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Ausgabe: | März/2019 |
Spalte: | 241–242 |
Kategorie: | Christliche Kunst und Literatur |
Autor/Hrsg.: | Schubert, Benedikt |
Titel/Untertitel: | Bild, Affekt, Inventio. Zur »Johannespassion« Johann Sebastian Bachs. |
Verlag: | Frankfurt a. M. u. a.: Peter Lang 2017. 198 S. m. Abb. Geb. EUR 46,95. ISBN 978-3-631-67559-5. |
Rezensent: | Konrad Klek |
Dass Musikwissenschaftler theologische Traktate rezipieren und für die Erfassung der Wort/Ton-Relation in Johann Sebastian Bachs Werken fruchtbar machen, ist in letzter Zeit kaum mehr vorgekommen. Vielmehr scheint es der »Zunft«, die mit hermeneutischen Fragestellungen immer schon fremdelte, entgegengekommen zu sein, dass die diesbezüglich offensive Arbeitsgemeinschaft für theologische Bachforschung 2001 sich auflöste mangels Konsens über die Methodik. Damit schien sich die theologische Bach-Hermeneutik gleichsam von selbst erledigt zu haben.
Nun aber taucht quasi aus heiterem Himmel eine in Weimar abgeschlossene Dissertation über Bachs Johannespassion auf, die den Anspruch erhebt, einerseits durch Einbeziehung homiletischer (z. B. Luthers Hauspostille) und frömmigkeitsgeschichtlich relevanter Quellen (z. B. H. Müller) den historischen Verstehenskontext zu präzisieren und andererseits mit Bezug auf musiktheoretische Traktate der Zeit plausibel zu machen, wie Bach zur konkreten musikalischen Umsetzung seiner Textvorlage kommt. Aus den musiktheoretischen »Primärquellen« wird als »hermeneutisches Modell« die Trias »Bild, Affekt, Inventio« erhoben. Der Kompositionsprozess nimmt seinen Ausgang bei einem durch den Text vorgegebenen oder zu assoziierenden »Bild«, welches einen bestimmten »Affekt« evoziert, was in einer konkreten musikalischen »Inventio« umgesetzt wird als Grundentscheidung über Satzform und Besetzung, Satzcharakter in Tonart und Motivik usw. »Das erkenntnisleitende Interesse ist darauf gerichtet, die Erfindung – d as, was dem Komponisten zu Beginn des Kompositionsprozes-ses vorschwebte, einfiel und inspirierte – zu entschlüsseln oder schlicht ins Bewusstsein zu rücken.« (27 f.)
Während die »Wissenschaft« sonst vorrangig den Kompositionsprozessen, also der »elaboratio«, nachspürt und hier Bachs Meisterschaft zu ergründen versucht, hat dieser Ansatz auch speziell die Laien, zeitgenössisch »Liebhaber« genannt, im Blick. Denn der in der Inventio profilierte Affekt eines Musikstücks konstituiert die Rezeptionsebene für die Hörenden. Via Affekt, der sich auf die Rezipienten überträgt, kommuniziert die Musik ihre »Botschaft«, ohne dass Details der Satzverläufe nachvollzogen werden müssten.
So plausibel das ist, so ungewöhnlich ist es im derzeitigen Fachdiskurs – auch im Blick darauf, dass die sonst längst »abgehak-ten« Forschungsansätze von Philipp Spitta (1873/80) und Albert Schweitzer (1908) als Referenzgrößen ein Revival erleben. Es korreliert allerdings auch mit der Aufgabenstellung, die für jeden Musik Wiedergebenden primär bleibt, nämlich in Tempowahl, Dynamik und Artikulation den vom Komponisten intendierten Affekt eines Satzes zu treffen.
Gegenstand der Untersuchung ist Bachs Johannespassion in ihrem gesamten Verlauf mit besonderer Gewichtung der (zwei verschiedenen) Eingangschöre. Es gibt auch sachdienliche Seitenblicke zur Matthäuspassion und einzelnen Kantatensätzen unter der Voraussetzung, dass Bachs musikalische Diktion in verschiedenen Werken sich gegenseitig »auslegt«. An zwei Beispielen sei aufgezeigt, wie in der konkreten Durchführung Licht und Schatten sich die Waage halten.
Der große Choralchor »O Mensch, bewein dein Sünde groß« fand seinen Platz erst sekundär in der Matthäuspassion als Beschluss des ersten Teils, komponiert wurde er als Eingangschor für die zweite Fassung der Johannespassion 1725. S. erhellt zunächst den biblischen Deutungshorizont für die Liedstrophe mit Lk 23,27 f. (»Weinet nicht um mich, sondern um euch und eure Kinder«) und dessen Auslegung seit Luther, welche die Dialektik betont, dass dem Weinen die Freude über Christi Erlösungstat korreliert. Die den Satzcharakter bestimmenden schnellen Zweier-Sechzehntel-Figuren in Flöten wie Continuo werden in der Regel als Seufzer-Figuren des Weinens gedeutet. S. kann nun plausibel machen durch Verweis auf analoge Figuration in zwei Arien der Matthäuspassion, wo die inhaltliche Konnotation eindeutig positiv ist (»Erlösung/ Erbarmen«; »mein Herze rein«), und Bezugnahme auf die Affektenlehre, in der das schnelle Tempo eindeutig gegen den Leidensaffekt spricht, das Bach mit diesem »ideell-semantischen Kontrapunkt« in den Instrumentalstimmen deutlich macht: »Nicht um Jesus zu weinen, bedeutet zugleich eine freudige und zuversichtliche Haltung zum Ausdruck zu bringen.« (79)
Beim originären »Herr, unser Herrscher«-Eingangschor kommt S. über Luthers Übersetzung des (nicht vertonten) Vers 1 von Psalm 8 mit dem Stichwort »Kelter« auf den in der barocken Passionsemblematik zentralen Topos von Christus als Keltertreter (Jes 63,1–6), was als »Bild« den Gläubigen präsent war. Er sieht dies so umgesetzt, dass die Bläser die Kreuzbalken repräsentieren, die Sechzehntelbewegung der Streicher das (sichtbar) fließende Blut Christi, die repetierenden Achtel im Continuo Christi Keltertreten mit den Füßen. Gleich drei handwerkliche Fehler machen diese Deutung unmöglich: Erstens sind die Continuo-Achtel (nur im Violoncello!) nachweislich erst bei der Überarbeitung des Werks 1739 dazugekommen, waren also nicht Bestandteil der Inventio. Zudem markiert Bach das Keltertreten in anderen Werken (z. B. Orgelfuge h-Moll/ Pedal, Continuo in Arie BWV 43,7) mit einer spezifischen Wechselnoten-Figur. Zweitens ist die Streicherbewegung als Coronatio-Figur evident, die im Vokalsatz demgemäß mit »verherrlicht« belegt wird. Der Bildtopos von Christi Blut zeigt stets einen Abwärtsstrahl (s. das Cranach-Gemälde in Weimar). Drittens sind die laut J. G. Walther »traurig und wehmütig« konnotierten Querflöten (66) ebenfalls nicht Bestandteil der Inventio, sondern erst bei Fassung 3 des Werks den Oboen beigesellt. Wenn es ein Vor-»Bild« für diesen Satz gibt, dann ist das eher die Verbindung des Kreuzes mit der Kreuzerhöhung der Schlange, wie es dank Cranach dem Ex-Weimarer Bach vor Augen stand. (Der von M. Geck als Vor-Bild ins Spiel gebrachte Leipziger Cranach-Gnadenstuhl wäre auch nicht so abwegig, wenn er als Opfer reformatorischen Bildersturms damals nicht auf dem Dachboden der Nikolaikirche gelegen hätte.)
Wer sich aufs Gebiet der Hermeneutik begibt, wagt sich auf ein offenes Spielfeld, wo Gelingen und Misslingen, Einverständnis und Missverständnis oft nahe beieinanderliegen. Es ist eine Illusion, durch Bezug auf die genannten Referenzquellen »die Idee eines Stücks« »so weit wie möglich historisch objektiv zu erschließen« (187). Gewiss können so neue Ideen für die Erfassung der »Idee eines Stücks« gewonnen werden. Das ist respektabel und genug für die Anregung eines neuen Deutungs-Diskurses, der sich durch solch evidenten »Fehler« nicht erübrigen sollte.