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Ausgabe:

März/2019

Spalte:

231–234

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Tietz, Christiane

Titel/Untertitel:

Karl Barth. Ein Leben im Widerspruch.

Verlag:

München: C. H. Beck 2018 (2., durchges. Aufl 2019). 538 S. m. 50 Abb. Geb. EUR 29,95. ISBN 978-3-406-72523-4.

Rezensent:

Reiner Marquard

Die Autorin Christiane Tietz ist Professorin für Systematische Theologie in Zürich, gehört zum Beirat der Karl Barth-Stiftung in Basel und ist Mitglied in der Jury des Karl Barth-Preises. Das Buch ist ihrem Lehrer Eberhard Jüngel gewidmet. Alles in allem – sehr gute Voraussetzungen, sich in 14 Kapiteln ans Werk zu machen: Basel – Genf – Safenwil – Römerbrief I – Göttingen – Römerbrief II – Münster – Notgemeinschaft – Bonn – Basel 1935–1945 – Basel 1945–1962 – Kirchliche Dogmatik – Die letzten Jahre. Ein Epilog schließt das Buch ab, der Anhang enthält Zeittafel, Anmerkungen, Literaturverzeichnis und Personenregister.
Eberhard Buschs epochale Barth-Biographie erschien 1975. Da­mals lagen fünf Bände der Gesamtausgabe vor, mittlerweile sind es über 50 Bände. Die Fülle der in diesen Bänden zusammengetragenen Details wie die systematische Aufarbeitung des Archivmate-rials durch Hinrich Stoevesandt, Hans-Anton Drewes und Peter Zocher (429 – im Register irrtümlich 415) haben der nun vorliegenden Biographie hinreichend Material an die Hand gegeben, um Karl Barths Leben noch einmal und in Nuancen deutlicher hervortreten zu lassen.
T. gelingt es, mit ihrem Deutewort »Widerspruch« den Lebenslauf in seiner theologischen Rasanz zu erschließen. Wenn der Be­griff »Wort Gottes« als ein Synonym zum Begriff der »Gegenwart Gottes« gedacht wird, kann unsere Gegenwart nicht überhöht werden mit Heilszuschreibungen und Heilserwartungen, die rückbezüglich mit dem Gottesbegriff amalgamiert werden. Es war »das vertraulich-distanzlose Umgehen« mit dem biblischen Zeugnis von Christus (Die Theologie Schleiermachers, 146), das Barth in allen Wendungen seiner Theologie von Neuem beklagt und mit seinem Einspruch belegt hat. Insofern ist diese Biographie in ihrer systematisch-theologischen Präzision eine ganz und gar hilfreiche Darstellung der theologischen Existenz Karl Barths im biographischen Kontext!
Der Aufbau der Biographie folgt vorrangig dem Lebenslauf und wird aus gutem Grund unterbrochen durch wohldurchdachte theologische Einführungen in Barths Grundentscheidungen (insbesondere zum Römerbriefkommentar in der ersten und zweiten Fassung oder zur Kirchlichen Dogmatik). Nicht ganz nachvollziehbar ist die Einordnung des 7. Kapitels (Römerbrief II) nach der Göttinger Phase (Kapitel 6). T. hebt hervor, dass Barth sich auf die Anfrage zur Übernahme einer Honorarprofessur in Göttingen mit einer Predigt in der reformierten Gemeinde am 27. Februar 1921 vorstellte. Es handelt sich um eine Predigt zu Spr 16,2 (Predigten 1921, 51–61), die Barth bereits am 17. Oktober 1920 in Safenwil ge­halten hatte (Predigten 1920, 349–357). Inhaltlich war Barth bereits ganz und gar von der ersten Fassung seines Römerbriefkommentars auf seine zweite Fassung gewechselt. In der Predigt zu Spr 16,2 taucht erstmals der Begriff »Todeslinie« auf (354.356 bzw. 58.60), der zu einem Schlüsselwort der Zweiten Fassung avancierte (Der Rö­merbrief – Zweite Fassung – 1921, 777). Das bedeutet, dass sich Barth in Göttingen – wiewohl auf seine erste Fassung hin angefragt – mit dem Duktus seiner zweiten Fassung vorgestellt hat, so dass es nicht unlogisch gewesen wäre, die beiden Römerbriefkapitel (99 ff. 133 ff.) miteinander verbunden zu haben, um daraufhin die Göttinger Jahre (113 ff.) in den Blick zu nehmen. So aber entsteht leicht der von T. nicht beabsichtige Eindruck, als ob der Beginn in Göttingen noch überlagert gewesen sei von Denkformen der ersten Fassung.
Dass die Kirchliche Dogmatik (369 ff.) in einem eigenen Kapitel behandelt wird, ist angesichts der Monumentalität dieses Werkes angemessen. Kornelis Heiko Miskotte hatte die KD »Moby Dick« genannt (Über Karl Barths Kirchliche Dogmatik, ThEh 89, 10 f.) und Barth mit seinen »Kleine[n] Präludien und Phantasien« überrascht. »[I]ch lebe und denke viel unreflektierter als du«, antwortete ihm Barth und freute sich darüber, sich »von einem so geistreichen Mann so g eistvoll verstanden zu sehen« (Briefe 1961–1968, 4). Leider findet der bedeutende holländische Theologe, der zu den be­sonderen Freunden Barths gezählt werden darf, in dieser Biographie überhaupt keine Erwähnung. Pierre Maury hätte ein paar Zeilen mehr verdient. Unter der Überschrift des 11. Kapitels (»Wir, die wir noch reden können«) wurde der Briefwechsel zwischen Barth und Pierre Maury veröffentlicht: Nous Qui Pouvons Encore Parler. Im Vorwort zur Studie über die »Prädestination« von Maury klagt Barth nach dessen Tod: »Er fehlt mir. Ich hatte und habe noch gute Freunde. Aber ich habe in meinem Leben nur einen einzigen Pierre Maury gehabt« (Neukirchen 1957, 7). Beide befanden sich mit Barth in einem intensiven gedanklichen Austausch und Barth schätze an ihnen, dass sie jedenfalls keine Barthianer gewesen sind.
»Zahlreiche neu erschlossene Dokumente beleuchten weniger bekannte Seiten Barths.« Der Verlag rekurriert mit diesem Hinweis auch und gerade auf die Beziehung Barths zu Charlotte von Kirschbaum (Presse- und Lizenzabteilung), weswegen sich der Rezensent ausführlicher bei diesem Topos aufhalten muss: Die Dokumente sind 2000 (Briefwechsel Barth – Thurneysen III = ThIII) von Caren Algner und 2008 (Briefwechsel Barth – von Kirschbaum I = vKI) von Rolf J. Erler im Rahmen der Gesamtausgabe herausgegeben worden (beiden kommt das Verdienst zu, hier über viele Jahre geradezu entsagungsreiche Forschungsarbeit an der Herausgabe des Briefmaterials geleistet zu haben!). Nun also wird die sogenannte »Notgemeinschaft« (vgl. dazu bereits ThLZ 126 [2001] 5, 580–589) im biographischen Kontext (187–205.227–239.266–268.400–405.417) verortet und bedeutet. Irritierend ist der einleitende Hinweis im Vorw ort (14) wie auf dem Umschlag, Barth habe »mit Ehefrau und Geliebter unter einem Dach« gelebt. Charlotte von Kirschbaum hatte sich gegen jedwede »Gewohnheitserwägungen« (ThIII, 838) und alles »Gerede« (840) verwahrt. Das Reflexionsniveau war für sie an der theologischen Gewissheit orientiert, dass die Beziehung jedenfalls nicht einfach eine »Liebesbeziehung« (187), sondern Ehe genannt zu werden verdiente – zweimal gebraucht sie den Begriff – zuerst in Anführungszeichen »Ehe« (239), dann zuversichtlich und selbstbewusst ohne Anführungszeichen (ThIII, 837). Die Stelle als Ehefrau jedoch hielt Barth mit Nelly als besetzt und Lollo sollte die Rolle einer »liebe[n] unentbehrliche[n] Kameradin« übernehmen (vK I, 45).
T. resümiert im Hinblick auf die Notgemeinschaft zwischen Karl Barth und Charlotte von Kirschbaum eine »ähnliche Sicht« (238) in der Einschätzung der Lage. Es könnte aber sein, dass Charlotte von Kirschbaum Barths Ethikvorlesung von 1928 (I, 396.402. 404 ff.) theologisch ernster genommen hat, als dass sie sich öffentlich auf die Rolle einer Unterstützerin kleinreden zu lassen gedachte. Das persönliche Drama Charlotte von Kirschbaums ist als »Zeichen einer dementiellen Gehirnerkrankung« (403) vermutlich nur unzureichend erklärt (vgl. dazu z. B. E. Busch, Meine Zeit mit Karl Barth, 21: »Ich bin verzehrt von dem, was ich tags und nachts mit Karl zu arbeiten hatte …«). Der Dank an Charlotte von Kirschbaum in KD III/3 (VII) wird gerne – wie in der Biographie (235) – als Kompliment für ihre theologische Klugheit verstanden, er könnte aber auch gelesen werden als eine fortwährende Reduktion dieser besonderen Frau auf die Rolle einer Gehilfin: »Ohne ihre Hingabe und Betätigung wäre ja die ganze mittlere Zeit meines Lebens und Ar­beitens undenkbar gewesen.« (Briefe 1961–1968, 478) Entbehrt hat sie aber geradezu verzweifelt die »Freiheit in der Gemeinschaft« (so die Überschrift zu § 54 in KD III/4).
T. hätte als Lösungsansatz der Notgemeinschaft ein von der Liebe Christi analog zur Gemeinde bestimmtes Lebensmodell vorgeschwebt (417). Eine solche Argumentationsfigur überfordert jedoch die Notgemeinschaft in ihrer ja nicht auf jeweiliger Freiwilligkeit basierenden Zusammenkunft und unterschätzt ihre synergetischen wie konfligierenden Anteile, die sich nicht unter dem Begriff einer wirklichen Dreierkonstellation subsumieren ließen. Barths Anthropologie ist von der Erfahrung eigenen Versagens und eigener Schuld an dieser Konstellation mit bestimmt (vgl. z. B. Predigten 1921–1935, 287–295). An diesen Widersprüchen wird deutlich, dass die Barth- (und von Kirschbaum-)Forschung hier nach wie vor in den Anfängen steckt (zu Barths Verhältnis zu »seinen« vier Frauen Rösy, Nelly, Charlotte und einer Anonyma – zu der die Biographie unverständlicherweise schweigt – vgl. E. Busch, Meine Zeit mit Karl Barth, 417–419 u. ö.).
Die Bedeutung von Charlotte von Kirschbaum besteht nicht zuerst in ihrer großartigen Wirkung auf Karl Barths Theologie, sondern in ihrer Existenz als Frau im Leben Karl Barths – das eine freilich nicht abgekoppelt vom andern, aber doch in rechter Vor- und Nachordnung. Die Kritik, die T. (351) an Barth im Hinblick auf dessen Voten (und damit zusammenhängende Äußerungen) in der Kommission »Leben und Arbeit der Frauen in der Kirche« (Amsterdam 1948) verständlicherweise ausführt (Barth insistierte auf Eph 5,21 ff.), entspricht im Tenor Charlotte von Kirschbaums 1951 veröffentlichter Studie »Der Dienst der Frau in der Wortverkündigung«, die ein Plädoyer für die Berufung der Frau in das nicht länger schweigende, sondern notwendig redende Amt der Verkündigung ist (ThSt 31,17). Charlotte von Kirschbaum ist hier mit Barth über Barth hinausgegangen. Auch die kürzlich in der Uni-Bibliothek Basel durchgeführte Ausstellung (Dez. 2018–März 2019) zu Barth bediente zu Charlotte von Kirschbaum das gewohnte Klischee der Barth »unentbehrlich zur Seite stehende[n] getreue[n] Mitarbeiterin« (KD IV/4, VIII – Ausstellungsbroschüre, 13). Karl Barth-Archiv (Peter Zocher, Hans-Anton Drewes), Karl Barth-Stiftung (Niklaus Peter) und Nachlasskommission Karl Barth (Dieter Zellweger) haben das Projekt nach Kräften begleitet und seinen Fortgang wohlwollend verfolgt und der Sache nach gefördert (423). Diese Unterstützung wird dann auch die Abschnitte über das Verhältnis Barth – von Kirschbaum betroffen haben.
Eberhard Busch hat mit der durchaus ambivalenten (vgl. ThLZ 136 [2011] 10, 1074–1076) Veröffentlichung seiner Tagebuchaufzeichnungen 2011 einen Blick auf diesen Topos gerichtet, der zu Kurskorrekturen in der gewohnten Barth-von Kirschbaum-Exegese Anlass geben sollte. Barth hatte Busch anvertraut, dass in seiner (dann wieder abgebrochenen Arbeit an einer) Autobiographie das sicher spannendste Kapitel »›Über Frauen‹ – oder einfach ›Frauen‹« sein werde. »Er habe – so Barth – da ein ganzes Drama zu erzählen« (Meine Zeit mit Karl Barth, 228). Doch die Tagebuchaufzeichnungen von Busch werden allgemein in einer Anmerkung (403) erwähnt, ohne dass sie als Resonanzboden für die Biographie nutzbar gemacht worden wären. Es ist wenig hilfreich, einem theologisch und traditional orientierten Deutemuster in dieser Frage zu folgen, ohne sich pathologische Beimengungen (z. B. Stichwort Anonyma) einzugestehen. Ein bisschen mehr Distanz zu Basel wäre vermutlich in dieser Sache hilfreich gewesen, um »einen der faszinierendsten Denker des letzten Jahrhunderts neu (!, Rezensent) zu entdecken« (Umschlag).
Kommen wir zu einem guten Ende: Die Biographie zu Karl Barth ist auch im Widerspruch gegen die Behauptung geschrieben (418–420), Barths Theologie komme »einem absichtlich kultivierte[n] Verzicht auf wissenschaftliche Anschlussfähigkeit« gleich (Jörg Lauster). T. hält im Epilog ihres Buches ein überzeugendes Plädoyer für die Aktualität und Anschlussfähigkeit des kritischen Potentials von Barths Theologie, eben gerade nicht »in gesellschaftlichen und politischen Idealen und Mythen Göttliches, wenn auch verzerrt, aufscheinen zu sehen und das Engagement dafür als religiösen Auftrag zu begreifen« (419). Wer mit Barth seine theologischen Diskurslinien zu ziehen gedenkt, sei durch dieses Buch gewarnt, denn er wird in diesem Falle nicht ausschließen können, dass er im Hören des Wortes Gottes hier oder da zu einem evangelischen Widerspruch anzusetzen hat. Dieses Buch lehrt uns, dass Karl Barth billiger nicht zu haben ist.