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Ausgabe:

März/2019

Spalte:

213–215

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Andreae, Johann Valentin

Titel/Untertitel:

Turbo, sive moleste et frustra per cuncta divagans ingenium (1616). Hrsg., übers. u. kommentiert v. H. Jaumann.

Verlag:

Stuttgart-Bad Cannstatt: frommann-holzboog 2018. 542 S. = Gesammelte Schriften, 8. Lw. EUR 228,00. ISBN 978-3-7728-1434-1.

Rezensent:

Martin Brecht

Neben dem angegebenen Titel in dieser Rezension besprochen:

Andreae, Johann Valentin: Reipublicae Christianopolitanae descriptio (1619) – Christenburg Das ist: ein schön geistlich Gedicht (1629). Bearb., übers. u. komm. v. F. Böhling u. W. Schmidt-Biggemann. Stuttgart-Bad Cannstatt: frommann-holzboog 2017. 515 S. = Gesammelte Schriften, 14. Lw. EUR 228,00. ISBN 978-3-7728-1442-6.


Die Theologiegeschichtsforschung ist an J. V. Andreae (1586–1654) zumeist und weithin vorbeigegangen, ohne dabei zu bemerken, was ihr zugleich dabei entgangen ist, nicht zuletzt an Erkenntnis, Witz und Spaß. Zwar war der Enkel des Schöpfers der Konkordienformel an sich bestens etabliert, aber sein Werk war an das zu seiner Zeit Gängige zu wenig angepasst, irritierend, wie gerade auch Kunst es sein kann. Zudem war an Andreaes Schriften nicht leicht heranzukommen. So blieb er vielfach den Außenseitern überlassen. S eit vor allem der Philosophiehistoriker W. Schmidt-Biggemann dankenswerterweise die Edition von Andreaes Gesammelten Schriften in Gang gebracht und es auch sonst erfolgreich Forschungen in diesem Bereich gegeben hat, wird dessen Werk samt allerhand damit verbundener Überraschungen mehr und mehr zugänglich. Eine ganze Reihe von Bänden mit wichtigen Textgruppen liegen in der Edition bereits vor. Hier können nunmehr vor allem zwei Titel angezeigt werden, die auch schon bisher nicht ganz unbekannt waren, aber sich gleichwohl dem Verstehen nicht ohne Weiteres einfach erschlossen. Für die bisweilen in einem eigenwilligen Latein verfassten Texte bedarf es heute zudem notwendig der beigegebenen deutschen Übersetzung. Diese kann für beide Werke trotz deren erheblicher sprachlicher Anforderungen als gelungen und angemessen bezeichnet werden, so dass der Witz auch noch beim weniger bedarften Leser ankommt.
Des als Schauspiel (ludibrium) zu bezeichnenden Turbo hat sich der Bielefelder und Greifswalder Germanist H. Jaumann angenommen. Er ist am Schluss auch der Aufführungsgeschichte nachgegangen, in der neben Altdorf nicht zuletzt Jan Amos Comenius in seinem Gymnasium in Lezno (Polen) auftaucht. Die in den späteren Texten auftretenden Textvarianten werden vermerkt. Noch nachträglich kann man dem Autor Andreae zu dem anregenden Titel nur gratulieren. Den Turbo hat der Held des Geschehens jedoch nicht, sondern der Wirbel ist er selber. Geboten wird rückblickend eine Bildungsgeschichte, wie sie Andreae selbst durchgemacht hatte und für ihn konstitutiv geworden war. Im Schlüsseltext der Studienberatung in der Mora philologica (1609) hatte er das bereits beschrieben (vgl. Ges. Schriften Bd. 2) und in diesem wesentlichen Zusammenhang ist auch der Turbo entstanden.
Der Schematismus des Lehrbetriebs in den artes liberales war Andreae ganz und gar zuwider und wird von ihm gekonnt mehrsprachig vorgeführt, so dass Leerlauf und Nonsens sinnlich hörbar werden. Andreae dreht ab und wendet sich nach Paris – der Stadt der Liebe. Sein Begleiter ist – erstmals im deutschen Theater – Harlekin, der seinen Herrn bisweilen auch leichthin überspielt, beispielsweise mit einem schwäbischen Liebeslied. Der unbeholfene Schwabe kommt in den Liebesdingen, wie zu erwarten, nicht zurecht. Immerhin war ein Problem berührt, das ansonsten ausgeklammert blieb. Das gilt auch für die nächste Option, von der die gängige Wissenschaft keine Ahnung hat. Turbo wirft sich nunmehr auf die Geheimwissenschaft der Alchemie. Am Ende kann Harlekin allerdings nur feststellen: Alles ist in Luft aufgegangen. Turbo ist nicht, wie bisweilen behauptet, ein Faustdrama, obwohl Andreae die Sage kannte. Turbo kommt zu seinem Ziel, der Heiterkeit des Himmels, der sich freilich mit seinen idealen allegorischen Statuen etwas steif präsentiert. Wie es belegbar sich in Andreaes Studienentwicklung 1611/1612 durch die Studienberatung von M. Hafenreffer vollzogen hat, ist das Ziel nicht theologische Weisheit, sondern die fromme Existenz, womit sich ein neues Kapitel der Kirchengeschichte öffnet.
Die orientierende Einleitung zur Beschreibung der Christianopolis stammt ihrem Stellenwert in Andreaes Werk entsprechend vom Hauptherausgeber Schmidt-Biggemann selbst. Die (etwas spärlichen) Anmerkungen hat auch in diesem Fall Frank Böhling beigesteuert. Mit der Christenstadt präsentierte sich Andreae, und das durchaus namhaft, als einer der Utopisten neben Thomas Morus (1516) und Tommaso Campanella (Sonnenstaat 1602). Der Herausgeber ordnet das Werk ausholend in die Geschichte des deutschen Protestantismus vor dem großen Krieg sowie in die Biographie Andreaes ein und kommt dabei ansprechend zu einer genaueren Verortung als bisher. Campanella mit seiner papstzentrierten Konzeption wurde gerade im Umkreis Andreaes und durch seine Freunde auch in Deutschland bekannt. Für Andreae konnte das aber nicht die Option für den Protestantismus sein. Ihm ist es um fürstlich regierte, kirchlich und sittlich wohlgeordnete Ge­meinwesen zu tun. Allem Anschein nach hat Andreae seine diesbezüglichen Hoffnungen auch noch später auf Gustav Adolf und die Schweden gesetzt. Man darf die Konkretion neben dem Modellcharakter auch nicht überschätzen. Die Christenstadt ist ausgerechnet Johann Arndt gewidmet und will dessen himmlischem Jerusalem entsprechen. Man gelangt zu ihr erst nach der Rettung aus einem Schiffbruch. Millennaristische Tendenzen finden sich dabei nicht. B ei und in aller Wohlgeordnetheit entkommt die Christenstadt dem Utopien eigenen Rigorismus nicht. Dazu gehört auch die praktizierte Sittenzucht. Auf die Leitung des kirchlichen und po-litischen Gemeinwesens nehmen auch die Ehefrauen der Amts-träger einen qualifizierten Einfluss, eine Reminiszenz wohl an Andreaes Mutter. Beeindruckend ist der breite Raum, der den Ausführungen über das System von Bildung und Wissenschaft samt den dazugehörigen Institutionen zuteil wird. Das ging über den Kanon der artes erheblich hinaus. Manches, wie die beispielsweise als selbstverständlich geltende Einbeziehung der Frauen oder die Verwendung von Illustrationen, ist durchaus fortschrittlich. An­dreae geriert sich dabei aber nicht als Aufklärer. Religiös überhöhte Sachverhalte wie mystische Zahlen oder die Theosophie werden durchaus berücksichtigt. Als präsentiertes Ziel eines Gemeinwesens sind die Beschreibungen instruktiv, nachdenkens- und immer wieder sogar bewundernswert.
Die Christenburg von 1626 kommt sprachlich als etwas grobes deutsches Gedicht daher. Das Format und Gewicht des vorangehenden Textes erreicht sie dabei nicht. Gegenüber der Christianopolis repräsentiert sie bereits durch den Krieg veränderte Verhältnisse des Protestantismus. Geschildert wird die Gefährdung des christlichen Gemeinwesens in Selbstsicherheit und durch Abfall. Gegenüber äußerer Bedrohung kann das nur in einer Niederlage enden. Durch Bußruf und Bekehrung gelingt doch noch die Wende, so dass am Ende eine retrospektive Persiflage von Luthers Ein feste Burg angestimmt werden kann. De facto hat der Protestantismus die Krise des großen Krieges überlebt, wenn auch nicht so heil, wie von Andreae erhofft. Immerhin hielt sich das Desiderium der Frömmigkeit durch. Die noch ausstehenden Bände der Edition werden das von Andreae Gewollte weiter illustrieren und übersetzen. Dem wünscht man darum einen guten Fortgang.