Auch die Luftwaffe flog übrigens 1942 allseits sogenannte »Baedeker-Angriffe«, sie bombardierte als Repressalie für Angriffe auf Lübeck und Rostock einige kulturgeschichtlich bedeutsame englische Städte.
15) Zusammenfassung von The United States Strategic Bombing Surveys (European War) (Pacific War) online: www.airuniversity.af.edu/Portals/10/AUPress/Books/B_0020_SPANGRUD_STRATEGIC_BOMBING_SURVEYS.PDF. Skeptisch zum Erfolg der Wirtschaftskriegsmaßnahmen Alan S. Milward, Geschichte der Weltwirtschaft im 20. Jahrhundert, Bd. 5: Der Zweite Weltkrieg, München 1977, 8. Kapitel.
16) Einzelheiten bei Hans-Jürgen Wolff, Kriegserklärung und Kriegszustand nach Klassischem Völkerrecht, Berlin 1990, 106–129, m. w. N.
17) »Pompeo: Iran wird normal, oder es zerkrümelt«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 6.11.2018, 1.
18) Vgl. Jonathan Kirshner, Currency and Coercion: The Political Economy of International Monetary Power, Princeton 1997, 81 ff.; kritischer Diane B. Kunz, The Economic Diplomacy of the Suez Crisis, Chapel Hill 1991, die aber konzediert, dass der Druck wirkte, am stärksten gegen Großbritannien; und Adam Klug/Gregor W. Smith, Suez and Sterling, 1956, Kingston (Ontario) 1999, 18: »Britain was forced to abandon its political objectives in exchange for IMF credit.« https:// core.ac.uk/download/pdf/6494165.pdf. Auf ähnliche Weise – kein US-Nachschub mehr für die davon völlig abhängige französische Armee – zwang 1945 Präsident Truman General de Gaulle, einen französischen Annexionsversuch in Norditalien zu beenden.
19) Vgl. die Website https://www.wassenaar.org/.
20) Das betont auch John A. C. Conybeare, Trade Wars, The theory and practice of International Commercial Rivalry, New York 1987, 5.
21) Vgl. zur Sprache und zu bellizistischen Metaphern auch die Studie Wirtschaftskrieg – Rivalität ökonomisch zu Ende denken von Ulrich Blum, Halle (Saale) 2016, Neuaufl. 2019 im Springer Verlag Berlin/Heidelberg/Luxemburg, 137–142. Vgl. auch David A. Baldwin, Economic statecraft, Princeton 1985.
22) Dem wird mitunter die These von der Herrschaft der transnationalen Unternehmen entgegengestellt. Dazu überzeugend Martin Wolf, Why globalization works, New Haven 2005, 221 ff.
23) Zum Hühnerkrieg beispielsweise Conybeare, Trade wars, 160 ff.; zum Bananenkrieg: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 15.12.2009: »Einigung im Bananenstreit«, www.faz.net/aktuell/wirtschaft/wirtschaftspolitik/internationaler-handel-einigung-im-bananenstreit-1893176.html; zu ähnlichen Konflikten im 19. Jh. und unter dem GATT- und WTO-Regime Douglas A. Irwin, Free Trade under Fire, 2. Aufl., Princeton 2005, 231 ff.
24) Text des Abkommens: www.ukpandi.com/fileadmin/uploads/uk-pi/Latest_Publications/Circulars/2015/iran_joint-comprehensive-plan-of-action.pdf.
25) Vgl. Lewis Carroll, Through the Looking-Glass, and What Alice Found There, Kapitel 6.
26) Nils Ole Oermann, Wirtschaftsethik, 2. Aufl., C. H. Beck Wissen, München 2018.
27) Als Überblick der Theorien zum »Gerechten Krieg« vgl. D. R. Brunstetter/C. O’Driscoll (Eds.), Just war thinkers. From Cicero to the 21st century, Abingdon 2018. Zum Verständnis der jeweils eingenommenen Positionen vgl.: N. Biggar, In Defence of War, Oxford 2013; M. Walzer, Just and unjust wars. A moral argument with historical illustrations, New York 1977.
28) Vgl. etwa: Cicero, De re publica, III 23, 34 f.
29) Martin Luther, Weimarer Ausgabe (WA) 19, 623–662.
30) M. Albright in der CBS Sendung »Punishing Saddam« vom 12.05.1996, in: www.youtube.com/watch?v=xYXK7uh93Uo; D. Rieff, »Where the sanctions right?«, in: New York Times vom 27.07.2003, www.nytimes.com/ 2003/07/27/magazine/were-sanctions-right.html.
31) »Trumps claims US is winning trade war with China«, in: Financial Times vom 05.08.2018, in: https://www.ft.com/content/a0fdaa32-986b-11e8-ab77-f854c65a4465.
32) Für den Zusammenhang zwischen Risiko und ethischer Verantwortung vgl. Hans Jonas, Das Prinzip Verantwortung, Frankfurt a. M. 1979.
33) A. Claire Cutler, Critical reflections on the Westphalian assumptions of international law and organization: a crisis of legitimacy, in: International Po-litical Economy, vol. 4, 2008, 326–45.
34) Vgl. dazu auch: Marco J. Fuchs, Die Lehre vom gerechten Krieg im Mittelalter: Thomas von Aquin, in: I.-C. Werkner/K. Ebeling (Hrsg.), Handbuch Friedensethik, Berlin/New York 2016, 239–49.
35) Jürgen Bacia/Dorothée Leidig, ›Kauft keine Früchte aus Südafrika‹: Geschichte der Anti-Apartheid-Bewegung, Frankfurt a. M. 2008.
36) Douglas Booth, The race game: Sport and Politics in South Africa, London/Portland, OR, 1998.
37) Christopher Clarke, The Sleepwalkers. How Europe went to war in 1914. London 2012.