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Ausgabe: | März/2019 |
Spalte: | 218–221 |
Kategorie: | Kirchengeschichte: Neuzeit |
Autor/Hrsg.: | Janssen, Veronika |
Titel/Untertitel: | »Ei ei, Herr Pastor, das ist ja eine ganz neue Religion!«. Die Adlersche Kirchenagende von 1797 zwischen Gemeinden, Predigern und Obrigkeit. |
Verlag: | Kiel: Solivagus Praeteritum Verlag 2017. 591 S. Geb. EUR 63,00. ISBN 978-3-9817079-7-7. |
Rezensent: | Martha Nooke |
Die zu besprechende Arbeit von Veronika Janssen, die 2003 an der Theologischen Fakultät der Christian-Albrechts-Universität Kiel als Promotionsschrift angenommen und von Johannes Schilling betreut wurde, bietet die erste monographische Untersuchung der Adlerschen Agende von 1797, die bis zur Einführung der preußischen Agende 1892 in Schleswig-Holstein in Gebrauch war. J. legt mit ihrer mikrohistorischen Untersuchung eine Pionierarbeit auf dem Feld der regionalen Agendengeschichte des 18. Jh.s vor. Ziel ihrer Untersuchung ist es, die »Wechselwirkung zwischen Predigern und weltlicher Obrigkeit zur Religiosität der Bevölkerung« (27) bei Einführung der Agende zu untersuchen.
Wer das Profil einer zeitgenössischen Frömmigkeit erheben will, steht vor einem erheblichen Quellenproblem, da nicht davon ausgegangen werden kann, dass das, was in liturgischen Büchern gedruckt wurde, auch wirklich in Geltung stand. J. erhebt die Frömmigkeit der Zeit aus etlichen schwer zugänglichen Archivalien (Briefwechsel, obrigkeitliche Verordnungen, Berichte von Predigern und Gesuche von Gemeinden, Prozessakten, Visitationsberichte, aber auch gedruckte Schriften zu liturgischen Fragen; vgl. 18–21) und bereichert damit die gottesdienstgeschichtliche Forschung mit neuem belastbaren Material.
In einem ersten Teil wird nach den allgemeinen Rahmenbedingungen (31–37) des Agendenstreits gefragt und dazu die »religiöse Bildung« (38–58) und die »Rolle und Situation der Prediger« (59–77) beleuchtet. Besonderes Gewicht legt J. hierbei auf die Frage nach dem Verhältnis von Aufklärung und Volksfrömmigkeit bzw. die theologische Ausbildung und Amtsführung der Geistlichen. Ein zweiter Teil widmet sich der Untersuchung der Adlerschen Agende selbst. Sachkundig wird die »Vorgeschichte und Entstehung der Adlerschen Agende« (78–105) rekapituliert und liturgische Vorarbeiten werden herangezogen. Recht knapp wird »Form und Inhalt der Adlerschen Agende« (106–131) skizziert und als Resümee einer theologischen Einordnung formuliert: Adlers Agende habe »die Grundlage der evangelisch-lutherischen Kirche in Schleswig-Holstein, Bibel und Confessio Augustana, verlassen« (131).
Der Hauptteil der Untersuchung befasst sich mit dem Streit um die Einführung der Adlerschen Agende. Eingangs liefert J. eine »Chronologie der Missverständnisse« (132–151) und arbeitet unter Heranziehung von Kanzleiakten und Korrespondenzen mit der dänischen Regierung und geistlichen Obrigkeit heraus, dass der gärende Widerstand gegen die Agende durch teilweise widersprüchliche obrigkeitliche Anordnungen, die letztlich die Einführung der Agende in das Belieben der Gemeinden gestellt hätten, angeheizt wurde. In Einzelanalysen werden »Zeitgenössische Druckschriften« besprochen (152–184) und das Verhalten der »Prediger« kritisch geprüft (185–205). Eine umfassende Untersuchung erfährt der »Agendenstreit dargestellt nach Gemeindegesuchen, Berichten der Prediger und obrigkeitlichen Untersuchungen« (206–308), was ergänzt wird durch »Stimmen aus dem Volk« (309–336). In diesen detail- und quellengesättigten Hauptabschnitten zeigt sich die unnachahmliche Stärke der Arbeit, eine Vielzahl der Forschung bislang unbekannte Stimmen aus staatlichen und kirchlichen Archiven zu erheben. J. macht damit etliche aufschlussreiche Quellen für die Frömmigkeitsgeschichte zugänglich und lockt zu weiterführenden kirchenhistorischen Untersuchungen. Nach bündigen Seitenblicken zu den »Folgen für die Gottesdienstgestaltung« (337–355) und »liturgischen Veränderungen in anderen Landeskirchen« (356–363) folgt resümierend ein umfangreiches Kapitel zu den »Faktoren, die zum Scheitern der Agende führten« (364–421), wo in einem Dreischritt die Rolle der weltlichen Obrigkeit, der Geistlichkeit und der Gemeinden beleuchtet wird. Ergänzung erfährt dies in einer Erkundung der Wirkkraft der publizistischen Auseinandersetzungen.
J. erhebt als Faktoren, die für die Ablehnung der Agende von entscheidender Bedeutung waren: die Vorgehensweise der Regierung bei Einführung und Veröffentlichung, das Verhalten der Prediger gegenüber der Obrigkeit und den Gemeinden, »das Fehlen des Kerns des lutherischen Christentums selbst, der Rechtfertigungslehre« (419), sowie die formalen und inhaltlichen Unterschiede zur bisherigen Liturgie. »Das Scheitern der Kirchen-Agende lag somit vor allem an der aufgeklärten Obrigkeit, die selbst, wenn schon nicht dem Christentum insgesamt, so doch der evangelisch-lutherischen Lehre entfremdet war« (420). In dieser obrigkeitskritischen Grundausrichtung scheint eine Tendenz J.s auf, sich mit dem einfachen Gemeindevolk zu solidarisieren, das Bevormundung durch d ie weltliche und geistliche Obrigkeit (die zudem »nur wenig Gemeindeerfahrung besaß«; 420) und befohlenen Traditionsabbruch ablehnte. Der »schon länger bestehende Prozess der Entkirchlichung durch die Aufklärung« sei »durch den Versuch, die Agende gegen den Willen der Bevölkerung durchzusetzen, erheblich beschleunigt« worden (421).
Abweichungen der neuen Lehre von der bisherigen lutherisch-orthodoxen werden vor allem in den Formularen für die Tauf-, Beicht- und Abendmahlshandlung registriert, da hier das Fehlen der »Erlösungsbedürftigkeit des Menschen« (129) und der Notwendigkeit der Sündenvergebung deutlich zutage trete (54 f.418). In dem neologischen Gottes- und Menschenbild (»kein auf Gottes Gnade und Vergebung angewiesener Sünder mehr, der täglich des Zuspruchs der Vergebung bedarf«; 131) sowie dem Fehlen altkirchlicher Dogmen und lutherischer Lehren vermutet J. den Hauptgrund für den Widerstand gegen die Agende, denn damit sei »die Glaubensgrundlage der evangelisch-lutherischen Kirche verschwiegen« (130). »Die Adlersche Kirchen-Agende reinigte den Gottesdienst auch vom Kern des lutherischen Bekenntnisses, der Rechtfertigung des sündigen Menschen aus Gnade um Christi willen« (131).
Dieses harsche theologische Urteil übersieht jedoch leicht die Leistung der Aufklärungsliturgik, angesichts der erodierenden Gottesdienstteilnahme und des Ansehensverlustes einzelner Religionshandlungen die Abkehr von den gottesdienstlichen Handlungen wieder einzufangen. Wie schon die älteren Liturgiehistoriker behauptet J., mit Adlers Kirchen-Agende sei »die altkirchliche, von Luther beibehaltene liturgische Tradition verlassen« (113), und zwar deshalb, weil die Verbindung von Wort und Sakrament aufgegeben sei und die Gottesdienstgestalt nun dem schlichten reformierten Gottesdienst ähnele. Aber J. irrt, wenn sie die Ermäßigung des sonntäglichen Hauptgottesdienstes von der angehängten Kommunionfeier als Preisgabe der »lutherischen Messe« einordnet. Wegen der eingebrochenen Kommunikantenzahlen entfielen die Abendmahlshandlungen sowieso ständig. Formal wurde auch von Adler die übliche Form der Deutschen Messe im Abendmahlsteil beibehalten. Die gesonderten Gebetsformulare und Perikopen für »Communiontage«, die Adlers Agende bereithält, illustrieren die verblüffend konsequente Zuordnung der Abendmahlshandlung zur Wortverkündigung: Alle gottesdienstlichen Stücke – inklusive der Predigt! – sollen auf das Abendmahl hingeordnet sein und dadurch dessen Würdigkeit und Zweckmäßigkeit steigern.
Der Untersuchung ist ein umfänglicher, dreiteiliger Anhang beigegeben, der die weitere kirchenhistorische Forschung stimulieren wird: I. eine Liste mit Angaben zu allen 367 Kirchspielen in Schleswig-Holstein um 1800 (Propsteizugehörigkeit, Namen und Amtszeit der Prediger, Einkünfte, Vorgänge während der Agendeneinführung, Verweis auf archivalische Quellen; 431–530); II. Beispieltexte aus der Kirchen-Agende (531–535); III. Obrigkeitliche Verordnungen (539–541). Ein Quellen- und Literaturverzeichnis und ein Ortsregister schließen den Band ab. Wünschenswert wäre ein Sachregister gewesen, das die zielgenaue Erschließung des Bandes erleichtert hätte. Umständlich erscheint, dass jede einzelne Abschnittsüberschrift mit einem titelgebenden, selten besonders aufschlussreichen Zitat garniert ist, was die schnelle Erschließung der Inhalte eher verkompliziert.
Diese Monenda schmälern jedoch keineswegs die Leistung J.s, die Umstände und Motivationsgründe für den Agendenstreit in Schleswig-Holstein Ende des 18. Jh.s luzide und grundlegend untersucht zu haben. Für das umfassende Bild einer protestantischen Gottesdienstgeschichte sowie der sozialen Bedingungsge-füge kirchenhistorischer Entwicklungen sind derartige mikroskopische Einzeluntersuchungen unerlässlich.