Recherche – Detailansicht
Ausgabe: | Januar/2019 |
Spalte: | 79–80 |
Kategorie: | Kirchengeschichte: Reformationszeit |
Autor/Hrsg.: | Wriedt, Markus |
Titel/Untertitel: | Scriptura loquens. Beiträge zur Kirchen- und Theologiegeschichte des Spätmittelalters und der Reformationszeit. Hrsg. v. A. Beutel u. D. Bohnert. |
Verlag: | Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2018. 573 S. Geb. EUR 88,00. ISBN 978-3-374-05590-6. |
Rezensent: | Karl-Hermann Kandler |
Anlässlich des 60. Geburtstages des Frankfurter Kirchenhistorikers Markus Wriedt erscheint dieser Band mit 19 Aufsätzen, die W. von 1991 bis 2018 verfasst und zumeist in Zeitschriften veröffentlicht hat. Ihm geht es um ein umfassendes Verständnis von Kirchengeschichte als »Inanspruchnahme des Christlichen im Verlauf der Geschichte«, vor allem während des Spätmittelalters und der Reformationszeit. Dabei handele es sich um ein Sprachgeschehen (15.18). Die Beiträge sind in fünf Kategorien unterteilt: Überlegungen zur historiographischen Methode, Rezeptionsgeschichte, Auslegung und Verkündigung, »Das heißt eine neue Kirche bauen«, Auswirkungen.
W. versteht Theologie als diskursive Wissenschaft und bemüht sich darum, sie als »globale Christentumsgeschichte« darzustellen, denn »Theologie ist ein rational geprägtes diskursives Kommunikationsgeschehen«. Sie »entsteht im Kontext von Bestreitungen des eigenen Wahrheitspostulats im Kontext mit der Würdigung von Glaubensinhalten« (81). Sie wurde nie »im Sinne einer Einheit verstanden und entwickelt«, sondern entstand stets im »produktiven Diskurs« (28). Um als Wissenschaft ernst genommen zu werden, brauche sie angesichts der ihr begegnenden außerkirchlichen Realität eine radikale Umorientierung – und zwar als Dialog mit anderen Christentumsformen und fremden Religionen (36 f.). Speziell Kirchengeschichte versteht W. als »Inanspruchnahme des Christlichen« in der Geschichte (45 f.). Der Diskurs darüber dürfte noch n icht beendet sein. W. sieht bereits in der Frühen Neuzeit, dass christliche (Gelehrten-)Netzwerke funktionieren, die »zur Stärkung konfessioneller Identität und kontroverstheologischer Po-lemik« miteinander kommunizieren, vor allem durch Briefkorrespondenzen mit Gesinnungsgenossen (88.93). Hier sei noch viel zu erforschen. Der Rezensent möchte dabei auch auf die Literarischen Gesellschaften der Zeit hinweisen.
Wichtig ist W. die Frage nach der Augustinrezeption. Die mittelalterlichen Autoren hätten Augustin häufig nicht direkt aus seinen Schriften gekannt, sondern vermittelt durch die Glossa ordinaria, die Sentenzen des Lombarden u. a. Darum sei ein für alle Zeit gültiges Augustinverständnis eine Fiktion (114.116). Augustin sei häufig zu Unrecht für die eigene Auffassung in Anspruch genommen worden (»Augustin totus noster«). Man berief sich auf ihn, weil er als »Siegel katholischer Orthodoxie« galt. Die hermeneutische Frage sei, mit welcher Intention er aufgenommen wurde (121). Ähnliches gilt für die Theologen der Augustiner-Eremiten einschließlich Staupitz und Luther. W. betont, Luther sei nicht durch Augustin zum Kritiker der Scholastik und in der Folge zum Reformator geworden (156). Kritisch beurteilt er den gegenwärtig wieder stärker behaupteten Einfluss der Mystik auf Luthers Theologie, wenn er auch mystische Terminologie und Motive benutzte. Bei Melanchthon sieht W., wie er sich zunehmend um den Konsens mit der (Alten) Kirche bemüht. Die Abendmahlsfrage wird ihm darüber hinaus zum Politikum. Er weist dabei der Institution Kirche und dem Ritus hohe Bedeutung zu. Die altkirchlichen Autoritäten werden ihm zum Maßstab der Schriftauslegung. M. E. werden die Änderungen im Wortlaut von CA X dabei heruntergespielt. Ein weiterer Aufsatz widmet sich der Bedeutung von Staupitz für Luthers seelsorgerliche Theologie, eine Zusammenfassung seiner Dissertation. Beiden geht es »um Trost für diejenigen, welche von der Sorge um ihr Heil angefochten werden« (217).
Im Abschnitt »Auslegung und Verkündigung« hebt W. hervor, dass biblische Predigt im Spätmittelalter durchaus anzutreffen ist, sowohl bei den Mendikanten als auch beim Pfarrklerus (»signifikante Förderung der Pfarrpredigt«) – übrigens in der Volkssprache. Wohl gilt Christus als Urheber des Heils, aber vor allem ist er ethisches Vorbild. In der Auseinandersetzung um die Geltung des Alten Testaments in der lutherischen Kirche nimmt er Stellung und betont die »bleibende Bedeutung der Schriften des Alten Bundes«, doch erschließe sich diese »nur im Licht der Botschaft des Neuen« (265.268). Weiter untersucht W. die Zionsvorstellungen. Luther bemüht sich um »philologisch korrekte Analyse« (294). Zion ist ihm »Inbegriff der in Gottes unermesslicher Barmherzigkeit begründeten Heilsverheißung« (302).
Zur Ekklesiologie legt W. vier Aufsätze vor, davon zwei in englischer Sprache. Warum sind sie nicht ins Deutsche übersetzt worden? Ihm ist Luthers Ekklesiologie »dawn of a new epoch« (320). Auch Luthers Lehre vom geistlichen Amt bzw. von der geistlichen Gemeindeleitung und der bischöflichen Administration wird untersucht: »Nichts lag Luther ferner, als eine theologische Innova-tion« oder »eine alternative Ekklesiologie zu entwerfen« (344 f.). In seinen Türkenschriften geht es Luther um Trost für den durch das Kriegsunglück betroffenen Christen. Er interpretiert die historischen Ereignisse mit Hilfe der biblischen Prophezeiungen (383).
Mit den Auswirkungen der Reformation befassen sich vier Aufsätze. W. versteht Luther selbst und seine Reformanliegen als konservativ. Den Vorwurf, er bringe Neues, weist er zurück und erhebt ihn vielmehr gegen die scholastischen Theologen. Sowohl ihm als auch Melanchthon lag es »völlig fern, eine neue Kirche gründen zu wollen« (409). Beide betonen zunehmend die Notwendigkeit des Rückbezugs auf die Tradition als unverzichtbares Instrument der Auslegung der Heiligen Schrift. In der Debatte um die rechte Reformationstheorie analysiert W. die vorgelegten Entwürfe und sieht s elbst die Reformation als »einen alle gesellschaftlichen, politischen, wirtschaftlichen, kulturellen Dimensionen erfassenden Wandlungsprozess. […] Die theologische Intention bestehe in einer allein auf die selbstevidente Autorität der Heiligen Schrift basierenden Rückbesinnung auf die Ursprünge.« Der theologische Impetus allein macht »noch keine Reformation«, bzw. »ohne Luther keine Reformation« (463–465). Zum Konzept der Konfessionalisierung gehöre als Thema die Konfessionskultur mit ihrer Inanspruchnahme Luthers. W.s Ansicht nach sind Visitationsprotokolle und Postillen oft wenig aussagekräftig. Sie vollzieht sich jedoch »auf der Ebene alltagspraktischer Umsetzungen reformatorischer Grundüberzeugungen« (491). Schließlich stellt er fest, dass die »Re-Konstruktion konfessionell eindeutiger Bildungslandschaften […] alles andere als abgeschlossen« ist und fordert hinsichtlich der Konfessionskultur eine stärkere Berücksichtigung der »konfessionell identische[n] Kultur des ›gemeinen Mannes‹« (516.518).
Leider finden sich mehrfach Fehler, ich nenne nur Beispiele: Fehlende Ausführungszeichen (61, Anm. 63) oder Schlussklammern (231, Anm. 102), falsche Verweise (122, Anm. 21), vor allem mangelhafte bibliographische Angaben (182, Anm. 3; 229, Anm. 100; 237, Anm. 113; 251, Anm. 32 u. ö.; 276, Anm. 38 richtig: Grötzinger: Luther und Zwingli). Mehrfach finden sich wichtige Aussagen in den Anmerkungen (besonders krass 166–168). Vermisst werden manchmal Verweise auf ältere Literatur, die heute noch Geltung beanspruchen kann (z. B. zum Bischofsamt P. Brunner, W. Maurer, G. Tröger; zur Zwei-Reiche-Lehre F. Lau). Warum fehlen Querverweise zu den in diesem Buch abgedruckten Aufsätzen? Bei den Aufgaben des Bischofs fehlt die Ordination (350). Gern gesehen hätte man, wäre einigen Aufsätzen eine Zusammenfassung der weitergehenden Diskussion angefügt worden.
Diese Kritikpunkte berühren Äußerliches und schmälern nicht die Bedeutung der Aufsätze W.s. Diese benennen vor allem weitere Forschungsaufgaben und sind somit ein wichtiger Beitrag zur gegenwärtigen Reformationsgeschichtsschreibung.