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Ausgabe: | April/2019 |
Spalte: | 339–343 |
Kategorie: | Kirchengeschichte: Reformationszeit |
Autor/Hrsg.: | Hrsg. im Auftrag d. Zwinglivereins Zürich unter d. wissenschaftlichen Leitung d. Instituts f. Schweizerische Reformationsgeschichte an d. Universität Zürich v. D. Bolliger. |
Titel/Untertitel: | Huldreich Zwinglis Sämtliche Werke. Bde. 15–21. |
Verlag: | Zürich: Theologischer Verlag Zürich 2013. Bd. 15: Exegetische Schriften, Bd. 3: Altes Testament – Prophet Jesaja (Parallelüberlieferung zu Bd. XIV). 446 S. = Corpus Reformatorum, 102. Geb. EUR 153,00. ISBN 978-3-290-17586-3. Bd. 16: Exegetische Schriften, Bd. 4: Altes Testament – Prophet Jeremia (Parallelüberlieferung zu Bd. XIV u. XV). 326 S. = Corpus Reformatorum, 103. Geb. EUR 110,00. ISBN 978-3-290-17587-0. Bd. 17: Exegetische Schriften. Bd. 5: Neues Testament – Evangelien nach Matthäus und Markus. 434 S. = Corpus Reformatorum, 104. Geb. EUR 153,00. ISBN 978-3-290-17588-7. Bd. 18: Exegetische Schriften. Bd. 6: Neues Testament – Evangelien nach Lukas und Johannes sowie Evangelienharmonie. 500 S. = Corpus Reformatorum, 105. Geb. EUR 170,00. ISBN 978-3-290-17589-4. Bd. 19: Exegetische Schriften. Bd. 7: Neues Testament – Evangelien nach Matthäus, Markus und Johannes (die eine Parallelüberlieferung zu den Bänden XVII, XVIII und XX). 564 S. = Corpus Reformatorum, 106. Geb. EUR 196,00. ISBN 978-3-290-17590-0. Bd. 20: Exegetische Schriften. Bd. 8: Neues Testament – Evangelium nach Matthäus (die andere Parallelüberlieferung zu den Bänden XVII und XX). 280 S. = Corpus Reformatorum, 107. Geb. EUR 102,00. ISBN 978-3-290-17591-7. Bd. 21: Exegetische Schriften. Bd. 9: Neues Testament – Briefe nach der von Leo Jud veranstalteten Erstausgabe, erschienen bei Froschauer 1539, und Juds Notizen zum Jakobusbrief. 588 S. = Corpus Reformatorum, 108. Geb. EUR 205,00. ISBN 978-3-290-17592-4. |
Rezensent: | Volker Leppin |
Nicht nur die Weimarer Ausgabe der Werke Luthers ist an ihr Ziel gekommen, 2013 hat auch die Edition der Werke Zwinglis im Rahmen des Corpus Reformatorum – und damit auch dieses selbst – den lange angestrebten Abschluss gefunden. Echte Jahrhundertwerke sind da entstanden, an denen sich auch der Wandel der Förderungspolitik für solche geisteswissenschaftlichen Großunternehmen ablesen lässt. Die letzten sieben (!) Bände sind unter einem erkennbaren Druck erschienen, den die Herausgeber auch selbst thematisieren: »Trotz verbleibender Unzulänglichkeiten veröffentlicht der Zwingliverein die vorliegende Fassung in der Absicht und der Überzeugung, der Reformationsforschung so besser zu dienen als durch einen Perfektionsanspruch, der selbst bei gegebener Finanzierung den Druck um Jahre, wenn nicht gar Jahrzehnte hätte verzögern müssen«, heißt es im Vorwort zu den in einem Schwung 2013 erschienenen Bänden XV bis XXI der Werkausgabe, die die mit Band XIII begonnene und zum Zeitpunkt des Erscheinens dieser Bände seit einem halben Jahrhundert stockende Edition der Exegetica komplettieren (Bde. XV, X).
Diese Aussage ist nicht nur Ausdruck einer im heutigen Wissenschaftssystem selten gewordenen Bescheidenheit bei der Präsentation der eigenen Ergebnisse, sondern auch eines bemerkenswerten Realismus. Der Hintergrund für die Bemerkung liegt in einer komplizierten Vorgeschichte: Habent sua fata editiones. 1984 hat Max Lienhard, damals Gymnasiallehrer für die alten Sprachen in Zürich und später Lateinlektor an der Zürcher Theologischen Fakultät, die Verantwortung für die Veröffentlichung der Exegetica übernommen, die er dann im Ruhestand mit großer Energie und Akribie vorangetrieben und im Ehrenamt des Pensionärs inhaltlich zum Abschluss gebracht hat. Die Vollendung verhinderte ein Unfall, an dessen Folgen er 1999 als 75-Jähriger starb. Der Zwingliverein, der die Zwingli-Ausgabe betreute, stand nun mit einem gewaltigen Torso – 3000 Druckseiten – da, das wissenschaftlich hohes Niveau erreicht hatte, aber noch einer Abschlussbetreuung bedurfte, die zum Teil technischer Art, aber eben auch wissenschaftlicher Art war. Dass auch überaus sorgfältige Recherchen noch viele Fragen offenlassen, ist jedem vertraut, der mit Editionen zu tun hat. Und dass eigentlich nur der, der seine Notizen vorbereitet hat, weiß, wo Lücken zu stopfen, an welchen Stellen weitere Recherche durchzuführen ist, ebenso.
Durch die Kooperation mit dem Institut für Schweizerische Reformationsgeschichte ist es gelungen, dieses Projekt zu Ende zu führen, maßgeblich durch die selbstlose Tätigkeit von Daniel Bolliger, der die Notizen Lienhards durchging und in einem Maße überprüfte, wie es vertretbar schien. Auf dieser Basis liegen nun folgende Ausarbeitungen vor: weitere Parallelüberlieferungen zu den schon in Z XIV veröffentlichten Erklärungen zu Jes und Jer sowie zu Threni (XV f.), zu den Evangelien einschließlich von Synopsen zur Passions- wie zur Auferstehungsgeschichte (XVII–XX) sowie zu den Paulinen, bei denen leider neben Phlm und Eph auch Gal und die Pastoralbriefe fehlen, sowie zu Hebr, Jak und 1Joh (XXI). Sie alle sind mit textkritischen Apparaten versehen, die sowohl, soweit vorhanden, frühere Ausgaben berücksichtigen als auch Emendationen verzeichnen, die Lienhard vorgeschlagen hat. Ein großes Hilfsmittel für die Nutzung ist der kommentierende Apparat. Wie in den Werken Zwinglis gewohnt, wird zu deutschsprachigen Passagen, die es in den exegetischen Werken reichlich gibt, die doppelte Hürde der zeitlichen Distanz und des Zürcherdeutschen durch sprachliche Erklärungen gemindert. Zudem schlüsselt der Apparat insbesondere interne Verweise innerhalb des Zwinglischen Corpus a uf, zudem Belege aus der antiken Literatur, aus Bibel und Kirchenvätern. Ein besonderes Augenmerk hat Lienhard – wie auch seinem Beitrag hierüber in Zwingliana 18 (1990/91), 291–309, zu entnehmen ist – dabei auf die Benutzung des Erasmischen Novum Instrumentum gelegt. Was dies bedeutet, kann man etwa an der Deutung des λόγος in Joh 1,1 nachvollziehen. Der Apparat bietet hier nicht nur die entsprechende Stelle bei Erasmus, sondern auch eine zu Teilen hieran angelehnte Deutung von Bucer (XVIII,225) – in der Gesamtschau kann man sehen, dass Zwingli, der auch sonst vielfach auf einen Sprachgebrauch nach dem mos Hebraicus verweist, über Erasmus hinausgehend besondere Aufmerksamkeit auf den hebräischen Hintergrund gelegt hat, sonst aber vieles von Erasmus aufnimmt – an anderen Stellen schlicht im wörtlichen Zitat (299,12 f. mit Anm. 4). Dass Bolliger die Verweise von Lienhard nicht einfach übernommen, sondern kritisch überprüft hat, zeigt etwa die Auslegung von Joh 6,36: Lienhard hatte hier 1990 für den Zusammenhang von edere und credere noch Erasmus’ Annotationen, freilich auch Augustin angeführt, in der jetzigen Edition ist zur Erklärung Erasmus fortgefallen, dafür finden sich reichlich Verweise auf den Lombarden, aber auch auf Bucer und Melanchthon. Mit diesen Hinweisen kann nur angedeutet werden, in welchem Ausmaß die jetzige Edition die Dichte intellektuellen Austauschs im 16. Jh. erschließt.
Kern dieses dichten Geflechts ist, natürlich, Zürich, genau genommen: die Zürcher Prophezei: Im Blick auf die Entstehung der Texte orientiert sich Bolliger in seinem Nachwort zur Gesamtedition der sieben Bände an einem Schema, das in ihrer Dissertation über die Zürcher Bibel Traudel Himmighöfer für das Alte Testament entwickelt hat (XXI, 528 f.; Neues Testament, 531, zum Teil in Anschluss an Timothy Wengert). Aus ihm geht insbesondere hervor, wie die Ausarbeitungen der Auslegungen und nachfolgende Predigten aufeinander bezogen waren – mit der Schwierigkeit für die vorliegenden Quellen, dass in ihnen akademische Vorlesungen, P redigten und Vorgänge der Endredaktion ineinandergewoben sind (526). Die Quellenlage wirft hier mehr Fragen auf, als sie zu beantworten vermag: Vorlesungen und Predigten sind kaum auseinanderzunehmen, und mehr noch: Man wird fragen dürfen, in welchem Ausmaß man es bei diesen Texten eigentlich mit Werken Zwinglis zu tun hat – nicht nur, weil sie den Mitschriften anderer folgen und noch einer gleichfalls durch andere (im Falle des Neuen Testaments »konsequent durch Leo Jud« [530]) vorgenommenen Redaktion unterzogen wurden, sondern auch, weil schon die Entstehung im Rahmen der Prophezei nicht den einzelnen Autor in den Mittelpunkt rückt, wie sich schon daran zeigt, dass gelegentlich von Zwingli in der dritten Person die Rede ist (XIX, 184,14). Es wäre naiv, hier einzelne Stimmen scheiden zu wollen, aber insgesamt scheint das kooperative Element stärker gewesen zu sein, als es die Aufnahme in die Werke Zwinglis auf den ersten Blick erkennen lässt.
Neben solchen Fragen der Entstehung und Verfasserschaft bieten die jetzigen Editionen natürlich auch eine Fülle an inhaltlichen Hinweisen und Anregungen. Auffällig ist, wie oft Zwingli auf den Gedanken der Verwerfung des jüdischen Volkes und die Erwählung der Heiden zurückgreift. In Jer 66,7 (XV, 226,3 f.) sieht er dies schon prophezeit, und in der Auslegung des Neuen Testaments setzt er dies fort, klassisch natürlich in dem Gleichnis von den bösen Weingärtnern (XVII, 277,16 f.), aber auch an vielen anderen Stellen. Trotz dieser deutlichen antijudaistischen Spitzen hatte er kein gänzlich undifferenziertes Bild vom Judentum. Zu Mt 22,1–14, dem Gleichnis von der königlichen Hochzeit, das er traditionsgemäß allegorisierend heilsgeschichtlich deutet, betont er, dass »et nolebant venire« nicht bedeute, dass gar kein Jude zum Fest, d. h. zur Kirche gekommen sei, vielmehr sei dieser Satz im Sinne der Synekdoche zu verstehen (XIX, 233,26–33). Hier stutzt der Leser natürlich, denn ebendieses Stilmittel, nach welchem eine Gesamtheit angesprochen ist, um einen signifikanten Anteil daran zu benennen, hatte bekanntlich Luther zur Erklärung von »Hoc est corpus meum« gegen Zwingli verwandt. Zwingli kann es also zur Erklärung des Bibeltextes heranziehen, wenn er es auch im Zusammenhang des Abendmahls abweist.
Dieses selbst spielt übrigens auch an den einschlägigen biblischen Stellen eine auffällig geringe Rolle. Zwingli nutzt die Abendmahlsworte nicht zu langen Exkursen, sondern verweist auf die hierzu geschriebenen »iusti libri«, deren Essenz er in seiner Auslegung des Ersten Korintherbriefes knapp wiederholt. Dabei zeigt er die Variabilität seiner Begrifflichkeit. Einerseits fällt das Stichwort der figura (XXI, 157,2–28). Andererseits aber greift Zwingli auf den schon im Brief an Matthäus Alber (Z III,346) gebrauchten Gedanken der repraesentatio zurück, der in viel höherem Maße an mittelalterliche Auslegungen anschlussfähig war. Diese Hinweise mögen dazu helfen, die Einengung Zwinglis auf eine Luther entgegengesetzte Abendmahlslehre zu entspannen: Er zeigt sich als ein am biblischen Text orientierter, nach unterschiedlichen Konzeptualisierungen suchender Gelehrter, der genau in dieser Perspektive noch zu unterstreichen, ja in mancher Hinsicht zu entdecken ist.
Der erkennbare Gegner ist denn auch weniger Luther als das gemeinsame Gegenüber, die päpstliche Kirche, der Zwingli mit reichlich Polemik begegnet. »Wie bei Luther gleiten dabei antijüdische Spitzen und antipäpstliche ineinander: Juden wie altgläubige sind ihm etwa in der Auslegung der Blindenheilung diejenigen, die die klare Lehre sehen könnten, sie aber nicht erkennen, weil ihnen der innere Geist hierzu fehlt« (XVII, 118,10–18): Deutlich wird hier die Motivation für eine Bibelhermeneutik erkennbar, die auf die Erschließung der Schrift durch den Geist setzt. Den positiven Hintergrund für all dies bildet die christliche Freiheit (XXI, 81,24 f.). Deren Bedeutung für ein Verständnis der Reformation Zwinglis hat schon vor einiger Zeit Berndt Hamm hervorgehoben, hier wird es exegetisch unterstrichen, wie sich übrigens auch klare Formulierungen der Rechtfertigungslehre finden: »Nemo suis operibus, sua iustitia, suis meritis iustificatur, sed omnes iustificantur gratis per illius gratiam, quam exhibuit deus« zu (a. a. O., 25,15 f. zu Röm 3,24). Die Bedeutung der Werke findet Zwingli nicht im Vorfeld der Rechtfertigung, sondern in der Bewährung im Christenleben, wenn er etwa unterstreicht, dass Mt 25,11 nicht in dem Sinne zu verstehen sei, dass man sich um die Armen kümmern oder dies eben unterlassen könne: Der Hinweis auf die Armen, die die Glaubenden immer bei sich haben, sei vielmehr ein »praeceptum« (XVII, 112,28). In ähnlichem Sinne betont Zwingli, dass die aus dem usus theologicus folgende Einsicht, dass wir alle Sünder sind, nicht dazu führen solle, dass wir das Bemühen um Erfüllung der Gesetze aufgeben (XVII, 181,9–13).
Wiederum kann auch mit diesen Hinweisen nur angedeutet werden, dass Zwinglis Exegetica einen Bibeltheologen allerersten Ranges zeigen, dessen Bedeutung im Einzelnen noch zu entdecken ist. Angesichts dieser Fülle von Einsichten kann man den Herausgebern nur dankbar sein, dass sie das Wagnis auf sich genommen haben, die Edition in einem Zustand herauszubringen, dessen Unvollkommenheit sie selbst benennen – wer die überaus gründliche Edition der Annotationen von Zwinglis Randbemerkungen zu Werken von Duns Scotus und einigen Scotisten kennt, die Bolliger in seiner Dissertation vorgelegt hat, weiß, dass die entsprechenden Hinweise mehr als ein Lippenbekenntnis sind: Hier wurde bewusst und contre cœur gerafft und gekürzt. Es ist Rezensentenpflicht zu benennen, dass dabei manches fortfiel, das man nun und in Zukunft schmerzlich vermissen wird: Die einzelnen Bände verweisen anstelle der jeweiligen Einleitung auf ein zusammenfassendes Nachwort in Bd. XXI, das die ihm damit aufgebürdete Last nicht zu tragen vermag. Vor allem fehlen Register. Auch wenn zu hoffen ist, dass die nun edierten Bände in absehbarer Zeit die digitale Präsentation der Werke Zwinglis auf der Homepage des Instituts für Schweizerische Reformationsgeschichte ergänzen werden (http://www.irg.uzh.ch/static/zwingli-werke/index.php), sind solche Register auch im digitalen Zeitalter nur unter größten Mühen verzichtbar. Solche Register – zu Bibelstellen, benutzten Werken, Namen, Werken Zwinglis, um nur das Mindeste zu nennen – können ja durchaus in eigenen Bänden nachgeliefert werden. So ist es zu hoffen, dass das Institut für Schweizerische Reformationsgeschichte, das neben der Zwingli-Edition ja vor allem mit der Bullinger-Edition ein Flaggschiff der internationalen Reformationsgeschichtsforschung effizient und vorbildlich gestaltet, eine Förderung findet, um einen solchen Band zu erstellen.
Mit diesen Bemerkungen sollen die kritischen Einwände aber auch ihr Bewenden haben: In erster Linie ist hervorzuheben, dass die vorliegenden Bände reichlich Perspektiven für weitere Forschungen eröffnen – und dies in einer Zeit, in welcher zunehmend Exegesegeschichte als ein Feld theologisch orientierter Kirchengeschichte entdeckt wird. Die abgenutzte Formel »Nimm und lies« kann man angesichts der komplexen Materie kaum anwenden – aber es darf versichert werden, dass, wer diese Editionen in die Hand nimmt, Nutzen und Genuss auf das Angenehmste miteinander verbinden kann.