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Ausgabe: | Januar/2019 |
Spalte: | 102–104 |
Kategorie: | Philosophie, Religionsphilosophie |
Autor/Hrsg.: | Dalferth, Ingolf U., and Marlene A. Block[Eds.] |
Titel/Untertitel: | Hermeneutics and the Philosophy of Religion. The Legacy of Paul Ricoeur. Claremont Studies in the Philosophy of Religion, Conference 2013. |
Verlag: | Tübingen: Mohr Siebeck 2015. IX, 291 S. = Religion in Philoso-phy and Theology, 78. Kart. EUR 84,00. ISBN 978-3-16-153712-7. |
Rezensent: | Christian Polke |
2013 jährte sich zum hundertsten Mal der Geburtstag des großen französischen Philosophen Paul Ricœur. Sein Werk steht seit einiger Zeit verstärkt im Fokus auch der evangelischen Theologie, wie eine Reihe von Sammelbänden und Dissertationen eindrücklich belegt. Ricœur, der zu Lebzeiten als reformierter Christ in seiner eigenen Zunft eher die nicht selbst gewählte Rolle eines Außenseiters spielte – hinzu kam, dass er entgegen dem Chic der Zeit in seinen Interpretationen zu quellenah vorging und den Anspruch des Philosophen in der Vermittlung sah –, hat stets darauf Wert gelegt, in seiner Philosophie »agnostisch« zu bleiben. Das bedeutete allerdings nicht, dass das nicht-gläubige Denken nicht auch heute noch den Texten der Bibel und der Welt der antiken Mythen Wesentliches für sein eigenes Verstehen entnehmen könnte.
Vor diesem Hintergrund hat sich im Jubiläumsjahr eine Konferenz namhafter Theologen und Philosophen in Claremont mit verschiedenen Verbindungslinien von Religion, Hermeneutik und Theologie im Werk des französischen Philosophen beschäftigt. Das Ergebnis liegt in dem hier anzuzeigenden Sammelband vor, den Ingolf U. Dalferth, der dort lehrende ehemalige Züricher Dogmatiker und Religionsphilosoph, gemeinsam mit Marlene A. Block herausgegeben hat.
Der Band ist in drei Teile thematisch untergliedert. Ein erster beschäftigt sich mit Beiträgen von David Tracy, der Herausgeberin, Pamela Sue Anderson, Richard T. Livingston, Walter Schweidler und Nathan Greeley. Sie alle gehen den Verbindungen zwischen Ricœurs hermeneutischem Ansatz und der Frage nach der Religion bzw. dem Religiösen nach. Unter »Hermeneutics and Religion« (11–99) stehen werkgeschichtlich betrachtet vornehmlich die frühen Schriften zum Konflikt der Interpretationen sowie zur Phänomenologie der Schuld und das späte Hauptwerk über Gedächtnis, Geschichte und Vergessen im Mittelpunkt. Daran schließt sich unter der Rubrik »Philosophy and Biblical Poetry« (101–177) eine Reihe von Überlegungen zu Ricœurs Bibellektüren an, die zudem auch dessen Bemühen um eine nach-hegelsche Geschichtshermeneutik berühren (vor allem der Beitrag von Min: 143–168). Die Beiträge stammen von Carsten Pallesen, Ducan Gale, Anselm K. Min und Joshua Kira. Schließlich widmen sich die Aufsätze im dritten Teil dem Komplex von »Hermeneutics and Theology« (179–279). Ricœur wurde bekanntlich bereits in den 1970er Jahren von hermeneutischen Theologen rezipiert. Pierre Bühler geht dieser Verbindung mit Blick auf Gerhard Ebeling und unter der Perspektive einer anthropologisch formulierten Hermeneutik nach (181–195), während sich Nicola Stricker offenbarungstheologischen Facetten und Figuren im Denken Ricœurs widmet (209–224). Die übrigen Beiträge entstammen den Federn von Kirsten Gerdes, Eric E. Hall, Chris-tina M. Gschwandtner und Jeffrey C. Murico. Seinen Ursprungsort im dialogischen Konferenzgeschehen bezeugt der Band auch dadurch, dass die Texte stets paarweise responsorisch aufeinander Bezug nehmen. Dem Anlass und dem Autor, den sie würdigen wollen, ganz und gar angemessen, und für die Leserin auch zum Nachdenken anreizend.
Ricœur hat Hermeneutik weniger als eine philosophische Teildisziplin verstanden denn als eine grundsätzlich mit dem Philosophieren wie dem Leben verbundene Methodik des, auch und gerade, sich selbst Be-, Fragens in und durch kulturelle Formen und Symbolismen hindurch. Deswegen folgt sie auch nicht der typischen Frage-Antwort-Anordnung, wie sie in der Theologie vor allem durch Paul Tillich prominent wurde. Vielmehr gilt, wie Ingolf Dalferth in seiner Einleitung betont: »What are the questions, which this attempt of answering a given call or question, leaves unanswered? What are the questions to which this text gives rise?« (2) Von hier aus resultiert nicht nur Ricœurs Interesse am Unbewussten, an den Symbolen des Bösen, am Vergessen etc. Ebenso wird von hier aus die grundsätzliche Offenheit gegenüber anderen Symbolismen, wie denen der Religion, verständlich. Noch einmal mit Dalferth:
»Ricoeur slowed down the standard debates in philosophy of religion on God and evil, existence and divine attributes […] by asking questions about the questions we ask and the answers we give […] his hermeneutic philosophy of religion was a sustained practice of unearthing the hidden questions presupposed by our philosophical discussions, of showing that what we take for granted is often far from self-evident.« (4)
Die Fruchtbarkeit von Ricœurs hermeneutischem Denken zeigt sich darüber hinaus daran, wie divergent die verschiedenen Beiträge an es anknüpfen können. Drei Probebohrungen, je einer aus jeder Sektion des Bandes, sollen dies exemplarisch illustrieren: David Tracy verbindet seine Überlegungen (vgl. 11–34) zur Vielschichtigkeit der hermeneutischen Spannungsverhältnisse in Ricœur – den berühmten »Konflikt der Interpretationen« zwischen Strukturalismus und Psychoanalyse, Semantik und Semiotik, eidetischer Phänomenologie (à la Husserl) und kantischer Kritik etc. (vgl. 11 ff.) – mit dem eigenen Theorieansinnen, die Pluralität religiöser und konfessioneller Formationen zwischen »Manifestation and Proclamation« hermeneutisch wie strukturell verstehbar werden zu lassen (vgl. 21 ff.). Nicht weniger als Ricœur (vgl. u. a. 16.18) verbindet er damit auch das Anliegen, die Verbindungen von Hermeneutik mit Anthropologie und Ontologie jedenfalls nicht vorschnell zu kappen.
Während Tracys Vorgehen von einer Grundübereinstimmung mit Ricœur hinsichtlich der Herangehensweise an die kulturellen Phänomene des Religiösen getragen ist, widmet sich der zweite hier anzuzeigende Beitrag aus der Feder von Carsten Pallesen (vgl. 103–135) eher dem Bemühen, das Hegel-Erbe gegenüber den bekannten Kantischen Anliegen noch schärfer zu profilieren, als dies durch Ricœur selbst geschehen ist. Anhand des einzigen Referenztextes, in dem dieser sich mit Hegels Religionsphilosophie auseinandersetzt, kann P. zeigen, dass die Rekonstruktion von dessen Methode einhergeht mit der Verständigung über das eigene hermeneutische Vorgehen in Sachen Religion. Das wirft auch noch einmal ein anderes Licht auf das typisch Ricœursche Spezifikum einer Verschränkung von exegetisch angeleiteter Bibellektüre und philosophischer Religionshermeneutik: Ohne die Figurative der Vorstellung kann weder dem Begriff etwas zu denken aufgegeben noch das anfängliche Manifestieren überhaupt ergriffen werden. Überambitioniert bleibt der Text von P. gleichwohl, insofern er z. B. auch noch die Luhmann-Kritik an den Figuren der »Logik der Überfülle« und der »Ökonomie der Gabe« entkräften will (vgl. 133 ff.).
Demgegenüber fokussieren sich Nicola Strickers Überlegungen zum Offenbarungsverständnis bei Ricœur (vgl. 209–224) thematisch streng, indem sie sich auf wenige, zentrale Texte in der Interpretation konzentrieren. Hier zeigt sich, dass ein enger gefasster Zugriff auf das Werk eines Autors durchaus mehr Gewinn bringen kann als der Versuch einer integrativen Gesamtschau. Die Vfn. kann am Detail vorführen, inwiefern von Ricœur gelernt werden kann, wie ein protestantisches Schrift- und Offenbarungsverständnis der Wiederauflage der Aporien seiner eigenen Theoriegeschichte (Stichworte: psychologische Inspirationslehre, existentialistisches Kerygma-Verständnis etc.) entgehen und gleichwohl seine theologische Ausrichtung mit Blick auf Gott als ihrem »ultimativen Referenten« beibehalten kann. Weder bleibt bei Ricœur das Wortereignis rein formal, noch hängt seine Wahrheit primär an seiner Historizität. Vielmehr muss es sich in der Welt des fehlbaren homo capax in seinem polyphonen Sinn bewähren. Mag sein, dass dies so schon des Öfteren von anderer Seite dargelegt wurde, aber das ändert nichts an der in Sachen Prägnanz und Klarheit vorzüglichen Darstellung von Stricker.
So belegt der Band ein weiteres Mal den Facettenreichtum des Denkens wie des Werkes von Paul Ricœur. Alle Beiträge sind zudem von einer hermeneutischen Sensibilität wie Seriosität geprägt, die von Dankbarkeit für die Inspiration durch den französischen Philosophen zeugen. Dem stehen auch reflektierte Kritik sowie das Anliegen, auf selbständige Weise und aus eigener Überzeugung die Anliegen weiterzuführen, nicht entgegen. Wohl dem Autor, dem solche Rezipienten beschieden sind.