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Ausgabe:

April/2019

Spalte:

374–376

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Müller, Sigrid

Titel/Untertitel:

Theologie und Philosophie im Spätmittelalter. Die Anfänge der via moderna und ihre Bedeutung für die Entwicklung der Moralphilosophie (1380–1450).

Verlag:

Münster: Aschendorff Verlag 2018. 375 S. = Studien der Moraltheologie. Neue Folge, 7. Kart. EUR 48,00. ISBN 978-3-402-11928-0.

Rezensent:

Karl-Hermann Kandler

Die vorliegende Habilitationsschrift von Sigrid Müller ist das Er­gebnis zweier Forschungsprojekte und widmet sich »der weitgehenden Lücke in der Forschung zur Geschichte der Moraltheologie des 15. Jahrhunderts«. Sie zeigt, dass es in dieser Zeit »entschei-dende Veränderungen in der Lehre der Ethik an den Universitäten« und ebenso »im theologischen Selbstverständnis« gab. Das zentrale Anliegen »der so genannten ›nominalistischen Theologie‹ der via moderna […] ist eine Rückbesinnung der Theologie auf das ihr Eigene in Inhalt und Methode«, nicht »zur Vorstellung eines Willkürgottes«, »sondern zu von Menschen geprägten Formen der Gebote- und Sakramentenmoral« und zu »eher individuell-spirituell klassifizierbaren ethischen Modellen« (11–13). Die oft hervorgehobene Gegnerschaft zwischen via moderna und via antiqua müsse relativiert werden, ebenso auch die Polarisierung in der Philosophie zwischen Ockham und Thomas von Aquin. »Entscheidend war die Frage nach dem Verhältnis von Theologie und Philosophie bzw. nach geoffenbarter Glaubensgrundlage und natürlicher Vernunft« (20–22).
Im Kapitel »Grundfaktoren der Entstehung der via moderna: ›Augustinische‹ Theologie und nominalistische Philosophie am Beispiel Pierre d’Aillys« (25–90) wird betont: Philosophisch prononciert habe er »einen Nominalismus und in seinen polemischen theologischen Schriften die Position einer sich gegenüber der Einmischung der Philosophie abgrenzenden Theologie« vertreten (27). Deutlich wird dies anhand seines Streites mit (dem heute weithin unbekannten) Johannes de Montesono OP. Hatte dieser behauptet, dass »nichts wahr genannt werden dürfe, was der Bibel widerspreche«, so betont d’Ailly, dass die Bibel »nicht in jedem möglichen Sinn wahr (sei), sondern nur in dem Sinn, der durch den Heiligen Geist verständlich wurde« (45). Wahre Sätze könnten verurteilt werden, »wenn sie zu einem falschen Glaubensverständnis führen würden« (58). Es bedürfe einer Hermeneutik, um zwischen einer geoffenbarten Glaubenswahrheit und einer plausiblen Wahrheit philosophischer Aussagen zu unterscheiden. Sie müsse der Intention des Hl. Geistes entsprechen (72). Er beschränkte den Geltungsbereich der Philosophie auf das irdische Leben; sie wird damit unabhängig von der Offenbarungstheologie (doch unterscheidet schon Dietrich von Freiberg die scientia divina philosophorum von der nostra divina sanctorum scientia, Op. omnia III, 280). Für d’Ailly steht fest, dass die Vernunft nicht für die theologische Wahrheit bürgen kann. In Glaubensfragen muss die Philosophie die größere Kompetenz der Theologie anerkennen (81.84.86). Die Spaltung in via moderna und via antiqua bestünde in divergierenden Prinzipien theologischer Hermeneutik (90).
Demgegenüber kritisiert Johannes Capreolus als überzeugter Thomist die theologischen Methoden der moderni als Kompetenzüberschreitung im Namen der Theologie (91–179), vor allem bei Gregor von Rimini, Adam Wodeham und Ockham (dessen Ansichten er wohl nur aus zweiter Hand kannte). Es ging dabei um die Frage der Wissenschaftlichkeit der Theologie: »Selbst wenn die Prämissen der Theologie nicht allen Menschen einsichtig seien, so sei doch das gesamte theologische Verfahren wissenschaftlicher Art«. Während Gregor und Jean Gerson sie vor allem als praktische Wissenschaft ansahen, so Capreolus »in erster Linie (als) eine spekulative Wissenschaft« (104 f.). Im Streit mit Wodeham ging es um den »Primat des Verstandes, dessen Entschluss der Wille folgen musste« (135). Ockham kritisiert er wegen dessen Behauptung, »dass Dinge nicht ausgesagt werden konnten, sondern nur Worte« (147). Die moderni beschuldigte er, sie trügen zuviel Theologie in die Philosophie und »verwendeten die göttliche Allmacht als Argument in philosophicis« (170); sie wendeten Glaubenssätze in Bereichen der Naturphilosophie an, die doch der natürlichen Vernunft zugehörten.
Der theologischen Praxis wandte sich Jean Gerson zu (181–254). Er wurde zu seiner Zeit als Nominalist angesehen, doch sprechen seine Schriften eine andere Sprache, er versuchte vielmehr zwischen beiden viae zu vermitteln. M. spricht von einem »philosophischen Synkretismus« bei ihm, die praktische Theologie hätte vor der spekulativen Vorrang eingenommen. Er wollte »unnötige Debatten aus der Welt (zu) schaffen« (181 f.), auch gegenüber den Hussiten. Deren Verurteilung bejahte er, weil sie »an den Grundlagen des christlichen Glaubens rüttelten« (243). Die Mystik kritisierte er und hielt die Logik als Grundlage der Wissenschaften für nötig, sie dürfe aber nicht zum Selbstzweck werden. Wichtiger war ihm die praktische Theologie für das Glaubensleben, vor allem als Kontemplation, als »intellektuelle Schau Gottes«, deren »Ziel sei es, die Seele zu erbauen« (211.250). Er widmete sich darum auch der konkreten pastoralen Tätigkeit. Moralische Gebote sah er als Teil der Offenbarung (229). Gersons Schüler brachten sein Theologieverständnis nach Wien, er blieb für die Theologie des 15. Jh.s wegweisend (209).
Schließlich fragt M., ob die »via moderna dazu beigetragen (hat), dass die Entwicklung der Moraltheologie stagnierte«, da sie zur Vernunft eine kritische Distanz einnahm (255 f.). Dem geht sie an­hand von Buridans Ethikkommentar (259–277), dem Sentenzenkommentar des Marsilius von Inghen (277–302) und den Wiener Ethikkommentaren (302–324) nach. Buridan habe eine rein säkular verständliche Ethik entwickelt. Sie diente dann den Wiener Theologen als Grundlage, ihr Spezifikum ist die »Verschränkung von Willens- und Vernunftstreben und die freie Selbstbestimmung« (259). Er schließt »eine offenbarungstheologisch begründete Antwort auf die ethische Frage nach dem besten Handeln aus«, »hebt den Einzelnen gegenüber dem Allgemeinen« hervor und verzichtet auf eine Letztbegründung des Sittlichen in Gott (273). Dies hatte später Einfluss auf die Ethik in der Renaissance, zunächst aber auf Marsilius von Inghen und besonders auf Wiener Theologen. Das Ziel der Theologie als praktische Wissenschaft sei im Doppelgebot der Liebe zusammengefasst, damit der Mensch glücklich werde – in der Schau Gottes (285.293.297). Buridans Konzept der Selbstvervollkommnung wird bei Marsilius theologisiert (302). Für die Wiener ist Buridans Ethikkommentar Grundlage für ihre Vorlesungen, auch für sie ist die Ethik die übergeordnete Wissenschaft (311 f.). Wenn Aristoteles indirekt rezipiert wird, so sehen sie ihn doch häufig als heidnischen Philosophen und grenzen sich von ihm ab.
Zusammengefasst: Das zentrale Motiv für die Spaltung von via antiqua und via moderna ist die Frage nach der Verwendung der Philosophie in der Theologie. Die via moderna ging philosophischerseits von den Denkern aus, die einen neuen Weg der Aristotelesinterpretation einschlugen, theologisch aber trug sie konservative Züge (326). Die »oftmals an die Ockhamrezeption geknüpfte Entwicklung zur Reformation« müsse »in einen breiteren Kontext gestellt« werden, denn »das sittlich gute Handeln (war) nicht mit der Zusage des jenseitigen Heils verbunden« (337). Eine »Glaubensethik« sei heute nötig, die sich nicht nur in philosophisch-ethischer Sprache äußert (344).
Die Studie ist gründlich und gewissenhaft erarbeitet, die (oft ungedruckten) Quellen sind reichlich zitiert. Man wird künftig an ihr nicht vorbei gehen können, wenn über die Theologie des Spätmittelalters geurteilt wird. Handschriften- und Literaturverzeichnis sind beigegeben, ebenso ein (unvollständiges) Namenregister.